Altneuland

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5. Kapitel.

Die Stube der Familie Littwak sah bei Tage noch elender aus als bei Nacht. Und doch fand Friedrich Löwenberg diese armen Leute in beinahe rosiger Stimmung, als er bei ihnen eintrat. David Littwak stand vor dem Fensterbrett, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, und er las darin, während er an seinem mächtigen Butterbrot kaute. Der Vater und die Mutter saßen auf der Streu. Die kleine Mirjam spielte mit Halmen.

Chajim Littwak erhob sich rasch, um den Wohltäter zu begrüßen. Auch die Frau wollte aufstehen, aber Friedrich ließ es nicht zu. Er kniete schnell neben ihr nieder und streichelte das Brustkind, das ihn aus den armseligen Fetzen heraus mit lieblichen Augen anlachte.

»Nun, wie geht es heute, Frau Littwak?« fragte Friedrich.

Die Arme haschte vergeblich nach seiner Hand, um sie zu küssen: »Besser, gnädiger Herr!« sagte sie. »Wir haben Milch für Mirjam und Brot für uns.«

»Zins hab’ ich auch schon gezahlt!« ergänzte Chajim stolz.

David hatte sein Butterbrot hingelegt, stand mit verschränkten Armen da und betrachtete Friedrich festen Auges. »Warum siehst du mich so durchbohrend an, kleiner David?«

»Damit ich Sie nie vergess’, Herr. Ich hab’ einmal gelesen eine Geschichte von einem Manne, der einem kranken Löwen geholfen hat.«

»Androklus!« lächelte Friedrich.

»Er hat schon viel gelesen, mein David,« sagte die Mutter mit schwacher und zärtlicher Stimme.

Friedrich stand auf, legte die Hand auf den runden Kopf des Knaben und scherzte: »Bist du am Ende der Löwe? Juda hatte einst einen Löwen …«

David entgegnete beinahe trotzig: »Was Juda gehabt hat, kann es wieder haben. Unser alter Gott lebt noch.«

Frau Littwak rief klagend: »Nit amal ein’ Sessel können wir Ihnen anbieten, gnädiger Herr!«

»Nicht nötig, liebe Frau. Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht, und — etwas bringen. Sie sollen diesen Brief erst öffnen, nachdem ich fortgegangen bin. Er enthält eine gute Empfehlung, die euch im Leben nützen wird. Sie müssen sich gut nähren, Frau Littwak, damit Sie dieses schöne, kleine Mädel zu einer braven Frau erziehen, wie Sie selbst sind.«

»Mehr Glück soll sie haben!« seufzte die Frau.

»Und diesen guten Jungen lassen Sie etwas Tüchtiges lernen. Gib mir deine Hand, Bürschchen! Versprich mir, daß da ein ordentlicher Mensch wirst.«

»Ja, das verspreche ich Ihnen.«

Was der Bub für merkwürdige Augen hat, dachte sich Friedrich, als er die kleine Hand schüttelte. Dann legte er den umfangreichen Brief auf das Fensterbrett und wollte gehen.

»Entschuldigen Sie, gnädiger Herr,« sprach ihn Chajim Littwak bei der Tür an, »is in den Brief vielleicht eine Empfehlung an der Kultusgemeinde?«

»Ganz richtig,« entgegnete Friedrich. »Das wird Sie auch der Kultusgemeinde empfehlen.«

Und rasch ging er hinaus, die Treppen lief er hinunter, als fühlte er sich verfolgt. Vor dem Tore hielt sein Fiaker, eilig stieg er ein und rief dem Kutscher zu: »Schnell fahren!«

Die Pferde zogen an. Es war die höchste Zeit. Eine Minute später keuchte David atemlos aus dem Tore hervor, spähte nach allen Richtungen, und als er keine Spur mehr von dem Helfer entdecken konnte, fing er bitterlich zu weinen an. Friedrich sah es durch das Guckloch in der Rückwand seines Wagens, und er freute sich, daß es ihm gelungen war, den Dankesergüssen zu entgehen. Mit den fünftausend Gulden war diese Familie hoffentlich gerettet.

Im Hotel erwartete ihn Kingscourt mit breitem Lachen: »Haben Sie also Ihr gutes Werk getan, Doktor?«

»Sie könnten mit mehr Recht sagen, daß es das Ihrige sei. Es war Ihr Geld, Mr. Kingscourt!«

»Oho! Dagegen verwahre ich mich aber schon ganz entschieden. Ich hätte nicht einen Heller hergegeben, um Menschen Gutes zu erweisen. Ich habe nichts dagegen, daß Sie ein Narr der Nächstenliebe sind — ich bin keiner mehr. Das war Ihr Handgeld, damit konnten Sie machen, was Sie wollten.«

»Auch recht, Mr. Kingscourt!«

»Ja, wenn Sie mir gesagt hätten, daß Sie für Hunde oder Pferde oder sonst ein anständiges Vieh was Mildes vorkehren möchten, da hätten Sie mich dazu haben können. Aber Menschen? Nee, kommen Sie mir mit der Sorte nicht. Die ist oberfaul. Die ganze Vernunft besteht darin, daß sie niederträchtig sind … Da war neulich in den Blättern zu lesen, daß eine alte Dame ihr Vermögen ihren Katzen hinterlassen hat. Sie befahl in ihrem letzten Willen, daß ihr Haus in so und so viele feine Appartements für das Katzenvolk eingeteilt werde, mit Pflegepersonal und so weiter. So’n Kerl von Zeitungsschreiber hat dazu die blödsinnige Bemerkung gemacht, die Alte sei wahrscheinlich verrückt gewesen. Solch ein Hornochse! Nicht verrückt war sie, sondern riesig gescheit. Eine Demonstration gegen das menschliche Geschlecht, und insbesondere gegen ihre lumpige, erbgierige Verwandtschaft wollte sie machen. Den Tieren, ja — den Menschen, nein! Sehen Sie, das kann ich der alten Dame innigst nachfühlen, Gott habe sie selig!«

Das war Kingscourts Lieblingsthema, und darin entwickelte er eine unerschöpfliche Verve.

Friedrich Löwenberg ordnete seine geringen Angelegenheiten. Er war damit am anderen Tage fertig. Seiner Quartierfrau sagte er, daß er einen Ausflug auf den Großglockner unternehme. Sie entsetzte sich darüber: Mitten im Winter! Man höre so viel von Bergunfällen.

»Schön,« meinte Friedrich mit melancholischem Lächeln, »wenn ich in acht Tagen nicht wiederkomme, so können Sie mich als vermisst bei der Polizei melden. Dann bin ich wohl in einer Felsenspalte besorgt und aufgehoben. Meine Habseligkeiten, die da sind, vermache ich Ihnen.«

»Reden Sie nicht so sündhaft, Herr Doktor!«

»Ich mache ja Spaß!« rief er. Mit dem Abendzuge verließ er in Kingscourts Gesellschaft Wien. Er war nicht wieder in das Cafe Birkenreis gegangen und wußte nicht, daß der kleine David Littwak Nacht für Nacht vor der Tür stundenlang auf ihn wartete.

Im Hafen von Triest schaukelte sich die schmucke Jacht Mr. Kingscourts auf den Wassern. Die beiden machten noch ihre letzten Einkäufe für die lange Reise, und eines hellen Dezembertages lichteten sie die Anker und steuerten südwärts, ostwärts. Friedrich wäre wohl unter anderen Umständen von der Meeresfreiheit tief beglückt gewesen; so aber verdankte er der sonnigen Fahrt nur eine geringe Erleichterung seines Grames.

Kingscourt war freilich ein prächtiger Mensch, gutmütig bei aller seiner Prahlerei mit Menschenhaß, und liebenswürdig und zartfühlend. Wenn er Friedrich in trüben Stimmungen sah, bemühte er sich mit allen möglichen Scherzen, ihn aufzumuntern. Er ging mit ihm um, wie mit einem kranken Kinde. Da pflegte Friedrich wohl zu sagen: »Wenn unsere Schiffsleute uns beobachten, müssen sie eigentlich eine ganz falsche Vorstellung bekommen. Sie werden mich für den Herrn, und Sie für den Gast halten, den ich mir eingeladen habe, um mir die Zeit zu vertreiben. Ach, Mr. Kingscourt, Sie hatten sich auch einen lustigeren Gesellen aussuchen können als mich!«

»Mein Lieber, ich hatte keine Wahl!« antwortete Mr. Kingscourt mit grimmigem Ernst. »Einen Lebensüberdrüssigen mußte ich haben, und die sind in der Regel keine guten Gesellschafter. Aber Sie werd’ ich schon noch heilen. Sie werden mir doch noch ganz anders dreinschauen, bis wir erst das Menschengesindel ganz hinter uns haben. Da werden Sie auch noch so ein vergnügter Kerl werden, wie ich. Bis wir auf unserer seligen Insel sind, hol’ mich der Deibel, wenn’s nicht wahr ist!«

Die Jacht war sehr behaglich mit allem amerikanischen Komfort eingerichtet. Friedrich hatte einen ebenso schönen Schlafsalon, wie Kingscourt selbst. Der gemeinschaftliche Speiseraum war mit einer wahren Pracht ausgestaltet, und wenn sie abends nach dem Essen unter dem freundlich stetigen Lichte der elektrischen Deckenlampe beisammen saßen, verflogen die Stunden unter den besten Gesprächen. Es war auch eine gewählte kleine Bibliothek an Bord, aber zum Lesen kam man gar nicht, so abwechslungsreich vergingen die Meerestage. Kingscourt war immer beflissen, seinen Gefährten zu zerstreuen. Man hatte bei lebhafterem Wogengange die Insel Kreta passiert, da rückte er plötzlich mit einem Vorschlag heraus: »Sagen Sie ’mal, Doktor, hätten Sie denn keine Lust, noch Ihr Vaterland zu sehen, bevor wir von der Welt Abschied nehmen?«

»Mein Vaterland?« staunte Friedrich. »Sie wollten noch einmal nach Triest zurückkehren?«

»I bewahre!« schrie Kingscourt. »Ihr Vaterland liegt ja vor uns, Palästina!« »Ach, so ist das gemeint? Sie irren sich. Zu Palästina habe ich keinerlei Beziehung. Ich war nie dort. Es interessiert mich nicht. Meine Vorväter sind seit achtzehnhundert Jahren weg. Was habe ich da zu suchen? Ich glaube, nur die Antisemiten können behaupten, daß Palästina unser Vaterland sei …«

Aber während er dies sagte, fiel ihm David Littwak ein. Da fügte er hinzu: »Außer von Antisemiten habe ich es nur noch von einem kleinen Judenjungen sagen hören, daß Palästina unser Land wäre. Wollten Sie mich damit necken, Mr. Kingscourt?«

»Da soll doch gleich ein Donnerwetter reinschlagen, wenn ich Sie geuzt habe. Das hab’ ich ganz ernst gemeint. Wahrhaftig, ich verstehe euch Juden nicht. Ich wär’ auf so etwas furchtbar stolz, wenn ich ein Jude wäre. Und ihr schämt euch wohl gar dessen. Da könnt ihr euch nicht wundem, wenn man euch verachtet — die Anwesenden natürlich ausgeschlossen.«

»Herr von Königshoff, sind Sie vielleicht ein Antisemit?« sagte Friedrich empört. Zum erstenmal redete er ihn mit seinem deutschen Namen an, er wußte selbst nicht warum.

Kingscourt lächelte: »Nu regen Sie sich auf, mein Sohn! Daß ich ’n allgemeiner Menschenfeind bin, das war Ihnen sozusagen schnuppe. Daß ich aber unter andern auch die Jüdischen nicht mag, das nehmen Sie mir geschwind übel. Trösten Sie sich. Doktorchen, ich hasse die Juden nicht mehr und nicht weniger als die Christen, Mohammedaner und Feueranbeter. Alle zusammen keinen Schuß Pulver wert. Ich verstehe den guten ollen Nero: ein einziger Hals, und dann mitten durch mit einem Hieb. Oder nein: noch schöner ist es, daß die Lumpenbande leben bleibt, und daß sie sich langsam gegenseitig zu Tode ärgern.«

 

Friedrich war schon versöhnt: »Ich war dumm. Daß Sie mich mitnahmen, war doch der beste Beweis.«

Kingscourt sagte: »Da fällt mir ’ne Sache ein, die ich einmal mit einem Ihrer Landsleute oder Glaubensbrüder oder — hol’ mich der Deibel — kurz mit einem Juden hatte. Es war im Re’ment. Wir hatten da so ’nen Freiwilligen — Cohn hieß die Kreete, ein jemein … Entschuldigen Sie! Dieser Cohn war ’n ganz verflucht krummbeiniges Subjekt — wie für die Kavallerie geschaffen. Es war einmal in der Reitstunde. Ich ließ die Schweinehunde Barriere springen. Das heißt, ich wollte; sie wollten nicht oder konnten nicht. War auch ’n bißchen hoch. Na, ich habe sie traktiert, wie’s sich für solche gottverlassene Schweinebande geziemt. Damals konnte ich noch fluchen, hol’ mich der Deibel! Seitdem hab’ ich’s verlernt … Ich gab ihnen zu verstehen, so durch die Kavall’rieblume, daß ich sie für das zitterlichste Lumpenpack hielte. Und den Cohn holte ich mir besonders. ,Sie sind wohl ein besserer Wechselreiter?’ höhnte ich ihn. Da schoß dem Juden das Blut ins Gesicht, und er ritt an. Stürzte aber und brach sich den Arm. Das hat mich dann eine Weile gewurmt. Wozu hat so ’n Aas auch Ehrgefühl?«

»Sie meinen, ein Jude sollte kein Ehrgefühl haben?« »Nee, so was! Sie verdrehen mir ja das Wort im Mutterleibe … Übrigens, wenn die Juden Ehrgefühl haben, warum lassen sie sich alle die Bübereien gefallen?«

»Was sollten die Juden tun, Mr. Kingscourt?«

»Was? Ja, das weiß ich nicht. Irgendwas, wie mein Cohn in der Reitschule, ich habe doch mehr Respekt vor ihm bekommen.«

»Weil er sich den Arm gebrochen hat?«

»Nein, weil er mir seinen Willen gezeigt hat … Ich, wenn ich an eurer Stelle wäre, ich würde irgendwas Mutiges, Großes unternehmen, daß auch die Feinde vor Staunen die Mäuler aufreißen müßten. Vorurteile, mein Lieber, wird’s immer geben. Das Menschenpack nährt sich von Vorurteilen, von der Wiege bis zum Grabe. Also, da man die Vorurteile nicht abschaffen kann, muß man sie für sich erobern … Je mehr ich darüber nachdenke: es müßte ganz interessant sein, heutzutage ein Jude zu sein. Gerade weil man alle Welt gegen sich hat.«

»Ach, Sie wissen nicht, wie das schmeckt.« »Nicht süß, das kann ich mir schon denken … Na, und wie ist’s mit dem ollen Palästina? Wollen wir uns das noch begucken, bevor wir aus der Menschheit verschwinden?«

»Mir ist alles recht, Mr. Kingscourt«

Und so bekam die Jacht den Kurs nach Jaffa.

6. Kapitel.

Sie verbrachten einige Tage im alten Lande der Juden. Von Jaffa hatten sie einen unangenehmen Eindruck. Die Lage am blauen Meere wohl herrlich, aber alles zum Erbarmen vernachlässigt. Die Landung in dem elenden Hafen mühselig. Die Gäßchen von den übelsten Gerüchen erfüllt, unsauber, verwahrlost, überall buntes orientalisches Elend. Arme Türken, schmutzige Araber, scheue Juden lungerten herum, alles träg, bettelhaft und hoffnungslos. Ein sonderbarer Moderduft, wie von Gräbern, beengte einem das Atmen.

Kingscourt und Friedrich beeilten sich auch fortzukommen. Sie fuhren auf der schlechten Eisenbahn nach Jerusalem. Auch auf diesem Wege Bilder tiefster Verkommenheit. Das flache Land fast nur Sand und Sumpf. Die mageren Äcker wie verbrannt. Schwärzliche Dörfer von Arabern. Die Bewohner hatten ein räuberhaftes Aussehen. Die Kinder spielten nackt im Straßenstaube. Und in der Ferne des Horizonts sah man die entwaldeten Berge von Judäa. Der Zug fuhr dann durch öde Felsentäler. Die Abhänge verkarstet, wenig Spuren einer einstigen oder gegenwärtigen Kultur.

»Wenn das unser Land ist,« sagte Friedrich melancholisch, »so ist es ebenso heruntergekommen wie unser Volk.«

»Ja, es ist einfach scheußlich, geradezu polizeiwidrig,« erklärte Kingscourt. »Und doch ließe sich da viel machen. Aufforsten müßte man. So eine halbe Million junger Riesentannen, die schießen hoch wie Spargel. Das Land braucht nur Wasser und Schatten, dann hätte es noch eine Zukunft, wer weiß wie groß«.

»Wer soll da Wasser und Schatten herbringen?«

»Die Juden, Kreuzschockschwerenot!«

Es war Nacht, als sie in Jerusalem ankamen, eine wundersame Mondnacht.

»Donnerwetter, ist das schön!« schrie Kingscourt. Der Wagen, in dem sie vom Bahnhof nach dem Hotel fuhren, mußte auf seinen Befehl halten. Er herrschte den Lohndiener an: »Sie können auf dem Bock bleiben und dem Kamel von einem Kutscher sagen, daß er langsam hinter uns nachfahren soll. Wir gehen ein Stück zu Fuß, Doktor, wollen Sie? … Wie heißt diese Gegend?«

Der Lohndiener antwortete demütig: »Das Tal von Josaphat, gnädiger Herr.« »Hol’ mich der Deibel, das gibt es also wirklich? Das Tal von Josaphat! Ich glaubte, das sei nur so ’ne Sache in der Bibel. Hier ist nu unser Herr und Heiland herumgegangen. Was sagen Sie dazu, Doktor? … Ach so! Na ja, aber Ihnen muß das doch auch etwas sagen? Diese alten Mauern, dieses Tal …«

»Jerusalem!« sagte Friedrich mit leise bebender Stimme halb vor sich hin. Er wußte sich gar nicht zu erklären, warum ihn der Anblick dieser unbekannten Stadtumrisse derart ergriff. Erinnerungen vielleicht an Worte der frühen Kindheit? Gebetstellen, die des Vaters Stimme gemurmelt hatte? Die abendliche Weihe des verschollenen Pessachfestes zog ihm durch die Seele. Einer der wenigen hebräischen Satze, die er noch wußte, klang in ihm auf: LeSchonoh haboh beJruscholajim. — Übers Jahr in Jerusalem! … Und er sah sich plötzlich als kleinen Knaben an der Seite seines Vaters zum Tempel gehen. Ach, der Glaube war tot, die Jugend war tot, der Vater war tot — Und vor ihm ragten die Mauern von Jerusalem in märchenhaftem Mondesglanz. Heiß strömte es ihm in die Augen. Es überwältigte ihn. Er blieb stehen, und die Tränen flössen ihm langsam über die Wangen.

Kingscourt erstickte mehrere Deibel in seiner Kehle, winkte dem nachfahrenden Kutscher gewaltig zu, stillzuhalten, und er selbst trat lautlos einen Schritt hinter Friedrich zurück, um dessen wehmütige Andacht nicht zu stören.

Mit einem Seufzer erwachte Friedrich aus der Bezauberung. »Verzeihen Sie, Mr. Kingscourt,« sagte er ein wenig beschämt »Ich habe Sie da warten lassen. Es war — es ist mir jetzt so eigen zumute. Ich weiß gar nicht, was das ist.«

Kingscourt aber schob seinen Arm unter den des jungen Mannes und sagte mit ungewöhnlich weicher Stimme: »Sie, Friedrich Löwenberg, ich habe Sie gern!« Und so ging in großer Mondnacht ein Christ mit einem Juden Arm in Arm der alten heiligen Stadt Jerusalem zu …

Weniger entzückend war der Anblick Jerusalems bei Tage. Geschrei, Gestank, ein Geflirr unreiner Farben, ein Durcheinander zerlumpter Menschen in den engen dumpfen Gassen, Bettler, Kranke, hungernde Kinder, kreischende Weiber, heulende Händler. Tiefer konnte das einst so königliche Jerusalem nicht sinken.

Kingscourt und Friedrich besichtigten die berühmten Plätze, Bauten und Ruinen. Sie kamen auch in das traurige Gäßchen der Klagemauer. Der widerliche Anblick der geschäftsmäßig betenden Bettler belästigte sie.

»Sie sehen, Mr. Kingscourt,« sagte Friedrich, »wir haben uns wirklich zu Tode gestorben. Vom jüdischen Reiche ist nichts mehr übrig als ein Stückchen Tempelmauer, und ich kann in meinem Gemüte bohren so viel ich will, mit diesen kleinen verkommenen Industriellen der Nationaltrauer habe ich nichts gemein.«

Er hatte das laut gesagt, ohne zu bemerken, daß ihn auch andere hören konnten. Außer den Bettelbetern und Fremdenführern befand sich in dem Augenblicke noch ein dritter Herr in europäischer Kleidung vor der Klagemauer. Dieser sagte in fremdartig betontem, aber gebildetem Deutsch: »Mein Herr, nach Ihren Worten scheinen Sie ein Jude oder doch jüdischer Abstammung zu sein.« »Ja,« .antwortete Friedrich ein wenig verwundert.

»Dann gestatten Sie mir vielleicht,« fuhr der Fremde fort, »daß ich Ihren Irrtum berichtige. Von der jüdischen Nation ist mehr übrig geblieben als die alten Quadern dieses Mauerstückes und als die armen Schlucker hier, die freilich kein schönes Handwerk betreiben. Sie dürfen die jüdische Nation in heutiger Zeit weder nach ihren Bettlern noch nach ihren Reichen beurteilen.« »Ich bin kein Reicher,« meinte Friedrich.

»Ich sehe, was Sie sind: ein Fremder Ihrem Volke. Wenn Sie einmal zu uns nach Rußland kämen, würden Sie erkennen, daß es noch eine jüdische Nation gibt. Wir haben noch eine lebende Überlieferung, eine Liebe zur Vergangenheit und einen Glauben an die Zukunft. Bei uns sind die Besten und Gebildetsten dem Judentume als einer Nation treu geblieben. Wir wollen zu keiner anderen gehören. Wir sind, was unsere Väter waren.«

»Das ist recht,« rief Kingscourt. Friedrich zuckte leicht die Achseln, sprach aber noch einige höfliche Worte mit dem Unbekannten, dann gingen sie. Als sie am anderen Ende der Gasse waren und um die Ecke bogen, blickten sie zurück. Der russische Jude stand noch dort. Er war in ein stummes Gebet vor der Klagemauer versunken.

Abends, in dem englischen Hotel, in dem sie wohnten, sahen sie ihn wieder. Er saß bei Tische neben einer jungen Dame, offenbar seiner Tochter. Nach dem Essen traf man sich in der großen Halle. Das Gespräch von Vormittag wurde zwanglos wieder aufgenommen. Der Russe nannte seinen Namen: Dr. Eichenstamm. »Ich bin meines Zeichens Augenarzt. Meine Tochter auch«.

»Wie? Das Fräulein ist ’n Doktor?« fragte Kingscourt. »Ja, sie hat bei mir und nachher in Paris studiert. Sie ist jetzt meine Assistentin. Ein ganz gelehrtes Haus, meine Sascha!«

Das Fräulein Doktor errötete bei dem Lobe. »Aber Papa!« sagte sie abwehrend. Dr. Eichenstamm fuhr sich mit der Linken über den langen grauen Kinnbart: »Was wahr ist, kann man sagen. Wir sind auch nicht nur zum Vergnügen hier, meine Herren. Wir beschäftigen uns mit den Augenkrankheiten. Leider gibt es deren genug. Der Schmutz und die Verwahrlosung rächen sich. Alles liegt im argen. Und wie schön könnte es sein. Das Land ist ja ein goldenes Land.«

»Dieses Land?« sagte Friedrich ungläubig. »Die Geschichte von Milch und Honig ist doch nicht mehr wahr!« »Sie ist immer wahr!« schrie Eichenstamm begeistert »Nur die Menschen müssen da sein, dann ist alles da.«

»Nee! Von Menschen ist gar nichts zu erwarten,« erklärte Kingscourt mit Entschiedenheit.

Doktorin Sascha wandte sich an ihren Vater. »Du solltest den Herren raten, die Kolonien zu besichtigen.« »Was für Kolonien?« erkundigte sich Friedrich.

»Unsere jüdischen Ansiedlungen,« antwortete der alte Herr. »Auch davon wissen Sie nichts, Herr Doktor? Es ist doch eine der merkwürdigsten Tatsachen im modernen Leben der Juden. In verschiedenen Städten Europas und Amerikas haben sich Gesellschaften gebildet, die so genannten Liebhaber von Zion, mit dem Zweck, hier in unserem alten Lande die Juden zu Ackerbauern zu machen. Es gibt schon eine Anzahl solcher jüdischer Dörfer. Auch einige reiche Wohltäter haben der Sache Geld zugewendet. Unser alter Boden trägt wieder Früchte. Besuchen Sie diese Niederlassungen, bevor Sie Palästina verlassen.«

Kingscourt brummte: »Können wir ja machen, wenn Sie Lust haben, Löwenberg.« Friedrich bejahte schnell.

Am ändern Tag unternahmen sie in Gesellschaft Eichenstamms und Saschas einen Ausflug nach dem Ölberge. Vor der Höhe kamen sie an dem eleganten Hause einer englischen Dame vorbei.

»Sie sehen,« sagte der Russe, »daß man auf der alten Erde auch neue Paläste errichten kann. Das ist ein vornehmer Gedanke, hier zu wohnen. Wäre auch mein Traum.«

»Oder wenigstens eine Augenklinik,« meinte Doktor Sascha mit feinem Lächeln.

Vom Ölberge aus bewunderten sie die hügelreiche Stadt, die steinernen Wellen der Berge im weiten Umkreise bis an das Tote Meer. Friedrich wurde nachdenklich.

»Schön muß Jerusalem einst gewesen sein! Vielleicht haben unsere Väter diese Stadt darum nicht vergessen können. Vielleicht wollten sie darum immer zurückkehren?«

Eichenstamm schwärmte: »Mich erinnert es an Rom. Auf Hügeln könnte man abermals eine Weltstadt erbauen, etwas Herrliches. Denken Sie sich den Blick, den man dann von hier aus hätte. Prächtiger als vom Gianiculo! Ach, wenn meine alten Augen das noch sehen könnten!« …

 

»Das werden wir nicht erleben,« sagte Sascha traurig.

Kingscourt wunderte sich im stillen über diese Phantastereien. Als er wieder mit Friedrich allein war, sprach er: »Das ist ein merkwürdiges Paar, der Doktorsvater mit der Doktorstochter. So praktisch und dabei so närrisch. Ich habe mir die Juden auch anders vorgestellt.«

Am folgenden Morgen nahmen sie Abschied von den beiden und fuhren richtig, deren Rat befolgend, nach den Kolonien. Sie sahen die Ortschaften Rischon leZion, Rechoboth und andere, die als Oasen in der verdorrten Umgebung lagen. Viele fleißige Hände hatten sich da regen müssen, bis die Scholle wieder zum Leben erwacht war. Sie sahen wohlbebaute Felder, eine stattliche Weinkultur und üppige Orangengärten.

»Das ist alles in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren entstanden,« erklärte ihnen der Vorsteher der Judenkolonie Rehoboth, an den sie von Eichenstamm empfohlen worden war. »Nach den Verfolgungen in Russland zu Anfang der achtziger Jahre hat diese Bewegung begonnen. Es gibt aber noch verdienstlichere Kolonien als unsere. Zum Beispiel die von Katrah. Die ist von studierten Leuten angelegt worden. Sie haben die Bücher verlassen und sind auf den Acker hinausgezogen. Solche Bauern gibt es wohl nirgends auf der Welt. Gelehrte Männer, die auf dem Felde arbeiten.«

»Das ist ’ne starke Nummer!« rief Kingscourt. Aber noch größer wurde sein Erstaunen, als der Vorsteher die jungen Burschen von Rehowoth zu Pferde steigen ließ. Eine Art arabischer Fantasia wurde vor den Gästen aufgeführt. Die Burschen stürmten weit weg ins Feld hinaus, warfen die Rosse herum, kehrten jauchzend zurück, warfen im vollsten Lauf ihre Mützen oder ihre Gewehre in die Luft, fingen sie wieder auf. Schließlich ritten sie in einer Reihe und sangen ein hebräisches Lied. Kingscourt war hingerissen.

»Da soll doch ein mehrfach gesalzenes Donnerwetter dreinschlagen. Die Kerls reiten ja wie der Deibel! Mit so ’was hätte mein Ur-Ur auch die Attacke bei Roßbach «

Aber Friedrich hatte wenig Interesse für die Betätigungen einer gesunden Lebenslust, und er war froh, als sie die Ansiedelungen verließen, um nach Jaffa zurückzukehren.

Die Jacht war zur Abfahrt bereit. Sie schieden in den letzten Dezembertagen vom besonnten Strande Palästinas und steuerten nach Port Said. In diesem Hafen blieben sie zwei Tage, dann ging es durch den Suezkanal weiter. Am Abend des 31. Dezember 1902 kamen sie ins Rote Meer. Friedrich hatte wieder eine Zeit völliger Niedergeschlagenheit. In dieser Stimmung war ihm alles gleichgültig. Nach Sonnenuntergang rief ihn Kingscourt aufs Verdeck: »Heute, Doktor, wollen wir uns was besonders antun! Da, sehen Sie unsere Tischkarte. Habe auch eine genügende Anzahl Silberhälse in Eis kühlen lassen.«

»Was ist denn heute für ein besonderer Tag, Mr. Kingscourt?« »Das wissen Sie nicht, Mensch? Der letzte Tag des Jahres. Das ist kein banales Datum — wenn Daten überhaupt einen Sinn haben.« »Für uns ist das ohne jede Bedeutung,« sagte Friedrich müde. »Für ans beginnt nun die Zeitlosigkeit, ist es nicht wahr?«

»Jawohl, jawohl. Aber es ist doch ’n verdammt kurioser Tag. Um Mitternacht wollen wir die Zeit ins Meer senken, in euer Rotes Meer, und wenn das blödsinnige Zeitalter um ist, in dem wir zu leben verurteilt waren, da wollen wir an etwas Großes denken! … ’nen gediegenen Punsch lasse ich uns auch brauen. Das ist verhältnismäßig noch das Reellste in der allgemeinen Niedertracht des Daseins.«

Und so taten sie. Der Schiffskoch hatte sein Bestes geleistet. Auch die Weine waren vorzüglich. Kingscourt, ein gewaltiger Zecher vor dem Herrn, trank dreimal so viel wie Friedrich, und blieb dabei ziemlich klar und frisch, indessen sein junger Gefährte einen Nebel in sich aufsteigen fühlte und nur noch wie im Traum diese Worte vernahm, als es zwölf Uhr schlug: »Mitternacht!« rief Kingscourt mit dröhnender Stimme. »Verrecke, Zeit! Ich leerte mein Glas auf deinen Tod. Was warst du? Schande, Blut, Gemeinheit und Fortschritt. Stoßen Sie an, Mensch, Mann, isolierter Zeitgenosse!« »Ich kann nicht mehr,« lallte Friedrich.

»Kleines Geschlecht! … Hier sollten Sie sich doch auf die Fußspitzen stellen. Klassische Gegend! Hier hat euer oller Moses eines seiner größten Kunststücke gemacht … Sie gingen trockenen Fußes hindurch, offenbar gerade Ebbe gewesen. Und das Vieh von einem Pharao hinterdrein mitten rin in die Flut. Keine Zauberei! Aber gerade das Natürliche daran imponiert mir! Die einfachsten Mittel! Aber sehen muß man sie, und gebrauchen können. Denken Sie mal, was war das für ’ne arme Zeit, und was hat euer oller Moses vollbracht. Wenn der heute wiederkäme und sähe die Wunder alle — die Eisenbahnen, die Telegraphen, die Telefone, die Maschinen, die Jacht mit der Schraube, mit dem elektrischen Scheinwerfer. Er würde nichts davon verstehen. Man müßte ihm vielleicht drei Tage lang immerzu erklären. Aber nach drei Tagen hätte er alles raus. Und wissen Sie, was er dann täte? Lachen würde er, furchtbar, grimmig lachen! Weil die Menschen mit all dem fabelhaften Fortschritt nichts anzufangen wissen. Im einzelnen Schicksal kommt man zur Überzeugung, daß die Menschen schlecht sind. Aber beim Gesamtüberblick entdeckt man, daß sie nur dumm sind. Namenlos dumm, dumm, dumm! Nie war die Welt so reich, und nie hat es so viel Arme gegeben wie jetzt. Leute verhungern, während ungebrauchtes Korn verschimmelt. Mir kann’s recht sein. Je mehr zu Grunde gehen, am so weniger Undankbare, Lügner und Treulose gibt es in der Welt«

Friedrich sprach mit schwerer Zunge: »Glauben Sie nicht, Mr. Kingscourt, dass die Menschen viel besser wären, wenn es ihnen besser ginge?«

»Nee, wenn ich das glaubte, würde ich nicht nach meiner einsamen Insel ziehen, sondern mitten unter die Menschen. Ich würde ihnen sagen, wie sie’s anfangen müssten, um besser dran zu sein. Nicht tausend, nicht hundert, nicht fünfzig Jahre brauchte man zu warten. Heute! Mit den Ideen, Kenntnissen, Mitteln, die heute am 31. Dezember 1902 im Besitze der Menschheit sind, könnte sie sich helfen. Man braucht keinen Stein der Weisen, kein lenkbares Luftschiff. Alles Nötige ist schon vorhanden, um eine bessere Welt zu machen. Und wissen Sie, Mann, wer den Weg zeigen könnte? Ihr! Ihr Juden! Gerade weil’s euch schlecht geht. Ihr habt nichts zu verlieren. Ihr könntet das Versuchsland für die Menschheit machen — dort drüben, wo wir waren, auf dem alten Boden ein neues Land schaffen. Altneuland!«

Das hörte Friedrich Löwenberg nur noch im Traum. Er war eingeschlafen. Und träumend fuhr er durch das rote Meer der Zukunft entgegen.