Zweimal Wachtel, einmal Lachs

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11

Still und heimlich hatte Mandy München den Rücken gekehrt. Es gab keine offizielle Verabschiedung im Spatenhaus, keinen Umtrunk mit den Kollegen, keine persönliche Verabschiedung von Tobi. Der hatte damit gerechnet, dass sie bis zum letzten Tag ihrer Kündigung arbeiten würde. Aber sie hatte ihren Resturlaub genommen und war abgereist, ohne sich bei ihm zu melden. Er war extra noch einmal in die Buschingstraße geradelt, stand aber vor verschlossener Tür. Das Namensschild war bereits entfernt worden und hinterließ eine aluminiumgraue Lücke im Klingelbrett. Er ging ums Haus herum und schaute zu dem Apartment hoch, in dem sie gewohnt hatte. Auch der Vorhang war weg. Seine Gemütslage schwankte zwischen Wehmut und Erleichterung. Er wusste nicht so recht, wie er mit ihrem plötzlichem Verschwinden umgehen sollte. Ob sie den schlammfarbenen Vorhang vielleicht mit in die Karibik genommen hatte? Vielleicht käme dann dieser Florian aus Kärnten in den Genuss, die Bohrlöcher für die Vorhangschiene in ihrer neuer Behausung anzubringen, mit der bekannten Fortsetzung. Das versetzte ihm doch noch einen leisen Stich.

„Suchen Sie was?“ fragte ihn plötzlich jemand von der Seite. Er drehte sich um und erblickte einen Mann mit einer Leiter und einer Heckenschere.

„Meine Freundin hat hier gewohnt“, gab Tobi eher beiläufig Auskunft, „die Mandy.“

„Ausgezogen?“

„Ausgewandert. Karibik. Domrep. Aber ich hab keine Adresse von ihr.“

Der Mann stellte seine Leiter ab und schaute ihn von oben bis unten prüfend an: „Vielleicht will sie nicht, dass du ihre Adresse kriegst. Könnte ja sein, oder?“

„Nein, gewiss nicht. Ich glaub eher, dass sie einen Mordsstress gehabt hat, mit Abmelden und Wohnung auflösen und packen und das alles.“

„So, so, ausgewandert“, sagte der Mann, „na ja, vielleicht meldet sie sich bei dir, wenn sie dort angekommen ist. Deine Adresse hat’s ja, oder?“

„Ja logisch.“

„Weißt“, sagte der Mann, „Frauen sind halt schwer durchschaubar. Und sprunghaft, vor allem sprunghaft. Keine klare Linie.“ Er malte mit der Hand eine imaginäre Zickzack-Linie in die Luft.

Tobi nickte zustimmend, weil Mandys Verhalten ihm tatsächlich ziemlich sprunghaft vorgekommen war, besonders zuletzt.

Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Nach dem ersten Zug sagte er: „Mir kommt keine mehr ins Haus. Sie haben alle immer nur mein Geld gewollt. Nur mein Geld. Da ist eine wie die andere. Erst tun sie einem schön, aber ab dem Moment, wo sie den Fuß in der Tür haben, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Wenn ich ihnen nichts mehr gegeben habe, waren sie ganz schnell fort.“

Tobi merkte, dass das Gespräch eine Wendung nahm, die ihm nicht sonderlich gefiel. Deshalb fragte er: „Haben Sie die Mandy gekannt?“

Der Mann legte den Kopf in den Nacken und überlegte. „Mandy, nein, der Name sagt mir nix. Wie weiter?“

„Sind Sie nicht der Hausmeister von dem Haus? Der Mann von der Hausmeisterin?“ Er deutete auf das Apartmenthaus.

„Ich? Nein, nein. Wir halten hier nur die Grünanlagen sauber.“

Auf Tobis Stirn bildete sich eine steile Falte. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er diesen wildfremden Menschen für den Hausmeister gehalten hatte. „Ach so“, knurrte er und wandte sich zum Gehen.

„Die Hausmeisterin wohnt im Erdgeschoss“, rief ihm der Mann nach.

Tobi winkte ab und drehte sich nicht mehr um.

Auf Tollwood, fiel ihm ein, waren sie auch nicht gewesen, er und Mandy.

Die Polizei kam morgens früh, als Rudi gerade aufgestanden war. Erst dachte er, es wäre Lutz, aber als jemand in barschem Ton sagte: „Hallo? Ist hier jemand?“, wurde ihm klar, dass Lutz noch gar nicht da war. Er öffnete die Tür von seiner Schlafstatt, die er nachts mit einem Stock unter der Klinke gesichert hatte, weil es keinen Schlüssel gab, und stand vor zwei Polizisten in Uniform.

„Der Herr Koslowski ist noch nicht da“, sagte er.

„Und Sie sind der Herr…?“ fragte der Ältere.

„Holzner Rudi“, sagte er. „Ich helf’ hier aus.“

Der Jüngere fragte, ob sie sich einmal umsehen dürften und wartete sein Einverständnis gar nicht erst ab. Er öffnete das Spind und hob die schmale Matratze der Liege hoch. Der Ältere verlangte Rudis Ausweis.

Rudi schüttelte den Kopf. „Den hab ich verloren.“

„So, so, verloren ham Se den. Hier in Berlin?“

„Nein, in…. Schwerin.“

„Was ham Se denn in Schwerin gemacht?“ fragte der Ältere.

„Zeitschriften verkauft.“

„Und wie sind’Se von Schwerin nach Berlin gekommen?“

Langsam dämmerte es ihm, dass die beiden Polizisten gar nicht wegen Lutz gekommen waren.

„Per Anhalter.“

„Wissen Sie noch, wie der Autofahrer hieß, der Sie mitgenommen hat?“

„Ja“, sagte er leise, „der hieß Jens.“

„Jens Wichmann, richtig. Der hat Anzeige gegen Sie erstattet, wegen Sachbeschädigung und Diebstahl.“

Jetzt durchzuckte es Rudi, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Das Blut stieg ihm in den Kopf.

„Wieso Diebstahl“, stieß er hervor, „ich hab nichts gestohlen. Aber schon gleich gar nix!“

Der Jüngere schaute seinen Kollegen an und schüttelte verneinend den Kopf.

„Na jut, dit klären wir dann auf’m Revier“, sagte der Ältere, „komm’ Se mit.“

In der Hofeinfahrt begegneten sie Lutz, der mit seinem Lieferwagen dem Streifenwagen den Weg verstellte und die Polizisten wenig freundlich musterte.

„Der Jens hat mich angezeigt. Wegen Sachbeschädigung und Diebstahl. Dabei hab ich dem gar nix gestohlen“, erklärte Rudi aufgeregt dem wie immer stoischen Lutz.

Der Ältere fragte, ob sich Lutz ausweisen könne, und während der seinen Ausweis zückte, fragte er noch, ob Rudis Beschäftigung beim Arbeitsamt angemeldet sei?

„Brauch ich nicht“, sagte Lutz, „der Junge ist auf der Durchreise und hat sich ein paar Mark verdient. Kann ich davon ausgehen, dass Sie das soweit verstanden haben?“

„Nu werden Se mal nich frech hier!“ schnauzte der Ältere Lutz an.

„Musst du mit auf’s Revier?“, fragte Lutz. Rudi nickte.

Lutz griff in die Brusttasche seines Overalls und zog zwei Fünfzig-Mark-Scheine heraus, die er zunächst den Beamten hinhielt und dann feixend Rudi zusteckte. „Oh, hätte ich beinahe den Falschen gegeben. Aber für’n Hunni muss man richtige Arbeit leisten, ne, Rudi?“, sagte er. „Wenn du einen Anwalt brauchst, ruf mich an.“

„Können Sie mal eben zur Seite fahren?“ sagte der Jüngere zu Lutz.

„Aber gerne doch, Herr Oberkriminalrat“, sagte Lutz, „ich will ja nicht, dass Sie hierbleiben.“

Rudi bewunderte den unverschämten Ton von Lutz gegenüber den Polizisten und musste grinsen, obwohl ihm in Wirklichkeit mehr zum Heulen zumute war.

Auf dem Revier erzählte er den Beamten haarklein, wie seine Begegnung mit Jens verlaufen war.

„Und ein Schweizer Offiziersmesser, das dem Herrn Wichmann gehört hat, ham Se nicht zufällig eingesteckt?“ wollte der Ältere wissen.

„Ein Schweizer Offiziersmesser, ich? Gewiss nicht“, sagte Rudi entschieden, „ich hab nicht einmal ein Schweizer Offiziersmesser bei ihm gesehen.“

„Der Herr Wichmann sagt, er hätte das Messer im Seitenfach von der Beifahrertür gehabt. Auf dem Beifahrersitz sind Sie ja gesessen, von Schwerin bis Berlin, nicht wahr?“

„Ja, aber nur bei der einen Fahrt. Seither war er doch ein paar Mal mit seinem Auto unterwegs. Ich hab sein Messer nicht. Meinetwegen können Sie mich ruhig durchsuchen.“

Der Ältere nickte dem Jüngeren zu, der Rudis Taschen durchsuchte und dann sagte: „Nischt.“

„Bleibt noch die Forderung vom Anzeigeerstatter für die beschädigten Badetücher und den Schlüsseldienst“, sagte der Jüngere.

„Da würde ick sagen, dit könn’Se gelassen abwarten“, sagte der Ältere. „Ich glaube nicht, dass der Herr Wichmann Sie verklagt. Könnte eher für ihn peinlich werden.“

Rudi fiel ein großer Stein vom Herzen.

„Wenn ick Ihnen einen juten Rat geben darf, junger Mann, seh’n Se zu, dass Sie nach Hause kommen, besorgen Se sich ‚nen neuen Personalausweis und kümmern Se sich um ’ne or’ndliche Arbeit“, sagte der Ältere zum Abschied.

12

Karl Ertl klagte in letzter Zeit immer häufiger über Sodbrennen. Manchmal wachte er nachts auf, weil es in seiner Kehle wie Feuer brannte, und dann hustete er minutenlang, bis der scharfe Schmerz nachließ. Da er und Katharina schon länger in getrennten Zimmern schliefen, um dem Schnarchen des jeweils anderen zu entgehen, bekam seine Frau lange Zeit nichts von den nächtlichen Beschwerden mit. Karl Ertl nahm zunächst an, er verschlucke sich im Schlaf und das Brennen käme von seinem versehentlich in die Luftröhre geratenen Speichel. Als er schließlich seinem Hausarzt davon erzählte, riet der ihm zu einer Magenspiegelung, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Mit einer Überweisung ins Josefinum kam er nach Hause.

„Da spürst gar nix, Karl“, beruhigte ihn Katharina, die das Prozedere einer Magenspiegelung kannte, „da lässt dir eine Schlafspritze geben und nach zwei Stunden gehst putzmunter wieder heim.“

Was die Untersuchung betraf, entsprach das der Wahrheit. Karl Ertl erwachte aus dem künstlichen Schlaf, streckte sich, zunächst noch ein wenig benommen, und wurde von einer Schwester daran gehindert, sofort aufzustehen: „Bleiben Sie ruhig noch ein paar Minuten liegen, Herr Ertl.“ Später bat ihn der Gastroenterologe zu einer kurzen Unterredung und teilte ihm mit, seine Magenklappe schließe nicht mehr richtig und infolgedessen fließe die Magensäure in die Speiseröhre zurück, was eine Veränderung der Schleimhaut bewirkt habe. „Die Veränderung ist bei Ihnen schon recht massiv“, sagte der Arzt. Genaueres erbrächte die pathologische Untersuchung der Biopsien, die er entnommen habe. Karl Ertl verstand bei weitem nicht alles, was ihm der Arzt erzählte, aber sein Hausarzt erläuterte wenige Wochen später den Befund, der Anlass zu ernster Sorge gab: Long-Segment-Barrett-Ösophagus mit hochgradiger intraepithelialer Neoplasie, Übergang in ein Adenokarzinom.

 

„Und was heißt das jetzt?“ fragte Karl Ertl. Katharina, die ahnte, dass sich dahinter eine unangenehme Wahrheit versteckte, ergriff die Hand ihres Mannes.

„Ein Adenokarzinom ist ein Tumor“, sagte der Hausarzt, „und es schaut bei Ihnen ganz so aus, als wäre es schon recht fortgeschritten, weil es ziemlich tief geht, also in die Lymphe und in die Vene hinein. Das ist bösartig, ja leider. Da gibt es nur noch eines, nämlich die Speiseröhre operieren.“

„Wie wird denn das operiert?“ fragte Katharina.

„Bei der Operation wird die Speiseröhre vollständig entfernt.“

Die Mitteilung traf Karl Ertl unvorbereitet und trieb ihm die Farbe aus dem Gesicht. „Was, die Speiseröhre entfernen? Ja wie soll ich denn dann noch essen?“

Der Hausarzt erklärte, bei dieser Operation werde anstelle der Speiseröhre der Magen nach oben gezogen, essen ginge später schon wieder, allerdings nur kleine Portionen und diese verteilt auf den Tag. „Herr Ertl, ich hätte Ihnen gerne etwas Angenehmeres gesagt, aber die Operation ist nun mal der Goldweg. An dem Eingriff kommen Sie nicht vorbei.“

Katharina drückte fest Karls Hand: „Das packen wir schon, Karl.“

Auch für Tobi war unübersehbar, wie niedergeschlagen der Opa seit dem höchst unerfreulichen Befund war.

„Der Opa ist ganz anders geworden“, sagte er zu seiner Mutter, „er regt sich über gar nix mehr auf und redet viel leiser wie früher.“

„Die Oma sagt, er freut sich sehr, wenn du ihn besuchst“, sagte sie, „schau, dass du ab und zu mal bei ihm vorbeifährst, wenn du Zeit hast.“

Das machte er gern, auch weil er inzwischen eine gebrauchte Kreidler Florett besaß, die er dem langen Rainer abgekauft hatte. Mit dem Moped war er schnell von Schwabing in Milbertshofen.

Karl Ertl pflegte nun so oft wie möglich im Garten an der Wand des Geräteschuppens zu sitzen, direkt unter dem Wappen mit dem Schriftzug „Königreich Bayern“. Obwohl es recht warm war, hatte der Opa um eine Decke gebeten, die er sich über die Schultern legen ließ.

„Mei, Tobi“, sagte der Opa, „ich hab doch immer gesund gelebt, und jetzt auf einmal so was. In meinem ganzen Leben bin ich nicht ernsthaft krank gewesen, nicht ein Mal. Ich weiß gar nicht, wie es nach der Operation weitergehen soll mit mir.“

Tobi wusste natürlich auch nicht, wie die Operation das Leben seines Opas verändern würde, aber er redete ihm gut zu, sich nicht verrückt machen zu lassen: „Am besten, du hörst gar nicht, was die Leut’ alles erzählen, Opa. Ich tät mir im Wartezimmer Kopfhörer aufsetzen. Ich leih’ dir meine, wennst magst.“

„Lass nur, das hilft mir auch nix mehr. Ich weiß gar nicht, ob ich die Operation überleb’. Die soll ganz schwierig sein, hab ich gehört“, sagte Karl Ertl traurig.

„Die Oma hat gesagt, dass sie dich noch weiter untersuchen. Vielleicht schaut am Ende alles ganz anders aus und du musst gar nicht operiert werden.“

Der Opa schüttelte den Kopf und drückte ihm die Hand. „Du bist ein lieber Bub. Ich dank dir recht schön, dass du mich besucht hast. Wie geht’s dir denn in der Arbeit?“

Passt alles, sagte er, und berichtete dem Opa ausführlich über seine Ausbildung als Koch und seine Noten in der Berufsschule.

„Du machst deinen Weg, Tobi“, sagte der Opa, „um dich hab ich keine Angst.“

Karl Ertl ergab sich seinem medizinisch diagnostizierten Schicksal und ließ sich, begleitet von seiner Frau, die ihm noch schnell einen neuen Schlafanzug und einen neuen Bademantel gekauft hatte, von Alois ins Krankenhaus Rechts der Isar bringen, wo ihm anderntags in einer stundenlangen Operation die Speiseröhre entfernt wurde.

Nachdem er die Trennung von Mandy verschmerzt hatte, hielt Tobi nach einer neuen Freundin Ausschau. Am Faschingsdienstag lernte er auf dem Viktualienmarkt Marie kennen, ein lebhaftes schlankes Mädchen mit großen dunklen Augen, die auf das Maximiliansgymnasium ging und kurz vor ihrem Abitur stand. Anfangs schien auch Maries Mutter, eine Rechtsanwältin, vom neuen Freund ihrer Tochter sehr angetan, aber nachdem sie erfahren hatte, dass er eine Ausbildung als Koch machte, wimmelte sie, wenn Marie nicht selbst ans Telefon ging, seine Anrufe ab. Schließlich bat ihn die Mutter, Marie in Ruhe zu lassen: „Wenn dir wirklich etwas an Marie liegt, dann zeigst du das am glaubwürdigsten, wenn du dich zurückziehst. Marie muss sich jetzt ganz darauf konzentrieren, ein gutes Abitur zu bauen. Was später wird, wird man sehen.“

Tobi sagte Marie, für ihn sei es kein Problem, wenn sie sich bis zu ihrem Abitur seltener sehen würden.

„Na jaaa…..“, sagte sie gedehnt, „ich weiß ja auch nicht, ob ich nach dem Abi einen Studienplatz in München kriege. Vielleicht ist es doch besser, wenn wir uns erst mal nicht sehen, keine Ahnung.“ Plötzlich kam ihm ein Gedanke: „Oder gefällt’s deiner Mutter nicht, dass ich bloß ein Koch bin?“ Sie druckste ein wenig herum, dann räumte sie ein, dass das für ihre Mutter „vielleicht irgendwie, keine Ahnung“ eine Rolle spielen könnte.

„Aber nicht für mich!“ schob sie eilfertig nach, „nicht dass du das etwa glaubst. Ich meine, schließlich hab ich ja von Anfang an gewusst, dass du Koch bist, was soll’s.“ Er schaute sie sekundenlang an, bevor er sagte: „Ist schon okay. Ich wünsch dir viel Glück für dein Abi. Tschau.“

Zu seiner eigenen Verwunderung machte es ihm gar nichts aus, dass mit Marie Schluss war. Sie hatte zwar noch versucht, eine längere Aussprache mit ihm herbeizuführen. Er sagte kühl, aber nicht unfreundlich: „Konzentrier’ dich auf dein Abi, Marie.“

Zunächst schien es, als habe Karl Ertl die Operation der Speiseröhre einigermaßen gut überstanden, aber dann verschlechterte sich sein Zustand wenige Wochen später derart, dass eine Nachoperation nötig wurde. Tobi besuchte ihn auf der Intensivstation und war erschrocken, wie schlecht der Opa aussah. Karl Ertl war bleich wie Wachs und an verschiedene Schläuche und Apparate angeschlossen. Sein Atem ging stoßweise und röchelnd. Er konnte nicht reden, drückte aber mit einem Lächeln Dankbarkeit aus und ließ seine Hand nicht los. Tobi fühlte sich hilflos. Was sollte er auch schon sagen? Nach ein paar Sätzen, die tröstend gemeint waren, verabschiedete er sich von seinem Opa und fuhr zurück in die Arcisstraße.

„Schau mal in die Küche, wer da ist“, sagte seine Mutter, als er zur Wohnungstür herein kam.

„Mei, unser Opa“, sagte er, während er seine Jacke an die Garderobe hängte.

„Ich weiß“, sagte seine Mutter.

Er ging in die Küche und stand zu seiner Überraschung Rudi gegenüber.

„Da bist ja“, sagte Rudi.

„Wo kommst denn du her?“ fragte Tobi und schaute verblüfft auf die langen Haare vom Rudi.

„Ich bin wieder in München“, sagte Rudi, und verzog den Mund zu einem halben Lächeln.

Sie gingen vor zum Elisabethplatz und setzten sich auf eine Parkbank, nachdem sie etwas zu trinken besorgt hatten, eine Cola für Tobi und für den Rudi ein Bier. Rudi benötigte einen längeren Anlauf, um seine Geschichte zu erzählen, sparte dabei aber gewisse Details aus, auch deshalb, weil ihm die Worte fehlten, um seine Flucht auf den Domturm in Schwerin und seine Gedanken an Selbstmord zu beschreiben. Er wusste ja im Nachhinein selbst nicht mehr genau, was da in ihm abgelaufen war. Die Begegnung mit Jens konnte er hingegen genau schildern. Tobi bekam sich vor Lachen gar nicht mehr ein: „Ich glaub ich spinn’! Ein Schwuler und du mit dem Tigerkopf vor’m Schwanz! Das hätt’ ich sehen mögen.“

„So lustig war das fei nicht“, sagte Rudi, musste dann aber mit Tobi mitlachen, der sich auch noch köstlich über Rudis Flucht durchs Badezimmerfenster amüsierte.

Tobi seinerseits berichtete von seiner Kochlehre, wie zufrieden er mit seiner Berufswahl sei und dass er sich schon darauf freue, nach Beendigung seiner Ausbildung, die kurz bevor stand, eine Stelle als Koch zu bekommen.

„Vielleicht sogar im Ausland“, sagte er.

„Was, im Ausland?“ fragte Rudi voller Respekt zurück. „Wohin denn da?“

„Das weiß ich jetzt noch nicht so genau“, antwortete er, „am liebsten nach Frankreich oder in die Schweiz. Vielleicht nicht gleich sofort, aber später mach ich das ganz gewiss.“

Rudi schien beeindruckt. Dann wollte er wissen, was Tobi bisher mit den Schnecken erlebt hatte.

Tobi hob Mandy in den Mittelpunkt seiner amourösen Schilderungen, die anderen seien, wie er mit einer wegwerfenden Handbewegung unterstrich, nur flüchtige Geschichten gewesen und deshalb vernachlässigenswert. „Und du?“ fragte er, „hast du eine gehabt? Oder nur den Schwulen?“

Rudi ertrug Tobis erneut einsetzendes Gelächter, bevor er zunächst stockend, dann immer flüssiger von jungen Hausfrauen erzählte, die ihn bei seinen Türgeschäften in die Wohnung gebeten und dann verführt hatten. Jetzt blieb Tobi glatt der Mund offen stehen. Davon hatte er ja keinen blassen Schimmer gehabt! Man musste also nur an einer Wohnungstür läuten und schon stand man vor einem „Mieder-öffne-dich“! Einmal in Fahrt und die staunende Bewunderung seines Freundes genießend, schlug sich Rudi auch noch kurzerhand seine Drücker-Kollegin Heike als Bettgespielin zu, was ebenso gelogen war wie die amourösen Einladungen von den willigen Hausfrauen, wenn man von einer gefärbten Rothaarigen in Dülmen absah, die schon am frühen Morgen getrunken hatte und auch nicht jung war, sondern mehr als doppelt so alt wie er.

„Und was tust jetzt, jobmäßig?“ fragte Tobi.

„Keine Ahnung“, sagte Rudi achselzuckend, „aber ich find schon was. Ich muss was finden. Ich kann ja nicht ewig bei meinen Eltern wohnen.“

„Hast du denen auch die ganzen Storys verzählt?“

„Spinnst du? Die sind eh sauer auf mich, weil ich sie belogen hab mit dem Verlagsjob, das kannst dir ja denken.“

„Was ist mit Ausbildung?“

Rudi schüttelte mit skeptischer Miene den Kopf.

„Das glaub ich eher weniger. Ich brauch ein Geld, für eine eigene Wohnung.“

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