Zweimal Wachtel, einmal Lachs

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

7

Wie gerne hätte er Rudi von der neuen Lehrstelle berichtet, aber der war wie vom Erdboden verschwunden. Als er schließlich bei den Holzners an der Wohnungstür läutete, erfuhr er von Rudis Mutter, dass der Rudi neuerdings für einen großen Verlag arbeite und viel in Deutschland unterwegs sei. Was genau ihr Sohn für den Verlag machte, konnte sie allerdings auch nicht sagen. Er wunderte sich im Stillen, dass Rudi ihm nichts davon erzählt hatte, sagte aber nur, der Rudi solle sich halt melden, wenn er wieder in München sei. Dass er im Spatenhaus eine Lehrstelle gefunden hatte, behielt er für sich. Damit wollte er den Freund persönlich überraschen.

Die Geschichte mit dem Verlag hatte Rudi bewusst vage gehalten. Wahrscheinlich ahnte er, dass seine Eltern wenig Verständnis dafür gehabt hätten, dass er über ein Zeitungsinserat („Junger Mann gesucht, sofort abkömmlich, Reisetätigkeit, bis zu 1600 Mark netto im Monat“) Mitglied einer Drückerkolonne geworden war, die Haustüren abklapperte und den Leuten Zeitschriftenabonnements andrehte. Nach kurzer Zeit hatte er von dem Job die Schnauze gestrichen voll. Von Beginn an wurde er von den anderen wegen seiner abstehenden Ohren als „Dumbo“ gehänselt, nach Dumbo, dem fliegenden Elefanten. Sein bayrischer Dialekt und seine ausgemergelte Figur setzten ihn weiteren Gehässigkeiten aus. Hinzu kam, dass er sich von Anfang an schämte, mit einer frei erfundenen Legende vom straffällig gewordenen Jugendlichen, dessen Bewährung vom Erfolg seiner Abo-Abschlüsse abhinge, vor allem ältere Leute zu einer Unterschrift zu nötigen. Natürlich hatte er sich das nicht selbst ausgedacht, sondern es war ihm eingetrichtert worden. Von den versprochenen 1600 Mark netto konnte er nur noch träumen, denn so viele Abschlüsse schaffte keiner, um die zu erreichen. Nur mit dem Aussteigen war das nicht so einfach. Lobo, der Chef der Drückerkolonne, der eigentlich Wolfgang hieß, machte ihn vor der gesamten Truppe fertig, nachdem Rudi geäußert hatte, er habe keine Lust mehr aufs Drücken. Er beschimpfte ihn als „Niete“ und „faule Sau“, nannte ihn einen „Drecksack“, der die anderen hängen ließe, weil er das Gesamtergebnis der Truppe versaute, aber das werde man sich nicht von ihm gefallen lassen, brüllte Lobo ihn drohend an und berührte dabei beinahe mit seiner Nasenspitze die von Rudi, so dicht hatte sich er sich vor ihm aufgebaut. Zur Strafe bekam er kein Abendessen und wurde in seinem Zimmer eingesperrt.

Rudi erbrach sich in das kleine Waschbecken hinter dem Plastikvorhang und verkroch sich wimmernd in sein Bett.

In dieser Nacht fühlte er sich noch mehr als je zuvor wie der letzte Dreck, seine Augen wurden nass und es ekelte ihn vor sich selbst. Aus Angst, jemand könne sein verzweifeltes Weinen hören, presste er sich das Kopfkissen aufs Gesicht und wünschte, tot zu sein.

Von den Nöten seines Freundes ahnte Tobi nichts, wie auch. Er hatte mit großer Freude seine Lehrstelle angetreten und kam jeden Tag pünktlich und gutgelaunt zur Arbeit, obschon er sehr schnell begriffen hatte, was für ein militärischer Drill in der Küche herrschte. Es machte ihm schon deshalb nichts aus, weil er selbst gut behandelt wurde. Die anderen in der Küche nannten ihn „Sonnyboy“, waren freundlich zu ihm und gaben ihm nützliche Tipps für die Arbeit. Der Küchenchef Glöckle ließ weiterhin nicht erkennen, was er von ihm hielt, er beschränkte sich auf knappe Anweisungen und verzog dabei keine Miene.

Diesmal übersah er die junge Kellnerin mit den weißen Zähnen nicht, als sie sich im Spatenhaus begegneten. Sie hieß Mandy, stammte aus Dresden und lachte, als er sie fragte, ob er sie auf ein Eis einladen dürfe: „Du hast ja doch Augen im Koppe. Beim letzten Mal hast du noch durch mich durchgeguckt.“

„Ich hab immer gedacht, ihr dürft nicht rüber in den Westen?“ fragte er, als sie vor dem Eiscafé Venezia in der Leopoldstraße saßen.

„Normal nicht. Aber manche Ausreiseanträge wurden eben doch genehmigt“, sagte sie. „Ich glaube, mein Vati war denen zu unbequem. Der hat so lange geningelt, bis sie uns rausgelassen haben.“

„Was hat er gemacht?“ fragte er verständnislos. Sie lachte.

„Geningelt. Ihr sagt, glaub ich, quengeln. Kleine Kinder machen das gern.“

„Und dein Vater“, grinste er.

Sie nahm sich eine Zigarette aus ihrer Handtasche und drückte ihm ein Feuerzeug in die Hand, ein wenig zu lange, um gänzlich absichtslos zu erscheinen. Seine Hand zitterte ein wenig, als er ihr Feuer gab.

„Rauchst du überhaupt nie?“ fragte sie.

„Nein“, sagte er, „ich hab’s probiert, aber….“ Er zuckte mit den Achseln.

„Sparst du dir viel Geld“, sagte sie, „ich gewöhn mir’s auch wieder ab. Irgendwann.“

Nach dem Eis schlug sie vor, gleich nebenan ins „Marmorhaus“-Kino zu gehen, in dem irgendein amerikanischer Film lief. Er überlegte fieberhaft, ob seine Barschaft für zwei Kinokarten ausreichen würde. Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie: „Jetzt bin ich dran.“

Der Film hatte schon angefangen, aber das schien Mandy nicht zu stören. Sie amüsierte sich über die harmlosen Späße auf der Leinwand, und bei Szenen, die ihr besonders gefielen, kniff sie ihn in den Oberschenkel und lachte perlig. Für Tobi hingegen trat das Geschehen auf der Leinwand völlig in den Hintergrund. Die um einige Jahre ältere Mandy löste ein Prickeln bei ihm aus, wie er es zuvor noch nicht erlebt hatte. Seine Sinne richteten sich konzentriert auf die nächste scheinbar beiläufige Berührung, die er mit angehaltenem Atem erwartete. Als jemand aus den hinteren Reihen unmotiviert lachte, drehte sie sich um und spähte den Saal aus. Dabei ruhte ihr Busen auf seinem Unterarm und verharrte eine ganze Weile dort, bis sie sagte: „So ein Blödmann.“ Danach setzte sie sich wieder gerade in ihren Sessel, während er immer noch dem wollüstigen Schauder nachhing, den ihr Busen auf seinem Arm ausgelöst hatte.

Beim Abschied zog sie seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf den Mund: „Bis morgen, in alter Frische.“ Bei Mandy klang Frische wie Früsche. Sie ließ einen leicht benommenen Tobi zurück und stieg fröhlich winkend in ihren Bus, während er zu Fuß die Hohenzollernstraße hinauf lief und Mandy nicht mehr aus dem Kopf bekam.

In den nächsten Tagen fieberte er den Momenten entgegen, in denen Mandy in der Küche erschien und am Pass die bereitgestellten Essen abholte. Wenn niemand zuschaute, sandte sie ihm einen umflorten Blick und spielte anscheinend beiläufig mit ihrer Zunge an den geschürzten Lippen, womit sie bei ihm einen Wärmestrom in Gang setzte, der seinen ganzen Körper durchflutete. Bisher kannte er derart laszive Signale nur von Filmludern, die auf diese Weise harte Männer wie Charles Bronson oder Sean Connery wissen ließen, dass sie für alles zur Verfügung stünden, für absolut alles. Wie hätte er auf die Idee kommen können, dass Mandy ihm genau dies sagen wollte? Schließlich konnte sie mit ihrem Aussehen jeden Mann haben, gerade so, als hätte sie auf dem Oktoberfest an der Losbude das große Los „Berlin“ gezogen und die freie Auswahl unter den Hauptgewinnen gehabt. Während er also darüber nachgrübelte, was sie ihm mit ihren Auftritten signalisieren wollte, unterliefen ihm kleinere fachliche Schnitzer, die ihm den einen oder anderen Rüffel einbrachten, besonders wenn ihn Küchenchef Glöckle dabei erwischte: „Was ischt denn los mit dir, Kerle?“ schnaubte Glöckle grimmig und seine buschigen Augenbrauen zogen sich drohend zusammen.

„Unser Sonnyboy hat Feuer gefangen“, grinste der lange Rainer. „Pass auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst.“

Tobi wurde rot im Gesicht. Bisher hatte er geglaubt, seine zarten Bande zu Mandy geheim halten zu können.

„So ein Schmarr’n“, sagte er verlegen.

„Obacht“, warnte ihn Rainer mit einem Augenzwinkern, „du bist nicht der einzige, dem die Mandy gefällt.“

Jetzt hatte er sich wieder gefangen. Er schaute Rainer prüfend an, als er fragte: „Gefällt sie dir vielleicht auch?“

„Wem nicht?“, lachte er. „Aber keine Bange, ich bin versorgt.“

So beruhigend die Auskunft scheinbar klang, so gab es ihm doch zu denken. „Wem nicht?“ konnte ja nichts anderes heißen, dass praktisch alle männlichen Mitarbeiter des Spatenhauses als Konkurrenten in Frage kamen. Dieser Konkurrenz musste er sich stellen, soviel war klar. Bloß wie? In nächtlichen schlaflosen Stunden wälzte er sich in seinem Bett und dachte angestrengt darüber nach, welche Situation er herbeiführen konnte, um bei Mandy einen Schritt weiter zu kommen. Wahrscheinlich wäre es am sichersten, wieder mit ihr ins Kino zu gehen, am besten auf zwei Plätze in der hintersten Reihe. Schon der Gedanke daran ließ sein Herz schneller schlagen.

8

„Ihr habt doch bestimmt eine Bohrmaschine zuhause“, sagte Mandy, gerade als er ihr Kino vorschlagen wollte, „ich bräuchte nämlich eine.“ Sie hatte einen Vorhang gekauft, nachdem sie es leid war, das Fenster ihres Apartments in der Buschingstraße mit einem Bettlaken zu verhängen. Natürlich, bestätigte er, und Dübel und Schrauben in allen Größen.

Mandys Apartment bestand aus einem einzigen Raum mit einer kleinen Kochnische und einer Duschecke und hatte vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter. Eine schmalbrüstige Tür führte auf einen winzigen Balkon, der trotz oder gerade wegen eines weißen Plastikstuhls und einer am Balkonsims angebrachten, herunterklappbaren Resopalplatte nackt aussah. Der Raum selbst erschien ihm recht gemütlich, nur die zahlreich im Zimmer verteilten Plüschtiere erschienen ihm etwas übertrieben.

„Wie find’st denn meinen kleinen Zoo?“, fragte sie, und er sagte: „Nett“.

„Ich brauch’s nämlich kuschelig“, sagte sie.

 

Nachdem er die Vorhangschiene an die Decke gedübelt hatte, wobei sie einen Staubsauger direkt neben den Bohrer hielt, um den Mörtelstaub abzusaugen, noch bevor er auf den Fußboden fiel, half er ihr beim Aufhängen des schlammfarbenen Vorhangs mit türkisen Einsprengseln, der Mandy richtig glücklich machte.

„Wie gefällt dir die Farbe?“, wollte sie wissen.

„Klasse“, sagte er, „echt.“

„Jetzt guckt mir keiner mehr in die Bude“, stellte sie zufrieden fest und zog den Vorhang zu. „Willst du auch einen Kaffee?“

Nach dem Kaffee legte sie eine Musikkassette ein und setzte sich auf ihre Bettcouch. Sie klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich und sagte: „Setz dich mal her zu mir.“ Er versuchte so beherrscht wie möglich zu bleiben, als er von dem kleinen Tisch aufstand und sich zu ihr setzte. Beinahe wäre er vor Aufregung gestolpert. Sie rückte nah an ihn heran, dann sagte sie: „Jetzt sag mal selbst, von hier aus sieht der Vorhang doch richtig super aus. Oder?“

Er schluckte mehrmals, bevor er ihr recht gab.

Sie nahm ihn mit einem tiefgründigen Blick ins Visier.

„Das find’ ich wahnsinnig lieb von dir, dass du mir geholfen hast. Du bist ein ganz süßer Typ, Tobi, das muss dir mal eine sagen“, meinte sie und legte ihren Arm um seinen Hals. Obwohl er doch gerade erst Kaffee getrunken hatte, war sein Mund völlig ausgetrocknet. Deswegen brachte er nur mit kratziger Stimme heraus: „Ich finde dich auch süß.“

„Ehrlich?“ fragte sie und bohrte ihren Blick noch tiefer in seine Augen.

„Ganz ehrlich“, krächzte er.

Sie ließ sich viel Zeit und kraulte zärtlich seinen Nacken, bevor sie ihn küsste. Bis dahin war sein Herz bereits fast zersprungen vor wilder Erwartung. Langsam knöpfte sie sein Hemd auf und legte ihre Hand auf seine Brust.

„Dein Herz rast vielleicht“, sagte sie.

„Ich muss dir was sagen. Ich hab noch nie mit - “ Weiter kam er nicht, denn sie legte ihm ihren Finger auf den Mund und machte „Pschscht“. Dann sagte sie: „Fühl mal meins.“ Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust. „Siehste, meins geht auch nicht gerade langsam.“ Unter seiner Hand fühlten sich Mandys Brüste noch viel praller an als er bisher angenommen hatte.

Sie zog sich mit wenigen schnellen Handgriffen aus und half Tobi, dessen Hände vor Erregung zitterten, die Knöpfe seiner Hose aufzumachen. Dass er viel zu schnell kam, schien sie nicht zu stören. Er schämte sich dafür, auch wenn sie ihn beruhigte: „Das ist beim ersten Mal doch ganz normal.“

Dann küsste sie ihn ganz lange und zärtlich, überall, und beim zweiten Mal kam auch Mandy richtig in Fahrt und stöhnte so laut, dass er sich gar nicht mehr richtig auf den Liebesakt konzentrieren konnte und nur noch der bangen Frage nachhing, ob die Wände des Apartments dick genug waren, um ihr Gestöhne vor den Nachbarn zu verbergen.

Jedenfalls senkte er schuldbewusst den Blick, als er im Treppenhaus der Hausmeisterin begegnete, die gerade die Treppe wischte.

„Ja, schau mal, wo du hintrittst“, maulte die Hausmeisterin, nachdem das Profil seiner Schuhsohlen Spuren auf den feuchten Stufen hinterlassen hatte.

„Entschuldigung“, murmelte er, lachte aber lauthals hinterher, weil er erleichtert war, dass die Hausmeisterin sonst keine Bemerkung machte.

Beim Abendessen warf Lissi immer wieder prüfende Blicke auf ihren Sohn, der ihr heute anders vorkam als sonst, während Alois langatmig von einem fetten Fang erzählte, den seine Kollegen von der Zollfahndung auf der Autobahn bei Kufstein gemacht hatten, als sie einen verdächtigen Campingbus aus dem Verkehr zogen und in einem Hohlraum in der Bodenplatte auf mehrere Kilo Haschisch stießen. „Schwarzer Afghane, beste Qualität“, sagte er.

„Wie viel hätt’ das denen gebracht, wenn sie es hätten verkaufen können?“ fragte Tobi. Sein Vater überlegte, während er andächtig einen Bissen Brathering zerkaute, dann sagte er: „Mindestens sechsstellig. Genau.“

Bevor er an diesem Abend zu Bett ging, starrte er in den Badezimmerspiegel und erforschte sein Spiegelbild, ob seine sexuelle Initiation als Mann nach außen sichtbare Spuren davongetragen hatte. Er stellte sich dicht vor den Spiegel und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. War sein Blick kühner geworden? Seine Kinnpartie kantiger? Die Lippen schmäler? Er probierte einige Grimassen und Kopfhaltungen aus, bis er schließlich das zufriedene Fazit zog, er sei offensichtlich gereift aus dem ersten Liebesabenteuer seines Lebens hervorgegangen, auch wenn da noch der eine oder andere Pickel störte, aber da war er ja nicht der einzige in seinem Alter. Vielleicht sollte er sich einen Bart wachsen lassen. Die Idee hatte er vor Kurzem schon einmal gehabt, aber als er der Oma davon erzählte, war die gar nicht begeistert: „Das mögen die Frauen eher weniger, einen Mann mit Bart. Wer sein Gesicht hinter einem Bart versteckt, der hat was zum Verbergen.“ Vielleicht hätte die Oma weniger Einwände, wenn er mit einem Drei-Tage-Bart daherkäme, überlegte er. Andererseits war er unsicher, ob man nach drei Tagen erkennen würde, dass er sich nicht rasiert hatte.

Er bedauerte sehr, dass Rudi nicht da war. Der hätte vielleicht Augen gemacht, wenn er von Mandy und ihm erfahren hätte. Bevor er einschlief, dachte er noch darüber nach, ob er Mandy ein Geschenk machen sollte. Etwas, das sie ewig an ihn erinnern würde. Kein Plüschtier. Eine Tätowierung vielleicht. Also keine große, das nicht. Eine Rose oder ein Anker, mit seinem Namen darunter. Natürlich nur, wenn sie wollte.

Sie schüttelte energisch den Kopf, als er sie fragte, was sie von einem Tattoo hielte? Die Frage war von ihm bewusst vorsichtig und allgemein gestellt worden, denn inzwischen waren ihm Bedenken gekommen, ob sie seine Idee gut fände.

„Erstens tut das weh, und zweitens kriegst du das nie mehr weg. Jedenfalls nicht mehr richtig“, sagte sie.

Er gratulierte sich im Stillen zu seiner Eingebung, das Thema so neutral wie möglich angesprochen zu haben.

„Wie kommst du denn ausgerechnet auf Tätowierungen?“ fragte sie, als sie gemeinsam über die Leopoldstraße bummelten. Heute fiel ihr freier Tag mit seiner Berufsschule zusammen.

„Nur so“, sagte er.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann zupfte sie ihn am Ärmel: „Guck mal den da.“ Sie zeigte auf einen jungen Mann mit Frack und Zylinder, der auf einem Einrad über den Gehweg fuhr und Flyer verteilte. Tobi schnappte sich einen der Flyer, der für ein Spektakel namens Tollwood Reklame machte.

„Da würde ich gerne mal hingehen“, sagte sie, „wahrscheinlich jede Menge Musik und so.“

„Bestimmt auch Theater“, ergänzte er.

„Warst du schon mal?“ fragte sie.

„Nein, das hat’s ja noch nie vorher gegeben, Tollwood“, sagte er.

„Ich meine, im Theater“, präzisierte sie.

Er kratzte sich am Kopf.

„Wir waren mal mit der Schulklasse im Theater der Jugend, aber sonst….“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „In so einem richtigen großen Theater, nein.“

„Ich war mal in ’ner Komödie. War ganz lustig. Eingeladen! Sonst wär’ mir das zu teuer, ehrlich gesagt“, sagte sie.

Ihm schoss sofort durch den Kopf, dass ein Theaterbesuch auch kein schlechtes Geschenk wäre, nachdem eine Tätowierung nicht mehr in Frage kam. Andererseits wäre ein Theaterabend vielleicht doch nicht genau das, was sie für immer an ihn erinnern würde.

Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie sich genauso in ihn verliebt hatte wie er sich in sie. Manchmal zweifelte er an ihren Gefühlen, denn sie konnte zwar lustig sein und viel mit ihm lachen, aber immer wenn er ihr etwas Verliebtes sagte wie „Weißt schon, dass ich dich mag“, dann gab sie Antworten wie „Das will ich aber auch schwer hoffen“ oder „Sag lieber gleich, was du willst“. Beim letzten Mal hatte er seinen Mut zusammengenommen und sie gefragt: „Sag mal, wie ist das eigentlich? Bist du überhaupt in mich verliebt?“

„Wie kommst du denn darauf?“ hatte sie mit einem Stirnrunzeln gesagt, und als er verwirrt zurückfragte, ob sie sich nicht vorstellen könne, dass ihm ihre Zuneigung wichtig wäre, glättete sich ihre gespielt gekräuselte Stirn. Sie lachte und boxte ihn gegen die Brust: „Na, was glaubst denn du? Meinst du, ich würd’ mich sonst mit dir einlassen?“

Sie drückte ihm einen raschen Kuss auf die Lippen: „Blödmann“.

Er war nicht restlos überzeugt, denn so richtig verliebt klang das nicht.

Von der Leopoldstraße aus waren es nur wenige Schritte bis zur Gaststätte „Weinbauer“. Hier verkehrte ein gemischtes Publikum, Bürger und Studenten, Leute von Film und Fernsehen und natürlich auch etliche aus der Schwabinger Kunstszene oder die, die sich ihr zugehörig fühlten. Alle schätzten gleichermaßen das gepflegte Bier und die ordentliche bayrische Küche, die hier geboten wurde. Entsprechend gut besucht war der „Weinbauer“ auch an diesem Abend. Sie quetschten sich auf Anweisung der resoluten Kellnerin an einen Tisch, an dem eine Runde lautstark darüber stritt, wie sich Alt-Schwabing in den letzten Jahren verändert hatte und wie die Veränderungen zu bewerten waren. Die Älteren stimmten ein Klagelied auf den Niedergang Schwabings an, weil das ehemalige Bohèmeviertel allmählich verkam und die früheren Künstlerkneipen immer öfter Billiglokalen weichen mussten, die mit „einem Meter Pils“ lockten und ein entsprechendes Publikum anzogen. Viele Namen früherer Läden und deren Wirte fielen, von der legendären „Gisela“ bis hin zum Jazzclub „domicile“, allesamt glorreiche Adressen längst vergangener Tage. Während die Älteren den entschwundenen goldenen Zeiten nachtrauerten, ätzte einer der Jüngeren: „Im Baumarkt gibt’s gerade Stricke im Sonderangebot.“

„Wenn alle Stricke reißen, kommen wir auf dich zurück“, knurrte ein Mann mit einem eisgrauem Schnurrbart, wie Asterix ihn trug; es war Kurt Hartmann, der Wirt der Kultkneipe „Säge“, der seit letzter Nacht eine Kneipentour durch die Innenstadt gemacht hatte und nun wieder in Schwabing gelandet war. Im Kampf um das untergehende Alt-Schwabing trug Kurt seinen westfälischen Humor wie ein Banner vor sich her.

Mit den Namen der entschwundenen Etablissements konnte auch Tobi nichts anfangen, und Mandy folgte den Gesprächen ziemlich verständnislos.

Sie schrie erschrocken auf, als es hinter ihr klirrte und ein volles Glas Bier in ihrem Nacken landete, dessen Inhalt sich über ihr T-Shirt ergoss. Die resolute Kellnerin, der das Missgeschick passiert war, sagte trocken: „Öha, Madl. Magst ein’ Schnaps?“

Mandy starrte die Kollegin fassungslos an.

„Nein, aber ein Handtuch wär nicht schlecht“, sagte Tobi zu der Kellnerin.

„Kommt sofort. Passt’s derweil auf, dass keiner in die Scherben hineintritt.“

Mandy fand schnell ihre Fassung wieder und ging mit einem Handtuch, das die Kellnerin ihr brachte, auf die Toilette, um sich notdürftig abzutrocknen.