Zweimal Wachtel, einmal Lachs

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5

Die Realschule in der Wilhelmstraße brachte der Rudi nicht zu Ende. Er wurde nach der siebten Klasse nicht versetzt, und nach der neunten ging er ab, bevor er ein weiteres Mal sitzen geblieben wäre. Dabei war er nicht einmal übermäßig faul oder begriffsstutzig. Ihm mangelte es einfach an Interesse für den Unterricht, und wenn man von Sport und Religion absah, setzte es nur miserable Noten. Besonders das Unterrichtsfach Deutsch war ihm verhasst, zum einen, weil er nicht einsah, weshalb er Texte lesen sollte, die ihn zu Tode langweilten, zum anderen, weil sein Deutschlehrer Dr. Kramer - der es nie verwunden hatte, als promovierter Germanist lediglich zweiter Mann an einer Realschule und ohne Chance auf einen Schulleiterposten zu sein - keine Gelegenheit ausließ, ihn vor der ganzen Klasse herabzusetzen, ja sogar zu beleidigen.

„Geh doch auf den Bau, du Faschingsgesicht“, hatte Dr. Kramer zu Rudi gesagt, als der wieder einmal jede Antwort verweigert hatte, diesmal auf die Frage, wer in Schillers „Glocke“ mit dem „schwarzen Fürst der Schatten“ gemeint war. Von hinten raunte ihm Tobi zu: „Der Tod!“ Obwohl er seinen Freund genau verstanden hatte, schwieg Rudi. Er presste die Lippen aufeinander, aus Furcht, mit dem Öffnen des Mundes eine verwundbare Stelle seines inneren Panzers zu entblößen.

Dr. Kramer hatte höhnisch genickt und nach einer längeren Zeit des Schweigens gesagt: „Mülleimer, Deckel drauf.“

„Das tät ich meinen Eltern sagen“, empörte sich Tobi auf dem Heimweg über die Schmähungen des Deutschlehrers, „das brauchst dir nicht gefallen lassen.“

„Pah“, tat Rudi verächtlich ab, „das ist doch mir wurscht, was der sagt.“ In Wirklichkeit war es ihm keineswegs wurscht, weil sein innerer

Panzer ja nur auf einer Einbildung beruhte, und deshalb tat es ihm weh, richtig weh, vor der ganzen Klasse erniedrigt zu werden, ohne sich dagegen wehren zu können. Denn er wusste nur zu genau, dass sich seine Eltern eher auf die Seite des Lehrers schlugen als sich mit ihm anzulegen.

Deshalb atmete er befreit auf, als die Schule für ihn zu Ende war, und dass er keinen Abschluss hatte, war ihm ziemlich egal. Auch dass seine Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz der Reihe nach abgelehnt wurden, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Irgendwann würde schon was daherkommen, meinte er.

Der Freundschaft mit Tobi tat die schulische Veränderung keinen Abbruch, sie sahen sich jetzt halt seltener. Fußball spielten sie nur noch, wenn sie im Sommer ins Floriansmühlbad radelten, am Rande der Liegewiese und so dicht wie möglich im Blickfeld der jugendlichen Bikini-Schönheiten. Wenn es darum ging, den Badenixen zu imponieren, sprangen sie auch schon mal mit Anlauf kopfüber in den angrenzenden Schwabinger Bach. Sie ließen sich ein paar Meter von der Strömung treiben, bevor sie sich aus dem Wasser zogen und zu den Mädchen hinüberschauten, ob die ihre Sprungkünste auch gebührend würdigten.

„Hast gesehen, die mit den Locken hat zu mir hergeschaut“, sagte Rudi, während sie zu ihren Handtüchern gingen. „Mei, ist das eine Schnecke.“

Wenn Rudi von Mädchen sprach, benutzte er gerne den Ausdruck „Schnecken“. Der in München gebräuchlichere Ausdruck „Hasen“ gefiel ihm schon deshalb nicht, weil die Holzners lange Zeit eine Stallhäsin namens Elsi hatten, die auf ungeklärte Weise verschwand. Seine drängenden Fragen nach den Hintergründen des plötzlichen Verschwindens von Elsi konnten oder wollten seine Eltern nicht beantworten.

„Welche? Die Rothaarige?“ fragte Tobi.

„Logisch die Rothaarige. Die wär’ exakt meine Kragenweite“, sagte Rudi genießerisch.

„Ich weiß nicht“, zweifelte Tobi, „ich mein eher, dass die zu mir geschaut hat.“

„Seit wann stehst denn du auf Rot“, trumpfte Rudi auf, „das wär ja was ganz was Neues.“

Tobi rieb sich mit seinem Handtuch den Oberkörper trocken. „Ich hab nicht gesagt, dass ich auf sie steh, ich hab bloß gesagt, dass die zu mir hergeschaut hat“, stellte er klar.

„Du kannst sie ja mal fragen“, sagte Rudi kühl, „aber das traust dich eh nicht.“

„Frag sie doch du“, konterte Tobi.

„Warum ich? Ich hab ja gesehen, wie sie zu mir geschaut hat.“

Langsam drohte das Klima zwischen den beiden Freunden frostiger zu werden.

„Vielleicht hast du dir das bloß eingebildet“, legte Tobi nach.

„Ich weiß nicht, wer von uns mehr eingebildet ist, aber so interessant wie du glaubst, bist du auch wieder nicht“, lederte Rudi zurück.

Jetzt fühlte sich Tobi herausgefordert.

„Das werden wir gleich haben“, sagte er entschlossen, legte sich lässig sein Handtuch um den Hals und ging zu der Rothaarigen hinüber.

„Ist was?“ fragte die sofort und mit einer gehörigen Portion Angriffslust in der Stimme, bevor er auch nur eine Silbe hervorgebracht hatte.

Derart überrumpelt, druckste er herum: „Hast du vielleicht…. ich mein, ist es möglich, dass du...ähh..“

„Nein, das ist nicht möglich“, feixte das Mädchen und erzielte damit einen ungeahnten Heiterkeitserfolg bei ihren Freundinnen, die sich vor Lachen kringelten. Er schaute finster auf die giggelnden Mädchen, dann sagte er entschlossen: „Aber du hast doch eben zu mir herübergeschaut, wie ich aus dem Wasser gestiegen bin, oder?“

„Zu diiiir?“ Die Rothaarige schnitt eine Grimasse. Ihre Freundinnen wälzten sich prustend auf ihren Badetüchern.

Er blickte unschlüssig zu Rudi hinüber.

„Oder vielleicht zu ihm? Das ist nämlich der Rudi.“

„Vielleicht ganz bestimmt nicht“, sagte die Rothaarige, „nicht zu dir und nicht zu deinem Rudi. Weil ihr mir viel zu jung seid, dass ihr’s wisst.“

Ihre Freundinnen quietschten vor Vergnügen. Er trottete gedemütigt zu Rudi zurück.

„Komm, wir gehen“, sagte Tobi.

„Was ist mit ihr?“, fragte Rudi.

„Sie sagt, sie hätt’ gar nicht geschaut. Zu dir nicht und zu mir auch nicht. Mir wären ihr zu jung, hat sie gesagt.“

„Aha, sauber. Die blöde Geiß steht auf alte Knacker.“

„Wahrscheinlich wegen dem Geld“, sagte Tobi verdrossen.

Des is’ ja des“, seufzte Rudi. Tobi fiel auf, dass der Rudi neuerdings häufiger sagte: „Des is’ ja des.“

Sie verließen das Floriansmühlbad in der stillen Gewissheit, dass die Rothaarige es nicht geschafft hatte, einen Keil zwischen sie zu treiben. Einen unbedeutenden Rest an Verstimmung spülten die gischtigen, graubraunen Strudel des Schwabinger Bachs hinweg.

Im letzten Jahr vor seinem Realschulabschluss ließen Tobis Leistungen in der Schule etwas nach, im Fach Mathematik deutlich. Am liebsten hätte er die Schule geschmissen, so verleidet war ihm der Unterricht.

„Siehst es ja am Rudi, wie es ist, wennst keinen Schulabschluss hast“, mahnte Alois, „der findet nicht einmal eine Lehrstelle.“

„Der Rudi will ja gar keine“, sagte Tobi.

„Und du? Willst du auch keine? Glaubst du, die nehmen dich bei einer Behörde, wenn du keinen Abschluss hast?“ fragte Alois.

„Was für eine Behörde?“ gab Tobi zurück.

„Tobi, du brauchst einen Abschluss, ganz wurscht, wo du anfängst“, sagte Lissi.

Alois wurde nun konkreter: „Wennst beim Zoll - “

„ Oder bei der Sparkasse“, sagte Lissi schnell.

„Genau. Da brauchst überall einen Abschluss“, fuhr Alois fort.

„Mit meinen Noten nimmt mich sowieso keiner“, klagte Tobi.

„Du bist doch nur in Mathe unterm Schnitt. Wennst eine Nachhilfe in Mathematik brauchst, dann kriegst eben eine Nachhilfe. Der Abtreiter Ludwig hat schon gesagt, er tät’s machen.“

„Es ist doch nur noch ein Jahr“, sagte Lissi, „das wirst schon noch packen.“

Der Ludwig Abtreiter wohnte um die Ecke in der Georgenstraße, war drei Jahre älter als er und besuchte das Gisela-Gymnasium. Ludwig kam von nun zweimal die Woche zum Nachhilfeunterricht und brachte es in seiner ruhigen, geduldigen Art tatsächlich fertig, Tobi den Goldenen Schnitt zu erklären oder Übungsaufgaben zu quadratischen Gleichungen. Das verhalf ihm schließlich zu einer glatten „3“ in Mathematik.

„Warum nicht gleich so?“ sagte sein Mathematiklehrer.

„Weil ich bei Ihnen nix verstanden hab“, hätte Tobi am liebsten gesagt, aber dann sagte er nur: „Ich hab einen Nachhilfelehrer gehabt.“

„Na also“, sagte der Mathelehrer.

Seine eigenen Lebensumstände und die seiner Familie fand Alois Ertl, nun ja, angemessen. Wenn er sein Leben bespiegelte, so kam er immer zu dem befriedigenden Ergebnis, es insgesamt gut getroffen zu haben. Er gehörte nicht zu den Menschen, die in ihren Tagträumen heimliche Karrieren, unverhoffte Erbschaften oder obskuren Ruhm herbeisehnten, im Gegenteil, er war mit sich und der Welt zufrieden, um so mehr, als er sich in gesicherter beruflicher Position wusste, aus der ihn niemand aushebeln könnte, es sei denn, es geschähen Dinge, die die Weltordnung auf den Kopf stellten, wie etwa eine Revolution in Deutschland oder der Einmarsch russischer Truppen in die bayrische Landeshauptstadt. Die Wahrscheinlichkeit solcher Szenarien hätte er als verschwindend gering eingestuft. Schließlich wusste er, wer im Land das Sagen hatte, und auf die Regierung war Verlass. Für den Ministerpräsidenten empfand er gar Bewunderung. Auch die andere stabile Säule im Freistaat, die katholische Kirche, schätzte er als himmlisches Bollwerk gegen Anfeindungen mancher Art, obwohl er und seine Frau keine Kirchgänger waren, wie übrigens seine Eltern auch nicht.

Es lag nahe, dass er seinen Sohn in eine Welt entlassen wollte, deren Koordinaten im Wesentlichen denen entsprachen, die er selber zu schätzen gelernt hatte, Dinge wie eine unkündbare Stellung, materielle Sicherheit, familiäre Geborgenheit, erfüllte Freizeit. Denn auch wenn ihn keine Ängste oder Zweifel plagten, was seine eigene Zukunft betraf, so wusste er doch, welchen Gefahren die Jugend ausgesetzt war, und wie das sogenannte Böse weltweit seine Klauen nach unschuldigen, naiven jungen Menschen ausstreckte. Man hätte von ihm schlicht zu viel verlangt, der Frage nachzugehen, ob es das Böse als solches überhaupt gab. Da hätte er nicht lange nachgedacht, mit einem „ja freilich“ geantwortet und auf die vielen abschreckenden Beispiele verwiesen, über die man nahezu täglich lesen konnte oder die im Fernsehen gezeigt wurden, seien es die von ganz unten aus der Gosse oder jene aus der Glitzerwelt der Reichen, zumeist jüngere Menschen, die in einem Sumpf von Sex, Alkohol und Drogen unterzugehen drohten. Aber wen schreckten sie beispielhaft ab? Selbst ein einfacher, anständiger Junge wie Tobi war nicht davor gefeit, dem Bösen in die Hände zu geraten. Verführer lauerten überall. Um so mehr wünschte er sich, Tobi möge in seine Fußstapfen treten. Wer beim Zoll früh lernte, Verantwortung zu übernehmen, der stand schnell gefestigt im Leben, das wusste er aus eigener Erfahrung. Wie chancenreich eine Bewerbung seines Sohnes beim Zoll wäre, darüber hatte er auch schon mit dem Personalsachbearbeiter im Hauptzollamt gesprochen, Huber.

 

Tobi zeigte nicht die geringste Begeisterung, als sein Vater ihm die Vorzüge des Mittleren Dienstes beim Zoll anpries.

„Sportlich bist ja, die Zusatzausbildung im Sport schaffst du locker“, sagte Alois. Lissi spürte sofort, dass ihr Mann völlig umsonst an ihren Sohn hinredete.

„Der Tobi hat überhaupt keine Lust auf den Zoll“, sagte Lissi, als ihr Sohn die Wohnung verlassen hatte, um sich mit Rudi zu treffen.

„Warum sagt er’s dann nicht frei heraus?“ wollte Alois wissen.

„Vielleicht meint er, dass er dich damit verletzt. Er merkt doch, dass du das willst, dass er zum Zoll geht.“

„Wegen mir braucht er nicht zum Zoll gehen“, sagte er leicht eingeschnappt, „aber er wird schon noch merken, dass es gar nicht so leicht ist, eine Ausbildungsstelle in der freien Wirtschaft zu finden. Gleich gar nicht so was Sicheres wie den Zoll. Weil den Zoll, den wird’s ewig geben.“

Rudi lachte verächtlich, als Tobi ihm von dem Wunsch seines Vaters erzählte, er möge eine Zolllaufbahn einschlagen.

„Haben Sie was zum Verzollen? Zigaretten? Kaffee? Ja dann machen Sie einmal den Kofferraum auf“, lästerte Rudi, der sich nicht mehr rasierte. Mehr als Flaum wuchs ihm allerdings noch nicht im Gesicht.

„Die arbeiten ja nicht alle an der Grenze“, stellte Tobi richtig, „da gibt’s einen Haufen andere Arbeit auch, beim Zoll. Mein Papa, der macht Genehmigungen, Einfuhr, Ausfuhr, so was halt.“

„Wurscht, da täten mich keine zehn Pferde hinbringen“, sagte Rudi.

„Mich auch nicht“, beeilte sich Tobi zu versichern.

Sie winkelten ihre Arme an, klatschten sich ab und drückten ihre rechten Schultern gegeneinander. Das war seit Neuestem ihre ganz persönliche Freundschaftsgeste, die sie sich aus einem amerikanischen Gangsterfilm abgeschaut hatten.

Sie fuhren mit ihren Rädern durch den Englischen Garten zum Monopteros, wo eigentlich immer was los war. Hier trafen sich hübsche Mädchen, barfüßige Freizeitjongleure, die Keulen in die Luft warfen, Gitarrenspieler, Bongo-Trommler; Frisbee-Scheiben flogen durch die Luft, unbeachtet von in sich versunkenen Yoga-Anhängern; nicht selten waberten Gerüche von Haschisch und Marihuana über der abschüssigen Wiese. Manchmal tauchte die Polizei auf - Uniformierte oder Zivilfahnder, Fußstreifen oder Berittene -, deren vornehmliches Interesse den Ameisendealern galt. Erst neulich hatten sie eine Festnahme mit eigenen Augen verfolgt. Zwei Dealer mussten eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen und wurden anschließend in einem VW-Bus mitgenommen. Die Festnahme von Drogenhändlern hätten sich Tobi und Rudi aufregender vorgestellt.

Rudi hatte wiederholt seine Sympathie mit dem Monopteros-Völkchen bekundet, dessen ungebundene Art zu leben seinen Vorstellungen von Freiheit sehr nahe kam. An Haschisch war er noch nicht herangekommen, jedenfalls bisher nicht.

„Wenn ich ein Geld habe, probier ich das auch, Haschisch“, kündigte er an und sog den Rauch seiner Zigarette tief ein. Seit einigen Wochen rauchte er Selbstgedrehte. Tobi war es bei frühen Rauchversuchen schwindlig im Kopf geworden, seitdem hatte er die Finger davon gelassen.

„Woher magst du ein Geld für Haschisch nehmen?“, fragte Tobi, „du hast ja nicht einmal das Geld, was ein Lehrling hat.“

„Einen Job krieg ich auch so“, meinte Rudi verdrießlich, „da hab ich mehr als wie jeder Lehrling.“

„Aber hinterher verdien’ ich mehr“, sagte Tobi, „wenn ich mit der Lehre fertig bin.“

Er verriet Rudi, dass er entschlossen war, Koch zu werden. Der Mann von der Berufsberatung hatte ihn ausdrücklich dazu ermutigt, nachdem Tobi ihm geschildert hatte, wie er schon als kleiner Bub mit großer Begeisterung der Oma in der Küche geholfen hatte.

„Ich weiß nicht, ein Koch“, sagte Rudi in abfälligem Ton, „da musst viel arbeiten und kriegst nicht einmal ein Trinkgeld. Da tät ich schon lieber auf Kellner machen.“

Von solchen Äußerungen ließ sich Tobi nicht beirren. Er hatte ein längeres Gespräch mit dem Berufsberater geführt, der ihm gesagt hatte, auf was es bei einem Koch ankäme: „Teamfähigkeit, Kreativität, Ausdauer.“ Der Berufsberater gab ihm noch Tipps für entsprechende Bewerbungsschreiben und legte ihm schließlich ans Herz: „Wenn Sie sich irgendwo bei einem Arbeitgeber vorstellen, schauen Sie zu, dass Sie geduscht und sauber angezogen sind. Und gehen Sie am besten vorher zum Friseur!“

Seinen Eltern sagte er vorläufig nichts von seinen Plänen. Denn wie Lissi völlig zu Recht vermutet hatte, fürchtete er, seinen Vater zu kränken, wenn er nicht zum Zoll ginge.

„So, am Monopteros seids gewesen“, sagte die Oma neugierig, „da waren wir schon lange nicht mehr, der Opa und ich.“

Tobi erzählte, wie bunt und unbeschwert es dort zuging.

„Der Monopteros“, sagte sein Opa, „das ist der Feldherrenhügel für die Gestrauchelten und Gefallenen.“ Das hatte er mal in irgendeiner Zeitung gelesen, jedenfalls so ähnlich.

„A geh, Karl“, sagte die Oma und schüttelte leicht indigniert den Kopf, „die jungen Leute brauchen doch auch einen Platz, wo sie unter sich sind.“

„Wir haben das nicht gebraucht“, sagte der Opa streng, „wir haben arbeiten müssen.“ Karl Ertl hatte sein ganzes langes Arbeitsleben bei der Knorr Bremse zugebracht und es dort bis in eine verantwortliche Position in der Lagerverwaltung gebracht.

„Das war doch eine ganz andere Zeit“, sagte die Oma mild und zwinkerte ihrem Enkel zu.

„Hat’s bei euch auch schon Joints gegeben?“, fragte Tobi den Opa.

„Was?“, gab der verständnislos zurück.

„Joints. Zigaretten mit Haschisch drin.“

„A so, das. Nein, das hat’s nicht gegeben. Weil solche Haschischbrüder, die hätten sie bei uns gleich eingesperrt. Aber heut’ dürfen s’ ja alles. Sogar nackert laufen’s herum auf der Schönfeldwiese, die Saubären!“ Die Schönfeldwiese mit dem Schwabinger Bach lag in unmittelbarer Nähe des Monopteros und lockte im Sommer nackte Sonnenanbeter scharenweise an.

Tobi behielt wohlweislich für sich, dass sein Freund Rudi sich vorgenommen hatte, Haschisch auszuprobieren.

„Der Opa hat längst vergessen, dass wir uns schon einmal unter der Kuppel vom Monopteros geküsst haben“, sagte die Oma schelmisch und nahm dabei die Hand von ihrem Karl. „Da waren wir frisch verlobt.“

Der Opa schaute sie einen Moment lang perplex an und stieß dann einen kurzen Lacher aus.

„Das hab ich natürlich nicht vergessen, Mama“, sagte der Opa, „es ist mir bloß gerad’ nicht eingefallen. Weil’s schon recht lang her ist.“

„Ja mei, Karl“, sagte die Oma versonnen, „vielleicht sollten wir wieder einmal da vorbeischauen, beim Monopteros.“

6

Es war an einem Spätnachmittag im September, als Tobi im Vorverkauf zwei Karten für ein Konzert des Tenors José Carreras abholte, ein Geburtstagsgeschenk seiner Eltern für die Oma. Auf seinem Rückweg durch die Residenzstraße fiel sein Blick auf eine Gruppe japanischer Touristen, die alles abfotografierte, was ihr vor die Linse kam. Eine junge Japanerin mit langen schwarzen Haaren und einem beigen Trenchcoat richtete die Kamera direkt auf ihn und drückte dann auf den Auslöser. Er verlangsamte seinen Schritt und knipste noch schnell ein Lächeln an, wahrscheinlich zu spät für den Schnappschuss. Aber das spielte nicht wirklich eine Rolle, denn der Touristin aus Fernost ging es weniger um sein Lächeln als um das Trikotleiberl vom FC Bayern, das er wie ein T-Shirt trug, mit der „13“ auf dem Rücken und dem Namen Müller. Die junge Japanerin nickte eifrig und dankbar, bevor sie sich abwandte und den Blick freigab auf ein Schild, das in einem gläsernen Aushang direkt neben der Eingangstür des Restaurants „Spatenhaus“ angebracht war: Wir stellen ein: 1 Jungkoch, 1 Kochlehrling.

Ihm blieb für einen Augenblick die Spucke weg. Er schaute verblüfft der Japanerin nach, die ihm plötzlich vorkam wie eine Erscheinung von einem anderen Stern, eigens auf die Erde gekommen, um dieses Schild zu enthüllen. Er überlegte, was zu tun sei, dann ging er zu einem Schaufenster, in dem er sich spiegeln konnte, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und roch an seinem Trikot unter den Achseln. Ihm fielen die Ratschläge des Berufsberaters ein: „Geduscht und sauber angezogen“. Er nahm die U-Bahn bis zur Giselastraße und rannte den restlichen Weg zu Fuß nach Hause. Er machte sich Vorwürfe, dass er den Platten an seinem Fahrrad nicht geflickt und zu allem Überfluss darauf verzichtet hatte, das Rad seines Vaters herzunehmen, nur weil er da den Sattel hätte verstellen müssen. Mit dem Radl wäre er doch viel schneller gewesen. Er quälte sich mit dem Gedanken, ein anderer könne ihm im „Spatenhaus“ zuvorkommen.

Er duschte in aller Eile, tauschte das Bayern-Trikot gegen ein frisches Hemd und machte sich wieder auf den Weg zum Spatenhaus. Erleichtert registrierte er, dass das Schild „Wir stellen ein“ immer noch im Aushang hing. Mit etwas Herzklopfen betrat er das Restaurant. Er blickte sich um. Es war noch nicht viel los um diese Zeit. Seitlich der Theke faltete eine Frau Servietten. Er käme wegen dem Schild im Aushang, sagte Tobi zu ihr. Die Serviettenfalterin wies ihm den Weg zum Büro des Geschäftsführers. Im Flur begegnete er einer jungen brünetten Kellnerin, die ihn gewinnend anlächelte und dabei tadellos weiße Zähne zeigte, aber er war so konzentriert auf das bevorstehende Treffen mit dem Geschäftsführer, dass er die junge Frau glatt übersah.

Herr Lobinger, so hieß der Geschäftsführer, führte in seinem Büro ein Telefongespräch. Tobi wollte sofort mit einer entschuldigenden Handbewegung den Rückzug antreten, doch Herr Lobinger winkte ihn herein und wies auf einen Stuhl.

„Herr Niedermeier, jetzt kommen Sie mir doch nicht mit der Leier! Sie sind einer von den Teuersten. Doch, doch, das sind Sie. Und ich bin nicht der König Midas. Den kennen Sie nicht?“, sagte Herr Lobinger ins Telefon, schaute dabei zu ihm herüber und lächelte. Tobi erwiderte das Lächeln diskret, da er den König Midas auch nicht kannte. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit nachzuschauen, um welchen König es sich bei dem Genannten handelte.

Auch wenn er nur die eine Seite des Telefonats mitbekam, konnte er unschwer heraushören, dass sich das Gespräch um die Preise für den Handtuchservice im Restaurant drehte. Schließlich sagte der Herr Lobinger: „Herr Niedermeier, ich sag’s Ihnen, wie es ist. Entweder Sie machen mir ein neues, verbessertes Angebot, oder wir zwei sind fertig miteinand’, verstehen Sie? Habe die Ehre.“

Herr Lobinger legte auf und schaute freundlich zu Tobi, der mit großen Ohren zugehört hatte. „So, und jetzt zu dir. Was gibt’s?“

Er nannte Herrn Lobinger mit fester Stimme seinen Namen und den Grund seines Besuchs und war plötzlich kein bisschen mehr aufgeregt.

„So, so, Realschulabschluss. Und so gute Noten.“ Herr Lobinger wiegte den Kopf hin und her: „Bist du dir ganz sicher, dass du nicht doch besser in ein Büro passt als in eine Küche?“ Das habe er sich genau überlegt, versicherte Tobi und erzählte, dass er sogar eine Ausbildung für den Mittleren Dienst beim Zoll ausgeschlagen habe. Herr Lobinger fragte ihn noch ein wenig aus, nach seinen Lieblingsfächern, Hobbys, seiner Familie und seinen Freunden, bevor er sagte: „Geh einmal mit.“

 

Herr Lobinger führte ihn in die Küche und stellte ihn dem Küchenchef vor, der Glöckle hieß und unüberhörbar ein Schwabe war. Die anderen Köche waren intensiv mit der Vorbereitung der Abendkarte beschäftigt und schienen Tobi nicht wahrzunehmen. Die Küche war großzügig und modern eingerichtet, alles machte einen blitzsauberen Eindruck, es roch angenehm nach Bratenjus und Gewürzen, und außer dem Klappern von Pfannen und Töpfen hörte er niemanden reden, außer Herrn Lobinger und den Küchenchef, der schließlich sagte, an ihm solle es nicht liegen. Herr Lobinger schlug Tobi vor, er solle noch einmal wiederkommen, dann mit seinen Eltern und dem Abschlusszeugnis der Realschule.

„Eine Gesundheitsbescheinigung brauchst auch.“

Dann wollte er noch wissen, ob er schon einmal Ärger mit der Polizei gehabt hätte, reichte ihm zum Abschied die Hand und lächelte ihm aufmunternd zu: „Ich würd’ mich freuen, wenn’s klappt.“

„Vielen Dank“, sagte Tobi artig.

Draußen hätte er am liebsten einen Luftsprung gemacht, so leicht fühlte er sich. Es kam ihm vor, als sei er innerhalb weniger Minuten ein Stück

größer geworden. Deswegen schaute er noch einmal konzentriert in das spiegelnde Schaufensterglas.

Kein Zweifel, er war gewachsen.

Am Sonntag feierte die Oma ihren Geburtstag, es gab geschmorte Lammhaxe und zum Nachtisch Bayrisch Creme. Die Oma freute sich riesig über die Eintrittskarten zum Konzert ihres Lieblingssängers José Carreras, auch wenn ihr Mann fand, dass eine Karte völlig gereicht hätte.

Beim Kaffee sagte Tobi unvermittelt: „Hab ich euch’s schon gesagt, ich fang eine Kochlehre an.“

Seine Eltern machten große Augen, und der Opa sagte: „Ja da schau her, wie jetzt das?“

Er erklärte die Vorgeschichte und wie er das Schild in der Tür entdeckt habe, was allein der japanischen Touristin zu verdanken gewesen sei.

Sein Opa hatte nicht genau zugehört und fragte erstaunt: „Was, ein japanisches Restaurant?“

Die Oma nahm Tobi in den Arm und sagte: „Du wirst bestimmt ein ganz ein guter Koch, das weiß ich gewiss.“

Alois lächelte ein wenig schief, weil damit eine Zollkarriere ad acta gelegt war. Er konnte es sich freilich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass es in der „freien Wirtschaft“ nicht so sicher sei wie beim Zoll.

„Gegessen wird immer“, sagte die Oma, und auch Lissi hatte sich längst auf die Seite von Tobi geschlagen: „Es ist sein Leben, und wenn er Spaß am Kochen hat, soll er’s machen.“

Alois fragte ihn, ob er sich im Klaren darüber sei, dass er in Zukunft arbeiten müsse, wenn die anderen frei hätten oder feierten. Darüber hatte Tobi bereits mit dem Berufsberater gesprochen.

„Ungünstige Arbeitszeiten, bescheidene Bezahlung, als Koch müssen Sie hart im Nehmen sein, junger Mann“, hatte der ihm gesagt. Jetzt konnte er seinem Vater sagen, dass er genau wüsste, was auf ihn zukäme.

Der Opa war beruhigt, dass Tobis zukünftiger Arbeitgeber eine angesehene Münchner Adresse war: „Das Spatenhaus, da darfst dich fei anstrengen, Bub.“

Er registrierte erleichtert, dass am Ende die Familie geschlossen hinter ihm stand. Tags darauf ging er zum Friseur und kaufte sich in der Hohenzollernstraße ein blaues Hemd, zu dem er lässig einen bordeauxroten Pullover über die Schultern legte, als er mit seinen Eltern zum verabredeten Termin mit Herrn Lobinger ging. Auf dem Schild im Fenster stand nur noch Wir stellen ein: 1 Jungkoch. Der Kochlehrling war überklebt.

Der Rest war Formsache.

Die Oma bestand darauf, für die Grundausstattung des frischgebackenen Kochlehrlings Tobias Ertl aufzukommen und bezahlte Jacke, Hose, Küchenschürze und das professionelle Anfänger-Messerset mit vier Messern.