Zweimal Wachtel, einmal Lachs

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Tobi zuckte zusammen, als die Blaskapelle mit großer Verve den Auftakt des Marsches „Hoch Wittelsbach!“ intonierte. Er stand wenige Meter ent

fernt von dem rechteckigen Podest, das ausreichend Platz bot für die dreizehn Musiker. Der Helmut stach ein wenig mit seiner Posaune hervor, nicht nur optisch. Der Auftritt in seinem Heimatort am Rande des Ammersees verleitete ihn dazu, aus sich und seinem Instrument das Letzte herauszuholen. Biermeiers Dirigierkünste, die dem Helmut fast flehentlich Zurückhaltung auferlegen wollten, liefen ins Leere. Instinktiv drückte sich Tobi an den Rock seiner Mutter, die hinter ihm stand. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten. Er schaute mit großen Augen zu seinem Vater, den er bisher nur zu Hause beim Üben erlebt hatte und den er nun zum ersten Mal spielen hörte mit dieser stattlichen Gruppe von Männern in Trachtenanzügen und mit komischen Hüten, deren Instrumente aus Messing in der Sonne blinkten. Das alles war für ihn neu und verwirrend. Er drehte den Kopf nach oben und lächelte seine Mutter unsicher an. Die erwiderte sein Lächeln, nickte ihm aufmunternd zu und bewegte seine Arme im Takt.

Nachdem die Musik geendet hatte, trat ein rotgesichtiger Mann an ein Pult mit Mikrofon und begrüßte die wichtigsten Gäste namentlich, vor allem den Landrat, der mit starkem Applaus bedacht wurde und geschmeichelt in die Runde nickte. Selbst der Ausflugsdampfer auf dem Ammersee schien den Beifall mit einem lang anhaltenden Tuten verstärken zu wollen. Den Sinn der Rede konnte Tobi nicht verstehen, dazu war er einfach noch zu klein. Er sah nur, dass der Mann offenbar stark fror, denn das Papier in seiner Hand zitterte heftig. Der Redner hob die Verdienste des Landrats um das kühne Projekt eines Heimatmuseums ausgiebig hervor, bis sein Blick in der Zeile verrutschte und er verzweifelt nach dem Anschluss suchte. In diese Pause hinein fragte Tobi laut und vernehmlich: „Können wir jetzt gehen, Mama?“

Die Umstehenden lachten, was der Redner auf sich bezog und ihn zu einer Entschuldigung veranlasste: „Ich hab das nicht geschrieben, das kannst ja kaum lesen, so klein ist das geschrieben.“

Dann hatte er die Zeile wieder gefunden und brachte seine Rede ohne weitere Hänger zu Ende.

Die Musiker blätterten noch einmal in ihren Noten.

„Heut ist doch Sonntag“, sagte Tobi, „da gehen wir doch immer zur Oma.“

„Gewiss fahren wir zur Oma, so wie der Papa fertig ist mit Spielen.“

Also geduldete er sich, bis die musikalische Umrahmung des Festaktes beendet war. Nach dem musikalischen Vortrag nahm Alois mit unverhohlenem Vaterstolz seinen Sohn auf den Arm und stellte ihn nacheinander seinen Musikerkollegen vor: „Das ist der Biermeier, schau her.“

„Und, hat dir die Musik gefallen?“ wollte der Biermeier wissen. Tobi nickte brav.

„Außer’m Biermeier sein’ Saxophon, gell?“ frotzelte Alois seinen Mitspieler. Weil Tobi die Frage nicht verstanden hatte, nickte er wieder lebhaft zustimmend.

„Tu du nur den Buben g’scheit aufhetzen“, ärgerte sich der Biermeier, „du tätst ihm besser ein Instrument kaufen, dass er beizeiten was lernt.“ Und konnte sich eine kleine Retourkutsche nicht verkneifen: „Sonst wird er mal so schlecht wie du.“

Als Helmut seine fleischige Pranke auf seinen Haarschopf legte und dabei dröhnend lachte, duckte er sich unwillkürlich an die Schulter seines Vaters. „Die zünftige Krachlederne hat er schon, Respekt“, orgelte Helmut mit seiner sonoren Bassstimme und zupfte an Tobis Lederhose, „so ist’s recht, Tobi, du wirst einmal einer von uns.“

Er war erleichtert, als sein Vater mit ihm weiterging.

„Hat der Tobi was gesagt, wie ihm die Musik gefallen hat?“ wollte Alois von Lissi wissen, als sie bei den Großeltern waren.

„Er fand’s glaub ich recht laut“, meinte sie, was er als Bestätigung dafür ansah, dass sein Sohn ein empfindsames Gehör hatte: „So dicht an einer Blaskapelle, das kann für einen musikalischen Menschen schon eine rechte Belastung sein, wenn er noch so klein ist.“

Er übersah dabei, dass dieselbe Situation auch für einen größeren Menschen belastend sein konnte, musikalisch gesehen.

„Ich tät sagen, er fängt einmal mit einer Blockflöte an“, sagte er, „was meinst, Lissi?“

Sie fand die Idee gut. Flöte spielen lernten die meisten Kinder leicht, und ein musikalisches Talent wie Tobi würde sicher schon zur nächsten Weihnacht O Tannenbaum auf der Blockflöte vortragen können. Mindestens.

Die Blockflöte kaufte Alois beim Hieber am Dom, in einem Etui aus Pappmaché. Der Verkäufer ermahnte nachdrücklich, die Blockflöte nach jedem Spiel ins Etui zurückzulegen: „Aber vorher trocknen“.

„Ich bin selbst Musiker. Trompete und Kornett.“ Er sagte das etwas unfreundlich.

„Dann kennen Sie sich ja aus“, lenkte der Verkäufer ein. „Brauchen Sie eine Lernfibel dazu? Da hätten wir was ganz Günstiges, damit lernen die Kinder spielend leicht.“

Die Lernfibel nahm er gleich dazu, und bald saß Tobi vor einem Schaubild, auf dem aufgemalt war, welche Löcher er zuhalten musste, um der Flöte verschiedene Töne zu entlocken.

„Der ist ja immer noch bei der Tonleiter“, wunderte sich Alois nach einiger Zeit, als er abends vom Hauptzollamt in der Landsbergerstraße, wo er als Zollobersekretär beschäftigt war, nach Hause kam. „So langsam dürfte er aber schon ein Stückerl zusammenbringen.“

Lissi hob ratlos die Schulter. An ihr läge es nicht, versicherte sie, sie halte ihn immer an, auf der Blockflöte zu üben, nur leider habe der Bub keine Geduld, schon gar nicht, wenn der Holzner Rudi an der Tür läute, dann sei Tobi nicht mehr zu halten und weg seien die beiden. Alois knöpfte sich seinen Sohn vor und sagte, natürlich dürfe er mit dem Holzner Rudi spielen, aber ein bisserl mehr Fleiß beim Üben auf der Blockflöte würden seine Eltern schon erwarten, und nicht nur die: „Was meinst, wie enttäuscht die Oma und der Opa sind, wenn die an Weihnachten sagen, Tobi, geh her, spiel einmal ein Weihnachtslied auf der Blockflöte, und du kannst nicht ein einziges?“

„Die Oma und der Opa haben doch die Schallplatte“, sagte er und schaute seinen Vater dabei treuherzig an, „da sind die ganzen Weihnachtslieder drauf.“

„Eine Schallplatte, das ist ja was anderes“, sagte sein Vater, „was ganz was anderes ist das, eine Schallplatte. Wenn man Musiker in der Familie hat, dann zählt das viel mehr als wie eine Schallplatte. Genau.“

„Dann kannst ja du wieder spielen, Papa“, sagte er fröhlich, „du brauchst es ja nicht mehr lernen.“

Alois schüttelte den Kopf, bevor er ein letztes Argument vortrug: „Die Oma und der Opa erwarten aber, dass du was spielst. Von einem Enkelkind ein Weihnachtslied vorgetragen zu bekommen, das ist schöner als vom Papa - als vom Sohn mein ich, also von mir. Verstehst das nicht?“

„Doch, Papa“, sagte er, „aber g’scheiter wär’s, wenn du spielen tätst. Weil die Mama hat gesagt, Weihnachten ist schon recht bald.“

Sein Interesse an Weihnachten richtete sich auf andere Dinge als auf Weihnachtslieder. Ganz oben auf seinem handgeschriebenen Wunschzettel stand, dick unterstrichen: Auto mit Fernlenkung. Dahinter in großen Druckbuchstaben FERRARRI, was zwar nicht korrekt geschrieben war, aber eindeutig. Er besaß bereits ein Kartenquartett mit den schnellsten Sportwagen der Welt, außerdem drei Modellautos sowie ein Poster von einem Rallyeauto, das zwei Meter über der Straße durch die Luft flog. Woher seine Leidenschaft für Autos rührte, wusste sich in der Familie niemand zu erklären. An den Fahrkünsten seines Vaters, der einen Ford Escort fuhr, konnte es nicht gelegen haben. Hingegen war Alois durchaus der Auslöser von Tobis Fußballbegeisterung, seit er ihn zu einem Spiel ins Olympiastadion mitgenommen hatte, in das der FC Bayern nach den Olympischen Spielen umgezogen war. Deshalb stand an zweiter Stelle auf seinem Wunschzettel ein Fußballtrikot mit dem Namen seines Lieblingsspielers, Gerd Müller. Fußballschuhe hatte er schon.

Obgleich vom Glauben ans Christkind noch nicht gänzlich abgefallen, hatte er seine Eltern im Verdacht, an dem silbrigen Läuten des Glöckchens und der nachfolgenden Bescherung nicht unbeteiligt zu sein, nachdem er durch das Schlüsselloch beobachtet hatte, wie seine Mutter mit Geschenken bepackt vom elterlichen Schlafzimmer ins Wohnzimmer ging. Auch der Rudi, der ein knappes Jahr älter war, hielt die jährlich wiederkehrende Behauptung seiner Eltern, das Christkind sei Sekunden vor der Bescherung durch das geöffnete Wohnzimmerfenster davongeflogen, für Schwindel: „Ich hab extra aus dem Fenster rausgeschaut und dann hätt’ ich’s ja sehen müssen. Also!“

Die Oma legte die Schallplatte mit den Weihnachtsliedern auf und nahm Tobi liebevoll in den Arm, während sein Vater eine Entschuldigung vorbrachte, weshalb es noch nicht zu einem Ständchen auf der Blockflöte reichte, und fügte fast schon resignierend hinzu: „Der Bub müsst’ halt fleißiger üben.“

„Lasst’s ihm ein bisserl Zeit“, sagte die Oma, „ich hab als Kind Mandoline lernen müssen, das ist mir auch nicht leicht gefallen.“

Und dann, wie an jedem Weihnachtsfest, holte Alois seine Trompete hervor und spielte „Stille Nacht, heilige Nacht“, fehlerfrei natürlich, und den hochgezogenen Ton am Ende der Textzeile „Christ, der Retter ist da-haaaaaaa“ hielt er länger als die anderen ihn singen konnten.

Die Lissi verbarg ihren Schmerz darüber, dass ihre Eltern nicht mehr lebten, was ihr an Weihnachten schwerer fiel als im übrigen Jahr. Ihr Vater war früh gestorben, und auch ihre Mutter, die noch einmal geheiratet hatte und mit ihrem neuen Mann nach Kanada gezogen war, wurde nicht alt, ein Bergunfall kostete sie das Leben. Zu dem Stiefvater, ein Elektroingenieur, hatte Lissi keinen Kontakt. Nach ihrer letzten Begegnung in Vancouver anlässlich der Beisetzung der Mutter hatte sie ihm Briefe geschrieben, die der Elektroingenieur nie beantwortet hatte. Irgendwann gab sie ihre Bemühungen auf. Die Erinnerungsstücke an ihre Eltern bewahrte sie in einem Ikea-Korb auf: Photoalben, Briefe, das Familienstammbuch sowie Bilder, die sie als Kind für die Eltern gemalt hatte. Sie brachte es bis heute nicht fertig, den Schmuck, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, selbst zu tragen. Es war ihr aber ein Trost, dass sie eine patente Schwiegermutter hatte, und selbst der ewig grantelnde Schwiegervater war ihr ans Herz gewachsen.

 

Als Tobi das Geschenk mit dem Ferrari auspackte, leuchteten seine Augen, und seine Bäckchen wurden rot vor Aufregung. Der Ferrari übertraf alles, was er je an Geschenken bekommen hatte, und dieser hier, den er jetzt voller Stolz in den Händen hielt, hatte sogar einen Rückwärtsgang! Die übrigen Gaben standen weit im Schatten des wahr gewordenen Ferrari-Traums, selbst das neue Fußballtrikot und der Fan-Schal vom FC Bayern München konnten da nicht mithalten.

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags wurde er in aller Frühe wach, und für einen Moment befielen ihn bange Zweifel, der Ferrari sei vielleicht nur ein Leihwagen gewesen und schon wieder weg, aber natürlich war er immer noch da, sein Wahnsinns-Ferrari, in diesem prächtigen, satten Rot mit dem springenden Pferd im Wappen und den asphaltschwarzen Reifen.

Er lenkte mit wachsender Begeisterung das Spielzeugauto um Sessel und Tischbeine und Weihnachtsbaum, den der Opa wie in jedem Jahr mit Lametta behängt hatte, Faden für Faden.

„Wennsd’ die Fäden nicht einzeln aufhängst, hast nachher lauter Lamettawürschtl, das schaut gar nicht gut aus“, erklärte der Opa seinem Enkel. Bald ging den Batterien vom Ferrari der Saft aus, aber Tobi hatte Glück, weil der Opa noch neue in einer Schublade seines Werkzeugschranks hatte, die passten.

4

Auf dem Weg zur Grundschule in der Türkenstraße läutete Tobi zweimal kurz, einmal lang bei Holzner, dann kam der Rudi, von der Natur mit roten Pausbacken und Segelohren bedacht, in großen Bocksprüngen die Treppe herunter, wenn er nicht bereits vor der Haustür wartete. Als Banknachbarn hatte sie die Lehrerin nicht geduldet, weil sie beide zuviel miteinander schwätzten. Durch die Sitztrennung wurden die schulischen Leistungen vom Rudi geringfügig schlechter, da ihn der neue Banknachbar nicht abschreiben ließ, während Tobi gute Noten schrieb, ohne zu glänzen. Sooft Alois und Lissi in die Elternsprechstunde kamen, hob die Lehrerin gerne hervor, wie vorbildlich sich ihr Sohn in die Klassengemeinschaft einbringe, und sie schloss regelmäßig mit dem Satz: „Den Tobi mögen wir alle sehr gern, er ist fleißig und freundlich, da dürfen Sie wirklich zufrieden sein.“

Die Beurteilung wurde sogleich den Großeltern mitgeteilt, die ihrerseits nichts anderes erwartet hatten. Schließlich brachte der Bub die besten Voraussetzungen mit, wuchs er doch im Schoß seiner liebevollen Familie auf, die ihn nicht verhätschelte, aber schützend unter ihre Fittiche nahm, die ihm freien Raum zur Entfaltung gewährte, aber Grenzen setzte, und die ihren Erfahrungsschatz zweier Generationen an ihn weitergab, ohne ihm Vorschriften zu machen. Seine Eltern fanden sich sogar damit ab, keinen berühmten Musiker in die Welt gesetzt zu haben. Sie hatten - nach der Blockflöte - noch zwei weitere Versuche gestartet, ihn an Instrumenten ausbilden zu lassen, aber weder die Klarinette noch das diatonische Knopfakkordeon stießen bei ihm auf Gegenliebe. Das Akkordeon, eine Leihgabe eines Vetters von Lissi, gaben sie nach wenigen Unterrichtsstunden zurück, weil der Musiklehrer meinte, das Geld für den Unterricht sei woanders besser angelegt. Die Klarinette hingegen verblieb im Familienbesitz, und es dauerte ziemlich lange, bis Lissi und Alois herausfanden, dass ihr Sohn aus einem akuten Geldbedarf heraus die Klarinette verhökert und an ihrer Stelle eine Spielzeugklarinette aus Plastik in das Futteral gelegt hatte. Deswegen liebten sie ihn nicht weniger, und die Oma konnte sogar herzlich darüber lachen.

Die Vorhaltungen des Kollegen Biermeier, für die Musikerkarriere seines Sohnes nicht energisch genug gekämpft zu haben, nahm Alois gelassen.

„Bei manchen geht der Knoten auch später noch auf“, sagte er zum Biermeier. „Und wenn nicht, dann hat’s halt nicht sein sollen.“ Der Biermeier winkte verächtlich ab und schaute in eine andere Richtung.

Auch Lissi grämte sich wenig darüber, kein musikalisches Wunderkind in die Welt gesetzt zu haben. Da war es ihr schon weitaus lieber, dass ihr Sohn mit großer Begeisterung ihre meist sonntäglichen Bergtouren begleitete. Innerhalb weniger Jahre hatte er die beliebtesten Wanderrouten auf den einschlägigen Münchner Hausbergen und im angrenzenden Tiroler Kaisergebirge kennengelernt, einmal sogar, für ein verlängertes Wochenende im September, einen märchenhaft verzauberten Wanderweg im Südtiroler Pfossental, wo er zum ersten Mal in seinem jungen Leben einen Steinbock in freier Natur zu sehen bekam.

Dass aus ihm kein Skifahrer wurde, lag daran, dass seine Eltern schon vor seiner Geburt das Skifahren aufgegeben hatten. Alois hatte nach einem Kreuzbandriss, den er bei einem Skiunfall im Tiefschnee erlitten hatte, dem Vergnügen auf zwei Brettern abgeschworen.

Dennoch bot Lissi ihrem Sohn an, er könne jederzeit einen Skikurs belegen: „Du kannst es ja mal ausprobieren, ob’s dir Spaß macht. Die Skier und das alles kannst ja erst einmal ausleihen.“

Er zog seine Mundwinkel nach unten. „Ich weiß nicht. Höchstens wenn der Rudi mitfahren tät.“

Aber der Rudi durfte nicht. Die offizielle Begründung seiner Eltern lautete, Skifahren sei viel zu gefährlich. Ehrlicherweise hätten die Holzners sagen müssen: „Der Spaß ist uns zu teuer.“

Nachmittags, wenn die Hausaufgaben erledigt waren, worauf Lissi achtete, bolzte Tobi mit seinem Freund Rudi im Hinterhof des Hauses, in dem die Holzners in einer Dreizimmerwohnung zur Miete wohnten. Das ging eine Zeitlang gut. Dann schoss Tobi alias Gerd Müller einen Ball, den Rudi alias Petar Radenkovic unglücklich abfälschte, ausgerechnet in die Fensterscheibe der Hausmeisterwohnung. Der Hausmeister kam wutentbrannt aus dem Haus gestürmt (und er war in diesem Moment besonders wütend, weil er sich mitten in einem Streit mit seiner Frau befand, die ihm draufgekommen war, dass er in letzter Zeit auffällig oft in der Wohnung der alleinstehenden Frau Klett im 4. Stock zu tun hatte).

Natürlich griff sich der Hausmeister als ersten den Rudi und packte ihn wenig zimperlich an einem der arg abstehenden Ohren, worauf der Rudi einen anhaltenden Klagelaut von sich gab. Tobi trat entschlossen vor und sagte dem Hausmeister, er habe den Ball geschossen und dass er die Fensterscheibe bezahlen würde. Deshalb ließ der Hausmeister den Rudi aber

nicht los. Erst als die Frau Holzner von oben herunter schrie: „Lassen Sie sofort meinen Sohn los!“, gab der Hausmeister das bereits rot angelaufene Ohr des Delinquenten frei und zeigte anklagend auf die zerbrochene Scheibe: „Die Scheiben ham’s mir zerdeppert, die Hundsbuben, ja muss man sich denn alles gefallen lassen? Dabei wissen s’ genau, dass das verboten ist, Fußball spielen im Hof! Wer hat jetzt die Scherereien? Ich!“

„Wenn Sie noch einmal den Rudi anfassen, dann meld ich das der Hausverwaltung. Sie haben schon immer was gegen Kinder gehabt, das weiß ein jeder im Haus!“ plärrte Frau Holzner von oben herunter.

„Und was steht in der Hausordnung?“ bellte der Hausmeister nach oben. „Ball spielen im Hof verboten. Aber das stört ja Leute wie Sie nicht. Bagasch!“

Während die beiden Erwachsenen weiter stritten, verdrückten sich die Buben unauffällig vom Hof. Von da an hatten sie striktes Bolzverbot im Hof und wichen auf den kleinen umzäunten Sportplatz am Rande des Kinderspielplatzes an der Tengstraße aus, gleich gegenüber der Josephskirche, wenn nicht gerade die größeren Jungen den Platz beanspruchten und mit knappen, herrischen Gesten die kleineren verscheuchten. Später versuchte sich Tobi in der Jugendmannschaft des FC Bayern, aber nicht sehr lange, dann war es Lissi leid, ihren Sohn zum regelmäßigen Training zu fahren und fürs Zu-spät-Kommen vom Jugendtrainer „blöd angeredet“ zu werden, wie sie Alois sagte. Denn die Chauffeursdienste überschnitten sich zeitlich mit Lissis Halbtagsjob als Verkäuferin in einem Lederwarengeschäft in der Hohenzollernstraße.

Tobi schien sogar erleichtert, der Disziplin des Mannschaftssports entronnen zu sein. Fußball machte ihm nämlich ohne seinen Freund Rudi deutlich weniger Spaß. Den ließen seine Eltern schon deshalb nicht zu den Bayern, weil der Vater vom Rudi ein eingefleischter Fan des Lokalrivalen TSV 1860 München war. Die Rivalität zwischen den Blauen und den Roten, von den Buben eher spielerisch ausgetragen, behandelten ihre Väter als existenzielle Glaubensfrage. Seit sie in einer Kneipe in der Agnesstraße einen hitzigen Disput über die Qualitäten ihrer Klubs ausgetragen hatten, hielten sie sich gegenseitig für ausgemachte Idioten.

„Was kannst von einem Gelbfüßler viel anders erwarten“, schloss Alois resigniert, als er Lissi von dem Wortgefecht berichtet hatte, und meinte damit den Holzner, der als Briefträger in der Agnes-Post arbeitete.

Der frisch ausgehobene, tiefe Graben zwischen den beiden Vätern führte zu einer höchst unerfreulichen Konsequenz für ihre Sprösslinge. Galt es bereits als fest verabredet, dass der Rudi mit den Ertls in den Sommerferien nach Jesolo fahren durfte, legte sich der alte Holzner plötzlich quer und strich seinem Sohn die Ferienreise, auf die sich Tobi und Rudi mächtig gefreut hatten, schon weil sie in einem eigenen Zelt hätten campieren dürfen. Weder das Weinen seines Sprösslings noch die Fürsprache seiner Frau, an die sich Tobi mit einem herzerweichenden „Bittebittebitte, Frau Holzner, lassen Sie den Rudi mitfahren“ gewandt hatte, konnten den Holzner von seinem harten Verdikt abbringen.

„Mit solchen Leuten fährt mein Bub nicht mit! Da erkennst am End’ dein Kind nicht wieder, wenn sie es dir zurückbringen. Ja so ein rotes Gesindel! Aber nicht mit mir!“

Es brauchte mehrere Halbe Bier, bis sich der Holzner wieder einigermaßen beruhigt hatte.