Den Schatten umarmen

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Die Beziehung zu sich selbst verbessern

Jetzt kommen wir zu einem der wichtigsten Punkte im Hinblick auf die emotionale Gesundheit. Sie haben mit sich selbst eine Beziehung, und das heißt, Ihre eigenen Emotionen sollten Ihnen wichtig sein. Es ist sehr wichtig, sie anzuerkennen und sie nicht etwa abzulehnen oder zu missbilligen, so wie man Ihnen das vielleicht als Kind beigebracht oder gezeigt hat.

Dazu empfehle ich Ihnen, die nachfolgend ausgeführten sechs Schritte auf Ihre Beziehung zu sich selbst anzuwenden. Das wird Ihnen helfen, mit jeglichen eventuell auftretenden negativen Emotionen oder inneren Konflikten umzugehen.

1 Nehmen Sie Ihre Emotionen bewusst wahr. Achten Sie darauf, wie sie sich im Körper manifestieren und mit welchen Empfindungen sie einhergehen.

2 Kümmern Sie sich um Ihre Emotionen; erkennen Sie sie als gültig und wichtig an. Wir haben die Tendenz, unsere Emotionen wie eine abstrakte Plage zu behandeln. Um mit Emotionen arbeiten zu können, müssen wir anerkennen, dass sie einen Daseinsgrund haben, dass sie uns helfen und nicht behindern wollen.

3 Hören Sie empathisch auf Ihre Emotionen und versuchen Sie zu verstehen, warum Sie so fühlen, wie Sie fühlen. Lassen Sie ein Gefühl der Sicherheit und Verletzlichkeit zu, ohne Angst vor Selbsturteilen. Versuchen Sie, Ihre Emotionen und Gefühle wirklich zu verstehen.

4 Erkennen Sie die Zulässigkeit Ihrer eigenen Gefühle an. Wenn das hilft, versuchen Sie, jede Emotion mit einer Bezeichnung zu versehen. Es ist zulässig, sich so zu fühlen. Vermeiden Sie selbstkritische Aussagen wie »Ich fühle mich so nutzlos«. Bestätigen Sie sich selbst und sagen Sie: »Ich kann genau erkennen, wie das, was passiert ist, mir das Gefühl geben konnte, nutzlos zu sein, und es ist in Ordnung, dass ich mich so fühle.«

5 Lassen Sie die Gefühle zu, die Sie fühlen, und leben Sie Ihre Emotionen voll aus, bevor Sie sich daranmachen, sie zu verbessern. Gestehen Sie sich zu, zu sagen, wann Sie so weit sind. Setzen Sie sich dabei nicht unter Zeitdruck. Praktizieren Sie bedingungslose, fokussierte Präsenz und lieben Sie sich selbst bedingungslos, bis Sie bereit sind, in eine neue Emotion zu wechseln.

6 Nachdem (und wirklich nachdem) Sie sich Ihre Emotionen voll und ganz zugestehen, sie anerkennen und fühlen können, sollten Sie sich strategische Möglichkeiten überlegen, wie Sie mit Ihren Reaktionen am besten umgehen können, wie Sie bestimmte Situationen anders betrachten können, um sich besser damit zu fühlen. Erteilen Sie sich selbst den freundlichsten und bestmöglichen Rat, und wenn der Zeitpunkt für eine Veränderung nicht der richtige ist, üben Sie bitte keinen Druck aus. Es wird passieren, wann es eben passiert.

Umgang mit den Emotionen anderer Menschen

Wie wir mit den negativen Emotionen anderer umgehen, bestimmt, wie gesund bzw. ungesund unsere Beziehungen sind. Bevor wir in den Completion Process einsteigen, müssen wir lernen, negative Emotionen in unseren Beziehungen richtig anzugehen. Für die Entwicklung von mehr emotionaler Verbindung und Intimität zu einem anderen Menschen können Sie mit den bereits beschriebenen sechs konkreten Schritten arbeiten. Das funktioniert bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen. Diese Schritte sind goldrichtig, wenn Sie in einer Beziehung mit negativem Feedback oder mit einem Konflikt zu kämpfen haben. Dabei gilt es, folgende Schritte zu berücksichtigen:

1 Achten Sie auf die Emotionen der anderen Person und beobachten Sie, wie sich deren Körpersprache verändert. Wir neigen dazu, in unserer eigenen Seifenblase zu leben, und müssen uns mehr auf die Menschen um uns herum einstimmen, damit wir im Falle einer emotionalen Reaktion ihrerseits das auch wirklich empathisch fühlen können.

2 Nehmen Sie die Emotionen der anderen Person ernst, erkennen Sie sie als wichtig und gültig an, so wie Sie das mit Ihren eigenen Emotionen tun würden.

3 Hören Sie mit Empathie auf die Emotion des anderen, um zu verstehen, wie sich dieser Mensch fühlt. Wenn er sich sicher fühlt, kann er sich verletzlich zeigen, ohne Angst vor Verurteilung zu haben. Versuchen Sie zu verstehen, anstatt beizupflichten.

4 Gestehen Sie dieser Person ihre Gefühle zu, erkennen Sie sie an, eventuell auch indem Sie ihr helfen, sie in Worte zu fassen und zu benennen. Dieses Zugestehen und Anerkennen heißt nicht, dass wir die Gedanken über ihre Emotionen für richtig halten; wir müssen diesen Menschen einfach wissen lassen, dass seine Gefühle in Ordnung sind. Sagt ein Freund beispielsweise zu Ihnen: »Ich fühle mich so nutzlos«, dann heißt anerkennen nicht, zu sagen: »Du hast recht; du bist nutzlos.« Vielmehr könnten Sie stattdessen sagen: »Mir ist völlig klar, warum du dich dadurch nutzlos fühlst, und ich würde mich an deiner Stelle genauso fühlen.«

5 Lassen Sie die Person ihre Gefühle und Emotionen voll und ganz ausleben, bevor Sie sich aufmachen, daran etwas zu verbessern. Wir müssen ihr zugestehen, selbst zu bestimmen, wann es so weit ist, ohne ihr unsere eigenen Vorstellungen aufzudrängen. In diesem Schritt praktizieren wir bedingungslose, fokussierte Präsenz und bedingungslose Liebe. Wir sind für den anderen da, um ihn zu unterstützen, aber ohne zu versuchen, ihn »in Ordnung« bringen zu wollen. Falls die Person Ihre Unterstützung in dem Moment nicht annimmt, seien Sie bitte nicht beleidigt. Ihr Hilfsangebot hat eine wohltuende Kraft, und mit Ihrem Angebot bieten Sie dem anderen einfach Ihre Liebe an, ganz egal, was jemand damit macht oder nicht.

6 Nachdem – und wirklich erst nachdem – die Gefühle des anderen zugestanden, anerkannt und voll und ganz gefühlt wurden, können Sie dieser Person helfen, mit ihren Reaktionen auf ihre Gefühle umzugehen. Jetzt können Sie auch neue Möglichkeiten vorschlagen, wie man die Situation betrachten könnte, um so eventuell bessere Gefühle zu erzeugen. Jetzt können Sie auch Ratschläge anbieten.

Was soll denn das ganze Drama?

Drama bedeutet ursprünglich »Handlung« und wird hauptsächlich in der Welt der darstellenden Künste und des Theaters verwendet. In Bezug auf unser Gefühlsleben sprechen wir jedoch auch oft von Drama, wenn es um Zustände, Situationen oder Ereignisse bzw. Abfolgen von Ereignissen geht, die mit einem intensiven Konflikt verbunden sind.

Man bringe beides zusammen, und schon hat man die Definition für eine dramatische Person, die agiert, als ob sie sich in einem intensiven Konflikt befände, und die wir als »Drama-Queen«, also »Drama-Königin«, oder als »Drama-König« bezeichnen. Sie wissen schon, welche Art von Leuten ich meine: Sie agieren, als ob die Dinge viel schlimmer seien, als sie Ihrer Meinung nach sind. Deshalb geht Drama mit einem Stigma einher. Oft hören wir Leute sagen: »Ich hab genug von all dem Drama«, oder: »Der ist ja süchtig nach Dramen«, oder: »Sie ist einfach eine Drama-Königin.«

Das sehe ich überhaupt nicht so und möchte das deshalb hier einmal klarstellen: Wenn es um die emotionale Erfahrung eines Menschen geht, gibt es so etwas wie Drama nicht. Indem Sie ein Urteil abgeben und finden, jemand »zieht ein Drama ab« oder sei einfach nur dramatisch drauf, werten Sie diese Person ab und beschämen sie wegen ihrer Gefühle. Doch ich versichere Ihnen: Diese Gefühle sind sehr real.

In Wirklichkeit überreagiert niemand. Die Menschen reagieren genau so, wie sie ihre jeweilige Realität empfinden. Allerdings muss auch klar sein: Unsere Wahrnehmung der Realität ist nicht dieselbe.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind verheiratet und vergessen immer wieder mal, Ihren Ehering zu tragen; Sie haben ihn meinetwegen gedankenverloren auf dem Waschbecken liegen lassen und ihn nicht wieder angesteckt. Ihre Ehefrau regt das sehr auf; sie heult Ihnen zwanzig Minuten lang etwas vor und schreit sie an.

Sie schauen Ihre Frau an und denken vielleicht: »Mein Gott, die ist ja echt dramatisch drauf.« Immerhin lieben Sie sie ja noch, und es ist doch nur ein Ring. Sie haben nur vergessen, ihn wieder anzulegen. Ihre Sichtweise ist also: Entweder spielt Ihre Herz-allerliebste sich auf, um Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, oder sie überreagiert.

Aber jetzt wollen wir einmal kurz die Perspektive wechseln und schauen, wie Ihre Frau das sieht. Vielleicht sind Eheringe für sie ein sehr wichtiges und sichtbares Symbol der Liebe? Wenn Sie Ihren Ehering vergessen, ist ihre Realität: »Mein Mann hat mich vergessen oder liebt mich nicht mehr.« Und wer weiß, vielleicht wird dieser Gedanke durch negative Erinnerungen noch verschlimmert. Womöglich war sie schon einmal verheiratet; eines Tages kam sie nach Hause, ihr Mann war weg, und nur der Ehering lag noch auf dem Tisch, als Symbol dafür, dass alles vorbei war. Deshalb assoziiert Ihre Frau einen Ehering, der vergessen auf dem Tisch liegt, damit, verlassen zu werden.

Sie sehen also, dass sie Ihnen nur deshalb dramatisch vorkommt, weil Sie den Zusammenhang in diesem Moment nicht erkennen; Sie leben beide in verschiedenen Realitäten. Ihre Realität ist: Sie haben vergessen, ein Schmuckstück anzulegen, weil Sie geduscht haben. Die Realität Ihrer Frau dagegen sieht so aus: Sie lieben sie nicht mehr und werden sie verlassen.

Ist die Reaktion dann wirklich noch so überdramatisch? Wie Sie sehen, scheint sie vollkommen angebracht zu sein. Höchstwahrscheinlich würden Sie genauso reagieren, wenn Sie denken würden, Sie würden nicht geliebt und Ihre Frau würde Sie demnächst verlassen.

Wessen Sichtweise entspricht der Wahrheit?

Wenn wir jemanden für dramatisch halten, sagen wir oft zu dieser Person: »Sei doch vernünftig und schau mal, wie es in Wirklichkeit ist.« Doch damit sagen Sie auch, dieser Mensch sollte seine Perspektive an Ihre Perspektive anpassen. Diese andere Perspektive hilft manchmal durchaus, sich besser zu fühlen, aber das heißt nicht, dass Ihre Perspektive bzw. Ihr Verständnis der Realität richtig ist. Perspektive geht immer mit einer subjektiven Wahrheit einher.

 

Agiert jemand so, als wäre eine Situation schlimmer, als Sie meinen, bedeutet das wahrscheinlich, seine Situation ist schlimmer als die Situation, die Sie sich vorstellen. Oder anders ausgedrückt: Diese Person hat einer Situation eine Bedeutung zugemessen, die schmerzvoller ist als die Bedeutung, die Sie ihr zumessen.

Sie sehen also: Wir agieren vollkommen im Einklang mit der Realität, die wir wahrnehmen; wir agieren alle aus unserer persönlichen Wahrheit heraus. Wenn Sie das erst einmal erkennen und akzeptieren, wird Ihr Widerstand nachlassen und Sie können aufhören, die Gefühle des anderen kleinzumachen oder abzuwerten oder ihn für seine Gefühle zu beschämen. Dann sieht es nicht mehr nach Überreaktion aus, und Sie nehmen sein Verhalten nicht mehr so persönlich.

Sagt jemand: »Ich habe keine Lust mehr auf all das Drama in meinem Leben«, dann meint er damit meistens: »Ich habe genug von all den dramatischen Leuten in meinem Leben«, oder: »Ich habe genug von diesen ganzen zwischenmenschlichen Konflikten.« Doch bei Drama geht es nicht um die anderen, sondern um uns selbst. Ich weiß: Wenn ich mit jemandem in Konflikt bin, stehe ich mit mir selbst im Konflikt; dann führe ich gegen mich selbst Krieg. Das gilt für alle Menschen. Wenn wir von Drama umgeben sind, können wir dieses ganze Drama nicht einfach aus unserem Leben herausschneiden, weil wir selbst dieses Drama anziehen.

Und was passiert, wenn wir bestimmte Leute, die immer so dramatisch sind, aus unserem Leben heraushalten? Dann finden andere dramatisch veranlagte Menschen den Weg in unser Leben und füllen den frei gewordenen Platz aus. Das passiert so lange, bis wir erkennen, warum wir Konflikte in unser Leben ziehen. Wir ziehen unterdrückte Aspekte unserer selbst an und erzeugen damit einen Drama-Kreislauf.

Sollten Sie Drama hassen, gehören Sie wahrscheinlich zu den Menschen, die die Gefühle anderer Menschen häufig abwerten und ihnen sagen, sie seien ja so dramatisch, vermutlich weil Sie im Laufe des Lebens gelernt haben, Ihre eigenen Gefühle abzuwerten und diese Erwartungshaltung auch Ihren Mitmenschen auferlegen. Doch selbst wenn Sie sich wünschen, diese Gefühle nicht zu haben, ist es an der Zeit, sie sich einzugestehen und sich nicht mehr dafür zu schämen. Sobald Sie einem Drama gegenüber eine abwehrende Haltung einnehmen, denken Sie bitte immer daran: Niemand überreagiert, auch Sie nicht. Sie agieren immer vollkommen im Einklang mit der Realität, die Sie wahrnehmen. Sie nehmen eine bestimmte Realität so wahr, weil Sie zuvor bestimmte Erfahrungen gemacht haben – Erfahrungen, an die Sie womöglich nicht einmal mehr eine Erinnerung haben.

Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Und wie soll ich mit etwas umgehen, an das ich mich nicht erinnern kann? Darum geht es im nächsten Kapitel, in dem wir genauer darauf eingehen, wie unterbewusste Erinnerungen und Auslöser unser Leben sabotieren und was wir dagegen unternehmen können. Ich werde insbesondere zwei Konzepte vorstellen, die ich persönlich für sehr effektiv halte: die Arbeit mit dem inneren Kind und mit dem menschlichen Schatten.

3. Verdrängtes ins Bewusstsein holen

Wie allgemein bekannt ist, werden Verhaltensweisen dem Unterbewusstsein in der formativen Periode zwischen Schwangerschaft bis hin zu einem Alter von acht Jahren einprogrammiert. Diese unterbewussten Programme prägen uns fürs Leben und sind auf das Beobachten von und Interagieren mit unseren primären Bezugspersonen in der Kindheit zurückzuführen, nämlich Eltern, Geschwister, Lehrer und Lehrerinnen, die Gemeinde und die Kultur. Leider kommen viele unserer Selbstwahrnehmungen in dieser formativen Periode als einschränkende Überzeugungen daher, mit denen wir uns selbst sabotieren. Noch stärker wirkt sich allerdings unser Fühlen dieser prägenden Erfahrungen auf uns aus.

Wie Emotionen aus der frühen Kindheit uns an die Vergangenheit binden

In unserer Kindheit war unser Geist und Verstand noch nicht voll entwickelt und wir haben die Welt weniger über unsere Gedanken als vielmehr über unsere Gefühle erfahren. Noch bevor wir die Welt sahen oder eine Vorstellung davon hatten, dass wir in einer Welt leben, haben wir diese Welt gefühlt.

Wir sind auf diese Erde gekommen, um uns selbst weiterzuentwickeln, in dem Wissen, dass sich dadurch auch die Menschheit kollektiv weiterentwickeln würde. Als wir in dieses Leben traten, übernahmen wir die Bewusstseinsebene unserer Eltern, um deren Bewusstsein und im weiteren Rahmen auch das Bewusstsein unserer gesamten Abstammungslinie weiterzuführen.

Das ist einer der Gründe, warum unsere eigenen kognitiven Gehirnfunktionen erst im Alter von etwa acht Jahren voll entwickelt sind. Die frühen Jahre davor verbringen wir hauptsächlich damit, Überzeugungen und Erfahrungen aus unserer Familie und unserer Kultur »herunterzuladen«. In dieser Zeit fühlen wir in erster Linie reaktiv, können also schmerzhafte Emotionen nicht wegdenken oder wegrationalisieren. Wenn unsere Traumata nicht aufgelöst werden, werden sie zu Verletzungen, die wir auch als Erwachsene noch mit uns herumtragen.

Spiegelbilder unserer selbst

Ist der kognitive Verstand erst einmal ausgebildet, können wir rational denken, was immer uns logisch und sinnvoll erscheint. Wenn Sie rational begründen könnten, warum Ihr Vater Sie im Alter von vier Jahren verlassen hat, würde Ihnen das kein so furchtbar schlechtes Gefühl machen. Wenn wir uns also aus unseren Gefühlen wegdenken könnten, hätten wir von unseren wichtigsten Bezugspersonen gar nicht erst Probleme und Themen »heruntergeladen«, die gelöst werden müssen.

Die Tatsache, dass wir im Alter von etwa acht Jahren die Fähigkeit entwickeln, rational und vernünftig zu denken, hat gravierende Auswirkungen, denn es impliziert, dass wir, wenn wir älter als acht Jahre sind, keine neuen emotionalen Traumata erleben. Das ergibt für Sie vielleicht keinen Sinn, denn als Ihre erste große Liebe Ihnen als Teenager oder in Ihren Zwanzigern das Herz brach, haben Sie darunter wahrscheinlich sehr gelitten, oder der Verlust Ihres Ehemanns mit vierzig hat Sie sehr geschmerzt.

Sage ich hier wirklich, all die Schmerzen, die Sie seit Ihrem achten Lebensjahr empfunden haben, wären nicht real oder nicht traumatisch? Nein, keineswegs. Vielmehr sage ich: Das Trauma, welches Sie durch den Verlust Ihres Ehemannes oder Ihrer Ehefrau erlebten, war ein Spiegelbild einer früheren Verletzung.

Im Beispiel einer Frau, die sehr stark unter dem Verlust ihres Mannes leidet, könnte das vielleicht darauf zurückzuführen sein, dass ihr Vater die Familie verlassen hat, als sie selbst vier Jahre alt war.

Das bringt uns zu der Erkenntnis, dass die Emotionen, die sie wegen des Verlusts ihres Ehemanns empfindet, eigentlich den Verlust des Vaters in der Kindheit widerspiegeln: Das war eine nicht verheilte Verletzung, die im Verlust des Ehemanns erneut zum Ausdruck kam; sie hofft im Grunde ihres Wesens immer noch, die alte, nicht verheilte Verletzung zu integrieren.

Dies ist ein Beispiel, welches klar aufzeigt, warum wir in den Completion Process mit folgendem Mantra einsteigen müssen: Wenn etwas wehtut, wenn wir draufdrücken, dann deshalb, weil bereits eine Verletzung existiert. Das heißt keineswegs, dass wir als Erwachsene kein Trauma mehr erleben; aber ein solches Trauma hat oft mit einer tiefer liegenden Grundursache zu tun.

Im Rahmen des Completion Process sollen Traumata aufgelöst werden, egal wie alt Sie waren, als das betreffende Trauma stattfand. Man kann damit beispielsweise eine Posttraumatische Belastungsstörung eines Kriegsheimkehrers beheben. Doch oft stellt sich heraus: Wir arbeiten zwar an einem Trauma, was unserer Meinung nach unseren aktuellen Stress verursacht, aber das eigentliche, wahre Trauma liegt tiefer, und das Trauma, das wir für unseren Stress verantwortlich machen, ist nur ein Spiegelbild eines früher erlebten Traumas. Das Gefühl der Ohnmacht, wenn ein Soldat sich im Krieg in der Schusslinie befindet, könnte beispielsweise das Gefühl der Ohnmacht widerspiegeln, welches dieser Soldat als Kind verspürt hat, während er bildlich gesprochen in der Schusslinie zwischen seinen Eltern stand, als diese sich scheiden ließen.

Fällt es Ihnen schwer, dieses Konzept anzunehmen? Dann möchte ich Sie bitten, vorerst mit Ihrem Urteil noch zu warten, diesen Prozess einfach auszuprobieren und dann aufgrund der direkten Erfahrung mit dem Completion Process ein Urteil zu fällen.

Wenn wir in diesen Prozess einsteigen, stellen Sie sich bitte vor, Ihre unangenehmen Emotionen von heute seien Seile, die Ihr heutiges Selbst an Ihre traumatischen Erinnerungen binden. Wenn Sie heute auf etwas emotional stark reagieren, heißt das, Ihr Trauma aus der Vergangenheit wurde getriggert und möchte integriert werden. Wir können dann die Emotion, die jetzt hochkommt, dazu nutzen, den Aspekt in Ihnen zu finden, der zurückgewiesen (und damit unterdrückt) wurde, ob das nun ein Persönlichkeitszug, eine Überzeugung, eine Erinnerung oder ein Gefühl ist. Sie finden und fühlen ihn, integrieren ihn dadurch wieder in ihr derzeitiges Gewahrsein und werden so wieder ganz. Auf dieser Prämisse baut der Completion Process auf.

Die Arbeit mit dem inneren Kind

Als Erwachsene meinen wir, unsere Kindheit sei zu Ende, aber das stimmt nicht. Unser kindliches Selbst bleibt in uns lebendig. Seine Wahrnehmungen und Überzeugungen wirken sich auf unser heutiges Denken, Fühlen und Handeln aus. Als Kind sind wir in den Schmerzen unserer Erfahrungen gefangen, ohne zu wissen, wie wir sie assimilieren oder heilen können. Wir konnten zu diesem Zeitpunkt nicht in unserer Ganzheit weiterleben. Und so stecken alte Gedanken, Gefühle und Erfahrungen in uns fest. Viele Menschen überleben und funktionieren von einem Tag zum nächsten, indem sie diesen Schmerz ignorieren.

In manchen Fällen werden die Gefühle so schmerzhaft, dass wir, um überhaupt funktionsfähig zu sein, den Teil, der diesen bestimmten Schmerz zuerst erlebt hat, ablehnen und zurückweisen. Im Wesentlichen haben wir als Kind unser inneres Selbst begraben –ein Bewältigungsmechanismus, der uns damals sehr dienlich war, aber letztendlich kann uns dieses Unterdrücken des Schmerzes das Leben kosten. Dieser Schmerz, an dem wir festhalten, kann nur geheilt und assimiliert werden, wenn wir bereit sind und den Mut haben, unsere Aufmerksamkeit zurück auf das Kind zu richten, welches in der Zeit erstarrt ist. Wir müssen uns anhören, was uns dieses Kind zu sagen hat, und dieses innere Kind so lieben, wie es damals hätte geliebt werden müssen.

Jeder von uns, egal wie liebevoll oder lieblos wir aufgewachsen sind, trägt in sich die Essenz des Kindes, das er oder sie einst war. Ein Teil von uns wurde erwachsen, doch der andere Teil blieb ein Kind. Dieses innere Kind steht symbolisch für unser emotionales Selbst. Ihr erwachsener Anteil wurde erwachsen, obwohl er als Kind nicht das bekam, was er brauchte. Und dieser erwachsene Anteil hält den Schlüssel zur Heilung in der Hand.

Warten wir darauf, dass jemand anderes liebevoll diesen unterentwickelten Anteil in uns »bemuttert« und erzieht, dann bleiben wir für immer emotionale Waisenkinder. Wenn wir darauf warten, dass jemand anderes den Teil in uns rettet, der gerettet werden muss, bleiben wir für immer ohne Macht und Kraft. Und solange wir darauf warten, dass jemand anderes sich um die Teile in uns kümmert, die dieser Fürsorge bedürfen, werden wir nie geheilt werden.

Am besten unterstützen Sie Ihren Heilungsprozess, indem Sie sich bewusst um Ihr inneres kindliches Selbst kümmern, welches nach wie vor da ist. Sie müssen sich heute das geben, was Sie früher von anderen nicht bekommen haben. Die Arbeit mit dem inneren Kind wird seit vielen Jahren zur Selbsthilfe und in der Psychologie als Grundlage und Technik genutzt, die unser Leben von Grund auf verändern kann. Doch leider kannten wir ein paar entscheidende Komponenten noch nicht. Der Completion Process hebt die Arbeit mit dem inneren Kind auf die nächste Ebene und zeigt, dass sie viel mehr als eine seltsame Selbsthilfetechnik ist.

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