Nach Hause kommen zu sich selbst

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Ich erinnere mich nicht, wie die anderen Frauen auf meinen Versuch der Aufrichtigkeit reagierten. Vielleicht waren sie mitfühlend oder erkannten ähnliche Gefühle auch in sich selbst. Ich war zu sehr in meiner Scham gefangen, um es zu bemerken. Ich verließ das Treffen, so schnell ich konnte, ging in mein Zimmer, rollte mich auf meinem Bett zusammen wie ein Baby und weinte.

Das laute Aussprechen meiner Erfahrung vor den anderen hatte meinem kleinen Selbst seine Schutzschicht genommen. Ich fühlte mich wund und schutzlos und fing an, mich innerlich dafür zu beschimpfen, dass ich etwas gesagt hatte. Wie könnte ich morgen irgendjemandem ins Gesicht schauen? Ich sagte mir, ich sollte sofort aufstehen und Yoga machen. Aber stattdessen begann ich nachzuspüren, was eigentlich wirklich schiefgelaufen war, dass ich mich so schlecht fühlte.

Plötzlich wurde mir klar, dass dieser innere Prozess nur eine weitere Wiederholung war. Ich versuchte immer noch, die Dinge in den Griff zu kriegen, indem ich darüber nachdachte, indem ich mehr übte, indem ich zu beeinflussen versuchte, wie mich die anderen sehen. Als ich diese falschen Zufluchten erkannte, hielt ich abrupt inne. So wollte ich nicht weitermachen.

Eine innere Stimme fragte: »Was würde geschehen, wenn ich jetzt nicht versuchen würde, etwas zu ändern?« Ich spürte sofort die Angst in meinem Körper und dann das vertraute Versinken in Schamgefühlen – genau den Gefühlen, die ich, seit ich denken kann, zu vermeiden versuchte. Aber in dem Moment flüsterte dieselbe innere Stimme ganz leise einen vertrauten Refrain: »Let it be. (Lass es zu.)«

Ich legte mich lang auf den Rücken, atmete ein paarmal tief durch und spürte, wie das Gewicht meines Körpers von dem Futon getragen wurde. Wieder und wieder versuchte mein Verstand, zu entwischen, indem er wiederholte, was ich Stunden zuvor gesagt hatte, oder ausprobierte, was ich sonst noch sagen könnte, um mich zu erklären. Wieder und wieder brachte mich die Absicht »Lass es zu« zurück zu der Angst und der Scham in mir. Während ich die Nacht so allein in der Dunkelheit lag, wurde aus diesen Gefühlen manchmal auch Kummer. Ich war erschüttert, wie viel von meinem Leben – meiner Lebendigkeit, meinem Lieben – verloren ging, wenn ich mich in meinen Gefühlen der Minderwertigkeit verlor. Ich öffnete mich alldem ganz, tief schluchzend, bis der Kummer nach und nach verebbte.

Ich stand auf, setzte mich auf mein Meditationskissen vor meinem kleinen Altar und war weiterhin aufmerksam. Mein Geist kam auf natürliche Weise zur Ruhe und ich wurde mir mehr und mehr meiner inneren Erfahrung bewusst – einer stillen, von Zartgefühl durchdrungenen Präsenz. Diese Präsenz war ein Seinszustand, der alles einbezog: die Wellen der Traurigkeit, das Gefühl meiner trocknenden Tränen, den Gesang der Grillen, die schwüle Sommernacht.

In diesem offenen Zustand tauchten wieder Gedanken auf – die Erinnerung an meine Abwehr bei der Arbeitsbesprechung und meine Versuche einer echten Entschuldigung, dann mein Yoga-Unterricht am nächsten Morgen, wo ich versuchte, eine positive, zuversichtliche Energie auszustrahlen. Während ich mir diese Szenen ansah, fühlte ich mich, als würde ich einer Schauspielerin in einem Stück zusehen. Die Schauspielerin versuchte ständig, sich zu schützen, und trennte sich dabei mehr und mehr von sich selbst, von ihrer Authentizität und von der Möglichkeit, sich durch die Verbindung zu anderen unterstützt zu fühlen. Und in jeder Szene sah ich, wie sie immer etwas »tat«, um sich besser zu fühlen, etwas »tat«, um keinen Schmerz zu spüren, etwas »tat«, um Versagen zu vermeiden.

Während ich da saß und diesem Spiel zusah, hatte ich zum ersten Mal das durchdringende Gefühl, dass ich das nicht wirklich bin. Die Gefühle und Reaktionen dieser Schauspielerin waren mir sehr vertraut, doch sie bildeten nur die Wellen auf der Oberfläche dessen, was ich wirklich bin. Genauso war alles, was in diesem Moment geschah – die Gedanken, die Körperempfindungen des Sitzens auf dem Meditationskissen, die Empfindlichkeit, die Erschöpfung –, Teil von mir, doch es definierte mich nicht. Mein Herz öffnete sich. Wie traurig, so lange in einer derart begrenzten Welt gelebt zu haben, wie traurig, mich so getrieben und einsam gefühlt zu haben!

Trance und Erwachen sind beide natürlich

Wenn wir in Trance sind und uns in einer Emotion wie Angst, Scham oder Ärger verfangen haben, weiß unsere innere Intelligenz, dass etwas nicht im Lot ist. Eine Zeit lang, möglicherweise sogar jahrzehntelang, denken wir vielleicht irrtümlicherweise, »etwas stimmt mit mir nicht« oder »etwas stimmt nicht mit der Welt« und wir müssten unsere Unvollkommenheiten reparieren und uns irgendwie vor Fehlschlägen schützen. Allmählich oder plötzlich erkennen wir dann die eigentliche Ursache des Problems in unserer fehlgeleiteten Wahrnehmung unserer Selbst. Wir erkennen, dass wir in der Identität eines kleinen, isolierten, mangelhaften Selbst gelebt haben. In diesem Moment des Erkennens mögen wir versucht sein, einer weiteren Täuschung zu unterliegen: »Mit mir stimmt etwas nicht, weil ich immer wieder in diese Trance verfalle.« Doch mit jedem Erwachen von Bewusstheit, mit jedem Gewahrsein und Zulassen dessen, »was geschieht«, löst sich unsere eingeengte Identität weiter auf, und wir entspannen uns mehr in unsere natürliche Ganzheit hinein.

In jener Nacht an meinem Altar fiel ein altes Selbstbild von mir ab. Aber wer war ich dann? In jenen Augenblicken spürte ich, dass sich die Wahrheit dessen, was ich war, nicht in einer Idee oder einem Bild meiner selbst erfassen ließ. Sie lag vielmehr in dem Zustand der Präsenz selbst – in der Stille, der wachen Offenheit –, die sich wie Heimat anfühlte. Mich durchflutete ein Gefühl der Dankbarkeit und Ehrfurcht, das mich seitdem nie wieder ganz verlassen hat.

Seitdem habe ich von vielen Wegen des Erwachens erfahren, und zu den meisten von ihnen gehört ein formelles oder informelles Aufmerksamkeitstraining. Eine Freundin von mir lernte in einem Malkurs, jenseits aller Ideen von »Bäumen« oder »Wolken« in eine geheimnisvolle Welt sich ständig wandelnder Formen, Schattierungen und Essenzen zu schauen. Sie erklärte: »Statt als Beobachterin eine bestimmte Art von Baum zu sehen, war da einfach diese subjektive Innigkeit lebendiger Strukturen, Farben … Ich war Teil eines Tanzes der Lebendigkeit.« Eine Mutter berichtete, wie sich ihr Gewahrsein nach einem Kurs zum Dialog mit Jugendlichen veränderte. Während sie ihrer Tochter zuhörte, löste sie sich bewusst von ihren Vorstellungen darüber, wie ihre Tochter sein sollte, und ließ einfach den Klang ihrer Stimme und den Blick aus ihren Augen auf sich wirken und spürte nach, was das Herz ihrer Tochter wohl mitteilen wollte. Dieses wertfreie Zuhören erweiterte auch ihr eigenes Selbstgefühl: »Ich war nicht mehr in der Rolle der kritischen Mutter gefangen – endlich ein frischer Wind!«

Eine regelmäßige Meditationspraxis ist der zuverlässigste Weg, unsere Aufmerksamkeit darin zu schulen, die Trance zu bemerken – das Auftauchen der vertrauten, tiefsitzenden Geschichten von Schuld und Versagen, von alten Ängsten, Ärger oder Depression. In den folgenden Kapiteln zeige ich, wie wir uns darin üben können, immer wieder zur Präsenz zurückzukehren, und wie die Erkenntnis dessen, wer wir sind, uns immer bewusster werden lässt. Im Laufe der Zeit werden wir immer schneller erkennen, wann wir uns in der Trance verloren haben, und wir werden wissen, dass die Anschuldigung unserer selbst oder anderer oder der Welt oder das Streben nach Kontrolle oder Perfektion kein Ausweg sind. Das Leiden der Trance wird uns vielmehr daran erinnern, in den gegenwärtigen Moment heimzukehren und uns mit der umfassenderen Wahrheit dessen, was wir sind, zu verbinden.

Die Erfahrung, zu unserem wahren Selbst zu erwachen, ist schwer zu beschreiben. Der indische Lehrer Sri Nisargadatta sagt dazu: »… in der Erkenntnis fühlen Sie sich vollständig, erfüllt, frei … und doch nicht immer fähig, zu erklären, was passiert ist … Sie können es nur in negativen Begriffen ausdrücken: ›Mit mir ist nichts mehr verkehrt.‹« Wenn sich die Schleier der Trance lüften, erleben wir immer noch, wie die Freuden und Nöte, die Hoffnungen und Ängste unseres kleinen Raumanzug-Selbst kommen und gehen, aber wir definieren uns nicht mehr über sie. Wir nehmen die Dinge nicht mehr so persönlich, wir meinen nicht mehr, dass »mit uns etwas nicht stimmt«. Stattdessen fangen wir an, der Unbefangenheit und Güte jenes Wesens zu trauen, das unsere Trance uns nicht erkennen ließ. Wir erleben dies als eine enorme Erleichterung und einen Geschmack von Freiheit.

Geführte Meditation

Herzensgüte – Freundliche Zuwendung zu sich selbst

Die Meditation der Herzensgüte (das Pali-Wort Metta bedeutet »Freundschaft, liebevolle Zuwendung« und wird auch oft mit »liebende Güte« übersetzt) ruft uns unsere Verbundenheit mit allem Leben ins Bewusstsein. Sie beginnt in der Regel mit einer fürsorglichen Hinwendung zu uns selbst. Diese einfache Praxis ist ein direkter und kraftvoller Weg, aus der Trance zu erwachen. Indem wir uns selbst mit Freundlichkeit betrachten, fangen wir an, die Identität eines isolierten, mangelhaften Selbst aufzulösen. Dies erzeugt die Grundlage dafür, auch andere mit bedingungslos liebendem Herzen einzubeziehen (siehe auch »Herzensgüte – Hinter die Fassade schauen« am Ende von Kapitel 12).

Setzen Sie sich bequem an einen ruhigen Ort und entspannen Sie die Bereiche Ihres Körpers, die sich angespannt anfühlen. Nehmen Sie sich etwas Zeit, um im Herzen den Atem zu spüren: Einatmend spüren Sie, wie Sie Wärme und Energie empfangen, ausatmend spüren Sie, wie Sie sich in eine Offenheit hinein entspannen.

 

Beginnen Sie, sich selbst flüsternd oder in Stille Gebete der Herzensgüte zu widmen. Wählen Sie zu Anfang Ihrer Praxis vier oder fünf Sätze, die Ihnen etwas bedeuten. Die folgenden Sätze sind Anregungen dazu:

• Möge ich mit Herzensgüte erfüllt sein; möge ich von Herzensgüte umfangen sein.

• Möge ich sicher und unbeschwert sein.

• Möge ich vor inneren und äußeren Gefahren geschützt sein.

• Möge ich glücklich sein.

• Möge ich mich so annehmen, wie ich bin.

• Möge ich tiefen, natürlichen Frieden erfahren.

• Möge ich die natürliche Freude des Lebendigseins erfahren.

• Möge ich in meinem eigenen Sein wahre Zuflucht finden.

• Mögen mein Herz und mein Geist erwachen; möge ich frei sein.

Öffnen Sie sich, während Sie die einzelnen Sätze wiederholen, für die Bilder oder Gefühle, die die Worte hervorrufen. Gehen Sie diese Meditation als Experiment an, spüren Sie, welche Worte und Bilder Ihr Herz am wirksamsten erweichen und öffnen. Probieren Sie, ob es Ihre Erfahrung der liebevollen Zuwendung zu Ihnen selbst vertieft, wenn Sie sanft eine Hand auf Ihr Herz legen.

Nehmen Sie sich dafür so viel Zeit, wie Sie mögen. Bieten Sie sich selbst diese Sätze an und lassen Sie sie in sich nachklingen. Bleiben Sie zum Ende der Meditation eine Weile ruhig sitzen und achten Sie auf die Gefühle in Ihrem Körper und in Ihrem Herzen. Ist da ein neues Empfinden von Raum und Feinfühligkeit oder Zartgefühl? Fühlen Sie sich mehr in sich selbst zu Hause?

Im Laufe des Tages:

Je mehr Sie sich daran erinnern, sich selbst mit Freundlichkeit zu betrachten, desto leichter werden Sie Verbindung und Freiheit von der Trance erfahren. Sie können das überall üben. Beim Gehen, beim Autofahren, bei jeder alltäglichen Tätigkeit können Sie sich selbst Sätze liebender Güte zukommen lassen.

Wenn Sie beunruhigt oder aufgeregt sind:

Die Gebete der Herzensgüte können sich unpassend und künstlich anfühlen, wenn wir in die Fänge der Angst, Scham oder Verwirrung geraten sind. Manchmal scheint durch sie noch prägnanter zu werden, wie schlecht und minderwertig wir uns fühlen. Beziehen Sie diese Reaktionen ohne Beurteilung in Ihre Meditation mit ein: »Möge auch dies von liebevoller Güte umfangen sein.« Fahren Sie dann einfach mit Ihrer Meditation fort und akzeptieren Sie alle Gedanken oder Gefühle, die sich zeigen.

Wenn die Worte mechanisch scheinen:

Sorgen Sie sich nicht, wenn Sie merken, dass Sie die Worte einfach nur hersagen. Das Herz öffnet und schließt sich nach eigenen, natürlichen Rhythmen. Entscheidend ist Ihre Absicht, Herzensgüte zu erwecken.

3
Meditation – Der Weg zur Präsenz

Kann ich irgendetwas tun, um Erleuchtung zu erlangen?

So wenig, wie du dafür tun kannst,

dass die Sonne morgens aufgeht.

Was nützen dann die spirituellen Übungen, die ihr empfehlt?

Sie sorgen dafür, dass du nicht schläfst,

wenn der Sonnenaufgang beginnt.

Anthony de Mello

Wendest du dich regelmäßig dir selbst zu?

Rumi

Jeff war sich sicher, dass er seine Frau Arlene nicht mehr liebte und seine Ehe nach sechsundzwanzig Jahren nicht mehr zu retten sei. Er wollte sich von dem Druck befreien, sich ständig beurteilt und als mangelhaft bewertet zu fühlen. Arlene hingegen fühlte sich verletzt und war wütend, weil Jeff ihrer Ansicht nach jeglicher echter Kommunikation oder emotionaler Nähe aus dem Weg ging. Als allerletzten Versuch überredete sie ihn, zu einem von ihrer Kirche organisierten Wochenend-Workshop für Paare zu gehen. Zu ihrer beider Überraschung entstand dabei in ihnen wieder ein Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame Zukunft. Sie nahmen die Botschaft mit: »Liebe ist eine Entscheidung.« Die Workshopleiter hatten erklärt, Liebe sei zwar nicht immer spürbar, aber immer verfügbar, wenn wir uns entscheiden, sie zu erwecken.

Doch zurück in ihrem Alltag der alten Angriffs- und Verteidigungsmuster, schien die »Entscheidung für die Liebe« nur noch als unwirksamer intellektueller Schachzug. Entmutigt kam Jess zu einer Beratungssitzung zu mir. »Ich weiß nicht, wie ich von A nach B kommen kann«, erklärte er mir. »Gestern zum Beispiel waren wir zusammen. Mein Verstand riet mir, mich für die Liebe zu entscheiden, aber es bewirkte nichts – mein Herz war verschlossen. Arlene beschuldigte mich für irgendetwas, und ich wollte nur noch weg von ihr!«

»Betrachten wir noch mal, was da gestern passierte«, schlug ich vor. Ich lud ihn ein, seine Augen zu schließen, sich die Situation wieder zu vergegenwärtigen und dann seine Ansichten über Richtig und Falsch loszulassen. »Erlauben Sie sich, einfach zu erfahren, wie es sich in Ihrem Körper anfühlt, wenn Sie sich beschuldigt fühlen und wegwollen.« Jeff saß still, doch sein Gesicht zog sich zu einer Grimasse zusammen. »Bleiben Sie dabei, die Gefühle zuzulassen«, ermutigte ich ihn, »und finden Sie heraus, was sich daraus entfaltet.«

Allmählich entspannte sich sein Gesicht. »Jetzt fühle ich mich festgefahren und traurig«, meinte er. »Wir verbringen so viel Zeit damit, uns so zu verstricken. Ich ziehe mich zurück, oft ohne dass ich es bemerke, und das verletzt sie. Dann regt sie sich auf … und dann ist mir sehr bewusst, dass ich wegwill. Es ist traurig, sich so festgefahren zu haben.«

Er schaute zu mir auf, und ich nickte verständnisvoll. »Wie wäre es, Jeff, wenn Sie, statt sich diesen Begegnungen zu entziehen, ihr genau sagen könnten, was Sie innerlich erleben?« Und ich fügte hinzu: »Und wenn auch sie Ihnen, ohne Sie anzuschuldigen, von ihren Gefühlen erzählen könnte?«

»Dazu müssten wir wissen, was wir fühlen!«, erwiderte er mit einem schwachen Lachen. »Meistens sind wir zu sehr damit beschäftigt, zu reagieren.«

»Genau«, bestätigte ich. »Sie müssten beide darauf achten, was in Ihnen vor sich geht. Und das widerspricht unserer Konditionierung. Wenn wir emotional erregt sind, verlieren wir uns in unseren Geschichten darüber, was gerade passiert, und verfangen uns in reflexartigem Verhalten – wie Anschuldigungen oder Flucht. Um unseren Konditionierungen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, müssen wir üben, aufmerksam zu sein.«

Ich erklärte ihm, wie die Praxis der Meditation unsere Fähigkeit zur Präsenz, zum direkten Kontakt mit unserer gegenwärtigen Erfahrung stärkt. Das schenkt uns mehr Spielraum und Kreativität, auf die gegebenen Umstände einzugehen, statt einfach nur zu reagieren. Ich lud ihn und Arlene zu meinem wöchentlichen Meditationskurs ein, und er sagte gleich zu. Am nächsten Mittwochabend waren beide da, und einen Monat später kamen sie zu einem Meditations-Wochenende, welches ich leitete.

Einige Wochen nach dem Retreat unterhielten wir drei uns kurz nach dem Kurs. Arlene erzählte, dank ihrer Meditationspraxis seien sie dabei, zu lernen, sich für die Liebe zu entscheiden. »Wir müssen uns immer und immer wieder für die Präsenz entscheiden«, berichtete sie. »Wir müssen uns für Präsenz entscheiden, wenn wir wütend sind; Präsenz, wenn wir keine Lust haben, zuzuhören; Präsenz, wenn wir alleine sind und uns immer wieder dieselben alten Geschichten erzählen, wie verkehrt der andere sei. Diese Entscheidung für Präsenz ist unser Weg, unsere Herzen zu öffnen.« Jeff nickte zustimmend. »Ich habe erkannt, dass es nicht darum geht, von A nach B zu kommen«, fügte er lächelnd hinzu. »Es geht darum, ganz gegenwärtig bei Punkt A zu sein, bei dem Leben in diesem Moment, egal, was passiert. Der Rest ergibt sich dann.«

Die Zuflucht zur Präsenz – die Entscheidung für Präsenz – braucht Übung. Wenn sich »Punkt A« unangenehm anfühlt, ist Dableiben und Spüren das Letzte, wozu wir Lust haben. Statt uns »den Wellen anzuvertrauen«, wollen wir weg, zurückschlagen, uns betäuben, alles andere, nur nicht spüren, was wirklich ist. Doch wie Jeff und Arlene merkten, bleiben wir in falschen Zufluchten klein und abwehrbereit. Nur indem wir unsere Aufmerksamkeit vertiefen und das Leben einfach so sein lassen, wie es ist, können wir wahre Nähe zu uns selbst und anderen erfahren. In den über fünfunddreißig Jahren, die ich Meditation lehre, habe ich erlebt, wie sie unzähligen Menschen geholfen hat, zur Liebe zurückzufinden, emotionales Leiden loszulassen und sich aus Süchten zu befreien. In jedem einzelnen Fall bildete die innere Verpflichtung zur regelmäßigen Meditation die Grundlage zu einer tiefen, wundervollen Transformation von Herz und Geist.

Den Geist trainieren

Wenn wir uns mitten im Dickicht lebenslanger Muster der Unsicherheit oder Anschuldigung befinden, ist es schwer zu glauben, dass Änderung möglich ist. Bis vor Kurzem schien die Wissenschaft diese Skepsis zu bestätigen. Neurologen glaubten, dass unsere grundlegenden Verschaltungen im Gehirn mit dem Erreichen des Erwachsenenalters festgelegt seien und wir unseren zentralen emotionalen Prägungen dann nicht mehr entkommen könnten. Wenn wir die ersten zwei Jahrzehnte unseres Lebens passiv, ängstlich und verwirrt waren, sei es uns bestimmt, so den Rest unseres Lebens zu verbringen. Doch mit Hilfe von Gehirntomografie und anderen Techniken haben die Forscher die dem Gehirn innewohnende Neuroplastizität entdeckt: Während des ganzen Lebens kann sich das Gehirn weiterentwickeln und verändern, und es können neue neuronale Verbindungen entstehen und gestärkt werden. Das heißt, auch wenn wir uns emotional tief verstrickt haben, verfügen wir über die Kapazität, neue Wege zu entwickeln, auf das Leben zu reagieren.

Was immer Sie regelmäßig denken oder tun, wird zur Gewohnheit, zu einer stark konditionierten neuronalen Bahnung im Gehirn. Je mehr Sie darüber nachdenken, was schiefgehen kann, desto mehr ist Ihr Verstand darauf angelegt, Schwierigkeiten zu erwarten. Je öfter Sie verärgert ausfällig werden, desto mehr sind Ihr Körper und Ihr Verstand auf Aggression programmiert. Je mehr Sie darüber nachdenken, wie Sie anderen helfen können, desto mehr werden Ihr Verstand und Ihr Herz zur Großzügigkeit neigen. So wie Gewichtheben Muskeln aufbaut, kann die Ausrichtung Ihrer Aufmerksamkeit Ängste, Feindseligkeit und Abhängigkeit fördern oder Sie zu Heilung und Erwachen führen.

Sie können sich Präsenz wie einen von einer Quelle gespeisten Waldteich vorstellen – klar, still und rein. Weil wir so viel Zeit damit verbracht haben, uns in den Wäldern unserer Gedanken und Emotionen zu verirren, fällt es uns oft schwer, diesen Teich zu finden. Doch wenn wir uns immer und immer wieder hinsetzen und meditieren, wird uns der Weg durch den Wald allmählich vertrauter. Wir erkennen diese Lücke zwischen den Bäumen wieder, wir erinnern uns an diese Wurzel, über die wir schon so oft gestolpert sind, und selbst wenn wir uns im Dickicht verfangen haben, vertrauen wir darauf, dass wir unseren Weg finden werden.

Die regelmäßige Meditationspraxis erzeugt in unserem Geist neue Pfade, die uns heim zu der Klarheit, Offenheit und Leichtigkeit der Präsenz führen. Der Buddha hat viele Strategien gelehrt, diese Pfade zu kultivieren, unter denen die Praxis der Achtsamkeit jedoch eine zentrale Stellung einnimmt. Achtsamkeit ist der bewusste Prozess urteilsfreier Aufmerksamkeit für die sich von Augenblick zu Augenblick entfaltende Erfahrung. Wenn Sie sich in Sorgen um Ihren Kontostand verlieren, bemerkt die Achtsamkeit diese sorgenvollen Gedanken und das damit einhergehende Gefühl der Ängstlichkeit. Wenn Sie sich darin verlieren, auszuprobieren, was Sie einer anderen Person sagen könnten, bemerkt die Achtsamkeit diesen inneren Dialog und – je nachdem – Gefühle der Aufgeregtheit oder Angst. Ohne jeglichen Widerstand erkennt die Achtsamkeit das Kommen und Gehen aller Empfindungen und Gefühle und lässt sie zu. Die meisten tief eingeprägten Gedankenpfade unseres Geistes führen uns vom gegenwärtigen Moment weg. Indem wir unseren Geist bewusst auf das richten, was jetzt gerade passiert, löst die Achtsamkeit diese Konditionierungen auf und lässt uns zu einem frischen, unmittelbaren Empfinden von Lebendigkeit erwachen. So wie ein klarer See den Himmel spiegelt, lässt uns die Achtsamkeit die Wahrheit unserer Erfahrung erkennen.

Die von mir am meisten gelehrte buddhistische Art der Meditation heißt Vipassana, das bedeutet »klar erkennen«. Im Vipassana beginnt der Weg der Achtsamkeit mit Konzentration – einer einsgerichteten Fokussierung der Aufmerksamkeit. Es ist schwer, auf die gegenwärtige Erfahrung zu achten, wenn wir uns in einem ständigen Strom diskursiver Gedanken verlieren. Also sammeln und beruhigen wir den Geist zunächst, indem wir die Aufmerksamkeit auf einen sensorischen Anker richten. Das kann bedeuten, dem Atem zu folgen oder die Körperempfindungen zu scannen oder auf Geräusche zu achten oder immer wieder leise einen Satz zu wiederholen wie »Möge ich glücklich sein« oder »Möge ich friedvoll sein«. Dieser Anker kann dann mit etwas Übung zu einer zuverlässigen Heimat Ihrer Aufmerksamkeit werden. Wie ein guter Freund wird er Ihnen helfen, zu einem Gefühl innerer Ausgeglichenheit und allgemeinen Wohlbefindens zurückzukehren.

 

Der Psychiater und Autor Daniel Siegel hat eine nützliche Metapher dafür gefunden, wie wir während der Meditation ständig abschweifen. Stellen Sie sich Ihr Gewahrsein als ein großes Rad vor. An der Nabe des Rades ist die Präsenz, und von dieser Nabe erstrecken sich zahllose Speichen zum äußeren Reifen. Ihre Aufmerksamkeit ist darauf konditioniert, sich an den Speichen entlang von der Präsenz weg zum äußeren Reifen hin zu bewegen und sich ständig an neue Teile dieses Reifens anzuheften. Überlegungen zum Abendessen gehen in Erinnerungen an ein schwieriges Gespräch über, fließen weiter in Selbstbezichtigungen, ein Lied im Radio, die Rückenschmerzen, ein Gefühl der Angst. Oder Ihre Aufmerksamkeit verliert sich in zwanghaftem Denken, welches endlos um Geschichten und Gefühle darüber kreist, was alles verkehrt ist. Wenn Sie nicht mit der Nabe verbunden sind, wenn Ihre Aufmerksamkeit an den Reifen geheftet ist, sind Sie von Ihrer Ganzheit abgeschnitten und leben in Trance.

Eine vorgewählte Heimatstation, ein eingeübter Anker wie der Atem ermöglicht es Ihnen, zu bemerken, wenn Sie nicht präsent sind, und leichter den Weg zurück zur Nabe zu finden. Ich nenne diesen Teil der Praxis »Zurückkommen«. Wenn Sie wieder an der Nabe sind, hilft Ihnen der Anker, den Geist zu beruhigen. Unabhängig davon, wie oft Ihre Aufmerksamkeit zu irgendwelchen Fantasien oder Erinnerungen auf dem Reifen abschweift − Sie kehren immer wieder sanft zu der Nabe zurück und verwurzeln sich wieder in der Präsenz.

Je mehr Ihre Aufmerksamkeit zur Ruhe kommt, desto mehr werden Sie spüren, wie sich die Grenzen der Nabe aufweichen und öffnen. Diese Phase der Praxis nenne ich »Hier sein«. Sie sind weiterhin mit Ihrem Anker verbunden, können jedoch gleichzeitig die sich ständig verändernden Erfahrungen auf dem Reifen zulassen – das Geräusch des bellenden Hundes, den Schmerz in Ihrem Knie, den Gedanken darüber, wie lange Sie jetzt noch meditieren wollen. Statt sich an diese Erfahrungen anzuheften oder sie wegzudrängen, lassen Sie sie frei kommen und gehen. Natürlich wird sich der Geist trotzdem manchmal auf dem Reifen verlieren, und dann bemerken Sie das und kehren sanft zur Nabe zurück. Es ist natürlich, dass die Praxis ständig zwischen »Zurückkommen« und »Hier sein« hin und her fließt.

Je mehr Sie sich in der wachen Stille im Zentrum des Rades aufhalten und alles, was geschieht, mit Achtsamkeit aufnehmen, desto runder, wärmer und heller wird die Nabe der Präsenz. In den Momenten, wo es keine Kontrolle der Erfahrung mehr gibt – wenn die Achtsamkeit frei von allem Bemühen ist –, sind Sie ganz in die Präsenz eingetaucht. Nabe, Speichen und Reifen schweben alle in lichtem, offenem Gewahrsein.

~ Sich erinnern, worauf es ankommt ~

Heutzutage werden so viele verschiedene Arten von Meditation und Kontemplation angeboten, dass sich so mancher sorgt, ob er auch die »richtige« gewählt hat. Doch für das spirituelle Erwachen ist die Aufrichtigkeit Ihrer Absicht viel entscheidender als die genaue Form Ihrer Praxis. Wenn wir mit dem verbunden sind, was uns am meisten am Herzen liegt, sind wir auch ernsthaft bei der Sache. In den buddhistischen Lehren wird die bewusste Anerkennung unseres tiefsten Herzensanliegens »weises Streben« genannt. Vielleicht geht es für Sie um spirituelle Verwirklichung, um umfassenderes Lieben, um das Erkennen der Wahrheit oder um Frieden. Was auch immer es ist, das Bewusstsein dessen, was Ihnen wichtig ist, wird Sie in Ihrer Praxis energetisieren und leiten. Wie der Zen-Meister Suzuki Roshi lehrte: »Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.«

Es ist hilfreich, Ihre Meditation mit einer Besinnung über Ihr Herzensanliegen zu beginnen. Manche Meditierende vergegenwärtigen sich ein allumfassendes Ziel ihrer Meditation, während andere ihren Fokus auf eine bestimmte Absicht für die Meditation an diesem Tag richten. Sie können sich zum Beispiel mit Ihrem Streben nach allumfassender Liebe verbinden oder sich entscheiden, jegliche schwierigen Gefühle, die während der Meditation auftauchen, liebevoll anzunehmen. Sie können nach Wahrheit streben – tatsächlich zu erkennen, was vor sich geht und was wirklich ist –, oder Sie richten sich auf die Absicht aus, Gedanken zu erkennen und loszulassen. Wenn Sie anfangen, Ihr Herz zu befragen, was ihm wichtig ist, befinden Sie sich bereits auf dem Weg zur Präsenz.

~ Eine weise Einstellung kultivieren ~

Falls Sie bereits meditieren, können Sie sich einen Moment Zeit nehmen, um über Ihre allgemeine Haltung zu Ihrer Praxis nachzudenken. Meinen Sie, Sie sollten mehr üben und bessere Ergebnisse erzielen? Scheint es Ihnen zu schwer und Sie haben sich damit abgefunden, es nicht gut zu machen? Nehmen Sie sich zwar die Zeit, gehen die Sache dann aber nur halbherzig an? Freuen Sie sich auf die Meditation? Sind Sie neugierig, was geschehen wird? Sind Sie in Bezug auf Ihre Fortschritte entspannt?

Eine gesunde Einstellung zur Präsenz ist, sie wichtig zu nehmen, ohne zu beurteilen, was sich zeigt. Stattdessen betrachten wir das, was geschieht, mit interessierter, entspannter, freundlicher Aufmerksamkeit. Wenn die Meditation Teil eines Selbstverbesserungsprojekts ist, kann das die Praxis unterminieren. Die meisten Menschen haben eine innere Vorstellung von einer meditativen Erfahrung, die sie »gut« finden (ruhig, offen, klar, liebevoll und so weiter), und verurteilen sich dafür, wenn ihre Gedanken abschweifen oder schwierige Gefühle auftauchen. Doch tatsächlich gibt es keine »richtige« Meditation, und das Bemühen danach nährt nur die Idee eines unvollkommenen, sich ständig abarbeitenden Selbst. Eine Praxis, die sich mit halbherzigen Bemühungen zufriedengibt, stärkt hingegen das Empfinden eines unbeteiligten, getrennten Selbst.

Als der buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh in den 1970er-Jahren im San Francisco Zen Center zu Gast war, fragten ihn die Übenden, wie sie ihre Praxis verbessern könnten. Thich Nhat Hanh war mit sechzehn Jahren ins Kloster gegangen, war ordinierter Mönch und hatte die Schrecken des Vietnam-Kriegs durchgemacht. Ich vermute, die Übenden erwarteten zur Vertiefung ihres spirituellen Lebens strenge Vorschriften. Doch Thich Nhat Hanh antwortete: »Zum einen steht ihr zu früh auf. Ihr solltet später aufstehen. Und eure Praxis ist zu verbissen. Ich habe zwei Anweisungen für euch für diese Woche. Die eine ist, zu atmen, und die andere, zu lächeln.«

Das ist so ein guter Rat! Gehen Sie Ihre Praxis (und Ihr Leben) mit einem hingebungsvollen und gleichzeitig entspannten Herzen an. Es ist möglich, sich ernsthaft zu bemühen, ohne sich zu verspannen. Unabhängig davon, ob Sie Anfänger sind oder schon lange meditieren: Bleiben Sie aufmerksam für eventuell auftauchende Bewertungen. Erlauben Sie Ihrer Erfahrung, so zu sein, wie sie ist. Bewerten ist eine Gewohnheit. Wenn Sie daran denken, sie zu unterlassen, werden Sie sich mit der inneren Gelassenheit und Wahrhaftigkeit verbinden, die Sie auf natürliche Weise in die Präsenz und die Freiheit tragen wird.