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Neun Gedankenspiele

T. F. Carter

Impressum

Copyright: © 2014 T. F. Carter

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1464-4

Vorwort

Kurzgeschichtensammlungen widmen sich häufig einem bestimmten Thema. So gibt es Zusammenstellungen von Liebesgeschichten, Horrorstories, dramatischen Ereignissen, historischen Anekdoten, Fabeln und vieles mehr. Es gibt Veröffentlichungen von ernsten und heiteren, besinnlichen und nachdenklichen Werken – wohlgemerkt, meistens thematisch zusammengehörig.

Was wäre nun aber, wenn eine Sammlung alle diese Aspekte vereinigte? Wenn in einer Sammlung jeweils eine Geschichte zu einem eigenen Thema aufgenommen wäre?

Diese Veröffentlichung enthält neun Geschichten mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen. Ernst oder heiter, zum Schmunzeln oder zum Nachdenken. Es finden sich starke Frauen und politisch vollkommen unkorrekte Männer, listige Tiere und Helden, die gar keine Helden sein möchten. Es wird gelebt und geliebt, gestorben und gemordet und so manch historischer Ablauf vollkommen neu erzählt. Und wer weiß, vielleicht findet sich ja sogar eine neue Methodik darunter, heutige Lehrbücher für die Schule zeitgemäßer zu gestalten.

Ob Horror oder dramatische Liebesgeschichte, historisches Kriegserlebnis oder mythische Satire, Nachdenkliches oder Reiseabenteuer – für jeden ist etwas dabei. So wünsche ich viel Spaß beim Lesen.

T. F. Carter

Inhaltsverzeichnis

Gräben, die verbinden

Traumurlaub

Der schwere Weg zurück

Die Bank im Wald

Der Trojanische Krieg - Management Summary

Troja - Dichtung und Wahrheit

Sonnenuntergang

Ungebetene Hilfe

Lasst Blumen sprechen

Gräben, die verbinden

Freundschaften

Der junge Soldat schaute in den Himmel. Graue Wolken zogen dort vorbei, getrieben von einem unfreundlichen, böigen Wind, ganz anders als gestern, als die Sonne mit der Kraft des frühen Sommers geschienen hatte. Sonne… Wind… Der junge Soldat seufzte auf. Eigentlich mochte er dieses Wetter, nicht zu kühl, nicht zu warm, und insbesondere in der Montur, mit vollem Marschgepäck, wäre ein sonniger, heißer Tag überaus erschöpfend gewesen, zudem motorisierte Kräfte ihnen derzeit nicht zur Verfügung standen und sie zusätzliches Gerät mit sich tragen mussten. Waren sie nicht ein Panzergrenadierregiment? Er musste lachen. Wo waren die Panzer?

Der heutige Marsch diente der Aufklärung. Der Feind hatte sich, von Norden kommend, der Stadt genähert, und es war gelungen, ihn unter Aufbietung aller zur Verfügung stehender Mittel zurückzuschlagen. Nun war sicherzustellen, wo genau die Truppen des Feindes waren. Die eigene Luftaufklärung war nur bedingt aussagefähig, da die andere Seite längst die Lufthoheit besaß.

Vor einem Monat noch hatte Ruhe geherrscht, eine trügerische Ruhe. Der Feind schien weit entfernt, jenseits des Wassers, und so hatte der junge Soldat, bevor er zu seinem Regiment kam, noch einige wundervolle Tage des ausgehenden Frühlings genießen können. Während die Heimat nach und nach in Schutt und Asche versank, während die Armeen des Heimatlandes an zwei anderen Fronten auf einem ständigen Rückzug waren, war hier noch, wie ihnen gesagt worden war, alles unter Kontrolle. Die schweren Geschütze der Küste wären unüberwindbar, niemand hätte eine Chance, hier zu landen, und würde er es doch wagen, würde er in seinem eigenen Blut ertrinken.

Der junge Soldat hatte sich freiwillig gemeldet, nicht in der Begeisterung anderer junger Männer, die der Propaganda Glauben schenkten, dass ihr Opfer das retten würde, was zu zerbrechen drohte. Nein, er hatte sich freiwillig gemeldet, um zu verhindern, dass ihn sein Vater in eine Organisation zwang, der er niemals angehören wollte. Er war noch nicht einmal 18 Jahre alt, aber heute wurde jeder genommen, der einigermaßen geradeaus laufen konnte, wie heimlich und sehr vorsichtig hinter vorgehaltener Hand gespottet wurde. Das Land, aus dem er kam, hatte nicht mehr viele Möglichkeiten.

Sein Vater war außer sich gewesen, als er hörte, dass sein Sohn in die reguläre Armee eingetreten war. „Du bist die Elite!“ hatte er gebrüllt. „Was versteckst du dich in der Zweitklassigkeit? Du musst dort stehen, wo das wirklich Entscheidende geschieht!“

„Und das wirklich Entscheidende geschieht dort, wo du bist?“ hatte der junge Soldat geantwortet.

„Du bist ein Ignorant. Es geht darum, Einfluss zu nehmen. Sich an den richtigen Platz zu stellen. Was wirst du nun? Du bist ein Offiziersanwärter in Feldgrau.“ Der Vater schnaubte geringschätzig.

„Meine Wertigkeit erhöht sich also, wenn ich eine schwarze Uniform trage? Allein durch die Farbe?“

„Wenn du ein kleines Licht bleiben möchtest, dann stelle dich nicht ins Fenster. Diese Politik verfolgst du offenbar.“

„Ich verfolge die Politik, mich selbst im Spiegel betrachten zu können!“

Der Vater hatte vor Empörung Luft geholt, als die Mutter zwischen sie trat und den jungen Soldaten streng musterte: „In welchem Ton wagst du es, mit deinem Vater zu sprechen?“

„Ich spreche mit ihm in genau dem Ton, der der Situation angemessen ist, Mutter!“ Der junge Soldat verneigte sich leicht vor ihr.

Seine Eltern waren Respektspersonen, uralter Adel, elitär und sich ihres Standes bewusst. Sie waren einst verheiratet worden, weil ihre Eltern dies wünschten, und beide hatten sich der Entscheidung gefügt, auch wenn der junge Soldat wusste, dass die Ehe trotz einer beachtlichen Kinderschar keineswegs glücklich war. Er war nicht blind und taub, hatte durchaus die Streitigkeiten zwischen den beiden mitbekommen, ohne dass er wusste, was genau die Gründe der Differenzen waren, und er hatte auch zwei, drei Mal erlebt, wie sein Vater seine Mutter schlug.

Der junge Soldat hatte mit beiden Eltern seine Probleme. Sein Vater war in seinen Augen ein widerlicher Opportunist, jemand, der ausschließlich seinen Vorteil suchte, ohne dass er das, was er vorgab zu sein, auch wirklich war. Seine Mutter war eine strenge Frau, auf Etikette und gutes Benehmen bedacht, die wenig Raum für Herzlichkeit bot. Sie hatte ein fest geprägtes Bild von der Welt, ein Bild von feudalistischen Ordnungen, von Oben und Unten, und dort, wo sie zu sein pflegte, da war Oben. Seine Mutter war ein Anachronismus, mindestens 100 Jahre zu spät geboren, unfähig, neue Gesellschaftsordnungen zu akzeptieren. Trotz allem hätte er sie gerne geachtet, insbesondere wenn sie einmal, ja, nur ein einziges Mal eine klare Position gegen seinen Vater bezogen hätte.

Doch dies blieb aus. Ihm gegenüber, seinen jüngeren Geschwistern gegenüber, der Welt gegenüber trat seine Mutter als die treue Ehefrau auf, die ihren Ehemann in allem, was er tat, bestmöglich unterstützte. Ihn ekelte dieses Verhalten an, und er hatte kaum jemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Es waren gefährliche Zeiten, und man musste einer Person schon überaus vertrauen, wenn man es wagte, bestimmte Gedanken offen zu äußern.

Sein Cousin war jemand, den er hoch schätzte, ein wenig jünger als er selbst, ein freundlicher, offener junger Mann, aber über familiäre Dinge hatten sie eigentlich, obwohl sie zusammen aufgewachsen waren, selten gesprochen. Es gab andere Themen: Spiele, Filme, Sport, später Mädchen… Die Familie war in einer seltsamen Art und Weise thematisch sakrosankt.

Seine Brüder waren zu jung, und es blieb noch seine Schwester, ein jugendliches Mädchen, die sich gerne von Zeit zu Zeit rebellisch und aufmüpfig gab. Der junge Soldat war sich sicher, dass sie eine gute Verbündete sein könnte, denn trotz ihrer übersprühenden Energie war sie ein sehr ernsthafter und freundlicher Mensch. Auch sie zeigte eine deutliche Abneigung ihrem Vater gegenüber, auch sie hatte das eine oder andere Mal Bemerkungen fallen gelassen, dass sie mit der politischen Situation nicht unbedingt übereinstimmte und hatte sich dafür stets schwere Verweise der Eltern anhören müssen. Aber seit einiger Zeit hatte sich eine für den jungen Soldaten schwer zu verstehende Vertrautheit zwischen seiner Schwester und der Mutter herausgebildet. Die beiden Frauen waren eigentlich vollkommen gegensätzlich, und es hatte oftmals viel Streit gegeben, doch nun, seit einigen Monaten, war dies weniger geworden. Seine Schwester stand am Übergang von der Heranwachsenden zur Frau, fand so offenbar andere Themen mit ihrer Mutter. Und so, hatte der junge Soldat beschlossen, fiel nun auch seine Schwester als Gesprächspartnerin aus.

Aber er hatte seine Freunde aus dem Ort, in dem lebten, ein Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, der Junge so alt wie er, das Mädchen ein Jahr älter. Sie waren ungleiche Freunde, er ein Aristokratenspross, die beiden anderen aber Kinder einer Handwerkerfamilie. Die enge Beziehung, die schon seit der Kindheit existierte, wurde von dem Vater des jungen Soldaten abgelehnt, und auch seine Mutter bemühte sich, die Kontakte zu minimieren. Aber sie, die drei Freunde, hatten immer Mittel und Wege gefunden, sich zu treffen, trotz aller Widrigkeiten, selbst in diesem furchtbaren Krieg, der nun schon seit Jahren tobte.

 

Die Situation war bizarr. Seine Familie lebte zeitweise in einem fremden Land, einem Land, das nun feindlich war, das die Armeen seines Landes besiegt und besetzt hatten. Die Familie seiner Freunde musste hart für die Sieger arbeiten, musste immer um ihr Leben fürchten, und so war jeder Tag, den er mit seinen Freunden verbringen konnte, ein gewonnener Tag.

Seine Regierung lehrte ihn, dass seine Freunde minderwertig waren, Abschaum, aber er glaubte nicht daran. Er kannte die beiden, kannte auch andere Menschen aus dieser Umgebung, und manchmal fühlte er sich unter ihnen wohler als unter seinesgleichen, dort, wo alles von geplantem Vorgehen, Etikette und der Propaganda der Regierung bestimmt war. Hier, mit seinem Freund und seiner Freundin, in aller Heimlichkeit, hier konnte er wirklich über alles sprechen.

„Dein Vater wird dich zwingen, in seine Organisation einzutreten“, hatte sein Freund ihm gesagt.

„Ich weiß“, hatte er geantwortet, „und du weißt, dass es das Letzte ist, was ich möchte.“

„Was willst du tun?“ hatte seine Freundin gefragt und schaute ihn mit ihren klaren blauen Augen an.

„Ich weiß es nicht. Es ist… so ausweglos.“

„Ihr werdet den Krieg verlieren“, ergänzte sein Freund.

„Du kannst dafür getötet werden, wenn du das zu laut sagst.“

„Haha“, lachte sein Freund, „es gibt so viele Gründe, weshalb ich sterben könnte. Das ist nur einer mehr.“

„Es ist ein Wunder, dass wir noch leben“, fügte seine Freundin hinzu. „Viele von uns sind fort. Nur unser Ort, er ist noch nicht wirklich berührt. Ein wirkliches Wunder.“

„Ich fürchte“, räusperte er sich, „dass die Situation jetzt erst prekär werden wird, wenn die feindlichen Truppen kommen.“

Längst hatte sich gezeigt, dass die schweren Geschütze an der Küste nicht dort gewesen waren, wo die Landung des Feindes erfolgt war. Längst war aus den anfänglichen Brückenköpfen ein größeres Gebiet geworden, in dem sich die Truppen des Gegners sammelten. Und bald würde der tödliche Stoß gegen sein Land erfolgen. Alle Vorstöße bisher, sie waren nur ein leichter Auftakt dessen, was noch folgen würde.

„Sie werden uns befreien…“

„Wenn ihr nicht vorher noch getötet werdet.“

Die Wahrheit war schmerzhaft, aber die Drei sprachen offen miteinander. Sie hatten sich umarmt und geweint, und dann hatten sie gemeinsam den Entschluss gefasst, er solle sich freiwillig zum Armeedienst melden, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, in die Organisation seines Vaters eintreten zu müssen.

„Er wird Gift und Galle spucken“, hatte er gesagt.

„Oh, das wird er“, hatte sein Freund genickt, „aber es ist der beste Weg.“

„Pass auf dich auf.“ Liebevoll hatte sie ihm über die Wange gestreichelt.

Später, in einem Heuschober, hatten sie sich geliebt, sie und er. Sie waren schon seit längerem ein Paar, heimlich, überaus heimlich. Er liebte sie schon seit seiner Kindheit, und sie liebte ihn. Aus einer Kindheitsbeziehung war echte Liebe entstanden. Würde dies jemals bekannt werden, hätte dies große Schwierigkeiten zur Folge. Beziehungen dieser Art waren nicht gerne gesehen, und sie konnten sogar tödlich enden – für sie in jedem Fall, für ihn möglicherweise auch.

Nun war er bei der Armee, schnell ausgebildet, kaum wirklich bereit für den Kampf, für diesen Krieg, der nicht zu gewinnen war, was auch immer die Regierung sagte. Die feindlichen Armeen waren größer, hatten neue Waffen, waren ausgeruht, brachten immerzu neue Männer heran. Die Armeen seines Landes waren ausgebrannt, abgenutzt, dezimiert. Wie konnte es sein, dass nun 17jährige, ja, sogar 16jährige bewaffnet wurden? Es war ein untrügliches Zeichen, dass das Ende nahte, auch wenn die Armeen seines Volkes immer noch über ein riesiges Gebiet herrschten. Wieviel Zeit haben wir noch? dachte er. Sechs Monate? Zwölf Monate? Wenn die Front, die sie verzweifelt hielten, brach, dann gab es kein Halten mehr.

Ich kämpfe für etwas, hinter dem ich nicht stehe, dachte er. Andererseits gibt es überall Unschuldige, auch bei uns. Unsere Städte werden zerbombt, unschuldige Menschen verbrennen in den Trümmern, alte Männer, Frauen, kleine Babys…

„Ihr erntet das, was ihr gesät habt“, hatte ihm sein Freund dazu gesagt, und er hatte unzweifelhaft Recht. Was hätte er, der junge Soldat, aber tun können? Widerstand leisten? Man hörte von Aktionen gegen die Regierung, die aber stets mit Todesurteilen endeten. Niemand hatte Erfolg. Warum sollte er Erfolg haben? Ihm fehlte der Mut, die letzte Entschlossenheit, im Zweifelsfall auch sein Leben zu opfern, und so – es war nur folgerichtig – kämpfte er nun für die Sache, die er selbst ablehnte.

Es geht um das Überleben deines Volkes! redete er sich ein. Du denkst schon, wie die Propaganda es vorgibt, antwortete er sich selbst. Gut und Böse, Richtig und Falsch, alles war schwierig, nicht mehr greifbar.

Seine Freunde aber, sie konnten nichts dafür, sie hatten nicht die Wahlmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen. Himmel, dachte er, Gott, wenn es einen Gott gibt, beschütze meine Freunde!

Er hatte nach seiner Ausbildung noch ein paar Tage auf dem Landsitz seiner Familie verbringen dürfen, mitten im Feindesland. Und so hatte er auch noch einmal, möglicherweise ein letztes Mal, bei seinen Freunden weilen dürfen. Längst war es nicht mehr zu übersehen, dass seine Freundin hochschwanger war. Im August würde es soweit sein. Der Name des Vaters war nicht genannt worden, aber er fühlte, dass alle in ihrer Familie wussten, dass er es war. Und ihr Vater, ihre Mutter, ihr Großvater hatten ihn wortlos umarmt, als er gekommen war, um sich zu verabschieden, weil er an die Front musste. Die Front, die immer näher kam. Diese Familie hatte ihn umarmt, obwohl er für diejenigen kämpfte, die dieser Familie Tod und Verderben bringen konnten…

Seine Freundin wurde, so gut es ging, vor seinem Vater und vor dessen Schergen versteckt. Sie galt als krank, würde Hausarbeiten machen. Die Ausreden wurden akzeptiert, denn längst waren andere Dinge wichtiger geworden. Wie konnte verhindert werden, dass die feindlichen Armeen den Durchbruch schafften? Alles war auf die Stärkung der Front ausgelegt, so dass die Schwangerschaft eines einzelnen Mädchens vollkommen unwichtig geworden war.

„Möge Gott dich beschützen“, hatte sie ihm gesagt und ihn geküsst.

Er hatte seine Hand auf ihren Bauch gelegt: „Möge unser Kind in eine bessere Welt geboren werden. Möge es das Glück finden, das uns versagt bleibt.“

„Komm zurück“, hatte sie geweint, „ich werde immer auf dich warten.“

„Ich werde immer daran denken…“

Zum Abschied hatte sie ihm ein Foto von sich gegeben, kein besonders gutes, aber es gab nicht viele Fotos, die sie aktuell zeigten. Die Aufnahme wurde ihr nicht gerecht, denn sie sah verhärmt und erschöpft aus, viel älter, als sie eigentlich war, mit dünnen Armen und viel zu dünnen Beinen, einem eingefallenen Gesicht, von Sorge gezeichnet.

Er kannte sie lebensfroh und sportlich. Sie war keine Schönheit im klassischen Sinn, aber sie war intelligent, interessiert, zuverlässig, liebevoll, und als er sie das erste Mal entkleiden durfte, hatte er festgestellt, dass ihr Körper deutlich mehr bot, als er jemals vermutete hatte.

Er liebte sie!

Diese Liebe konnte nicht verhindern, dass er nicht auch mit anderen Mädchen herumgeturtelt hätte, doch sie, sie war die Einzige, die Besondere! Er schämte sich, andere Mädchen besessen zu haben, aber in besonderen Situationen war die Attraktivität dieser anderen Freundinnen eben doch zu überzeugend gewesen... Wenn er zurückkommen sollte, wenn sie noch leben sollte, dann, so schwor er sich, würde es nur sie geben.

Späher

Der junge Soldat blickte sich um. Sein Leutnant stand an der Spitze des Zuges und beobachtete das vor ihnen liegende Feld mit einem Fernglas. Bis zum Horizont waren Felder zu sehen, dazwischen vereinzelte Bäume und kleine Hecken, teilweise mit Steinen verstärkt, ein so typisches Bild dieser Gegend. Es war rau und schön, und überall lauerte die Gefahr…

„Nichts zu sehen“, sagte ein alter Feldwebel. Vielleicht war er Ende zwanzig oder Anfang dreißig, doch das war alt. Viele andere Männer dieses Alters waren nicht mehr bei ihnen. Sie waren gefallen, verkrüppelt oder in Gefangenschaft.

„Sagen das Ihre Augen?“ zischte der Leutnant, selbst Anfang der Zwanziger. Wirklich erfahrene Offiziere wurden rar.

„Meine Augen funktionieren noch sehr gut, Herr Leutnant. Aber mein Bauch rumort.“

„Sie meinen, wir sollten auf ihren Bauch vertrauen?“

„Mein Bauch hat mir das Leben gerettet, als ich im Osten war, Herr Leutnant. Ich habe beim Betreten eines Hauses für einen Moment gezögert, habe noch einmal angehalten, und so verfehlte mich der Scharfschütze. Auch da war nichts zu sehen gewesen. Wir wollen ja auch unsichtbar sein. Die da drüben ebenfalls.“

„Unsichtbar?“ lachte ein Gefreiter. „Das sind so viele. Die brauchen nicht unsichtbar zu sein!“

„Nehmen Sie sich zusammen“, bellte der junge Leutnant und musterte den Gefreiten scharf: „Derartige Äußerungen dulde ich nicht in meinem Zug. Ist das deutlich genug?“

„Jawohl, Herr Leutnant.“

Während der Offizier sich mit seinem Feldwebel austauschte, setzte sich der junge Soldat auf einen Stein neben dem Weg. Vorsichtig tastete er nach dem Foto, das er in der Innentasche über seinem Herzen trug, und zog es heraus, um einen schnellen Blick darauf zu werfen.

„Deine Mieze?“

Er fuhr auf. Einer seiner Kameraden, vielleicht zwei Jahre älter als er, sah ihm über die Schulter.

„Mhm, ja…“

„Und wo hast du sie? Zu Hause?“

Zu Hause… Wo war er zu Hause? In der Hauptstadt seines Landes oder aber auf dem Landsitz hier in diesem feindlichen Land? „Ja“, murmelte er, „weit entfernt.“

„Tja, das sind locker tausend Kilometer oder so. Oder?“

„Ja.“ Es waren viel weniger, aber das musste der Kamerad nicht wissen.

„Und wie ist sie so? Na? Ist sie gut?“

Ist das das Einzige, was dich interessiert? Laut antwortete der junge Soldat: „Sie ist alles, was ich liebe.“

„Oh“, schürzte der Kamerad die Lippen, „dich hat’s aber schwer erwischt. Das ist nicht nur Spaß, was? Das ist Ernst?“

„Sehr Ernst.“ Und wie, grübelte er. Sie bekam sein Kind. Sie lebte in ständiger Todesgefahr.

„Entschuldige, Mann, dass ich so plump gefragt habe, aber hier, na ja, da wird man einfach unsensibler.“

„Das verstehe ich.“

„Hast du schon einen erschossen?“

„Wie bitte?“

„Na hast du einen von denen“, der Kamerad zeigte über die Felder, in die Richtung, wo sie den Feind vermuteten, „mal abgeknallt?“

„Nein“, schüttelte er den Kopf. „Ich bin neu hier. Ich hatte noch keine Feindberührung.“

„Sei froh. Es ist nicht schön.“ Der Kamerad nahm den Helm ab und strich sich über die schweißnasse Stirn. Dann beugte er sich vor und flüsterte: „Ich habe einen im Nahkampf abgestochen. Mit meinem Messer in den Bauch. Er hat gequiekt wie ein Schwein, hat nach seiner Mama gerufen. Sprichst du auch deren Sprache?“

„Ja“, nickte der junge Soldat. „Sehr gut.“

„Ich habe ihn dann erschossen, genau zwischen die Augen, damit er aufhört zu quieken.“

Ich will das nicht hören…

„Weißt du, was komisch ist?“

„Nein.“ Aber leider wirst du es mir gleich sagen, fürchte ich.

„Wir quieken alle gleich.“

Nun war die Aufmerksamkeit des jungen Soldaten geweckt. Vorsichtig richtete er sich auf und musterte den Kameraden: „Wie meinst du das?“

„Eine Mine hat meinem Nebenmann das Bein abgerissen, weißt du? Er hat auch gequiekt.“ Der Kamerad atmete tief durch.

„Du… du wirst die Bilder nicht los?“

„Nein.“ Der junge Mann vor ihm streckte sich. „Aber es geht ums Überleben. Wenn du nicht der Tote sein willst, muss es der von da drüben sein.“ Mit einem Kopfnicken wies der Kamerad wieder über die Felder vor ihnen.

„Weiter!“ drang die Stimme des Leutnants zu ihnen. „Wer hat hier was von Ausruhen gesagt?“

Eilig sprang der junge Soldat auf, bemühte sich, das Bild wieder in die Uniform zu stopfen, und schlug wie in einem Reflex die Hacken zusammen: „Verzeihen Sie, Herr Leutnant.“

„Hmmm, wir sind hier nicht auf dem Exerzierplatz. Achten Sie auf die Umgebung und weniger auf das Knallen ihrer Hacken.“

„Jawohl, Herr Leutnant.“ Er spürte, wie sein Herz schneller pochte und er den Drang unterdrücken musste, erneut die Hacken zusammenzuschlagen. Der Drill während der Ausbildung, obwohl nur kurz und beinahe oberflächlich, zeigte Wirkung. Das kann doch nicht sein! dachte er. Ich möchte nicht so werden wie die Menschen, die ich verachte.

 

„Ausschwärmen“, flüsterte der Feldwebel. „Sichern und in Deckung bleiben.“

Die Männer suchten sich, jeder alleine, einen Weg über das Feld. Es war nicht bestellt, und sie boten eine wunderbare Zielscheibe, säße auf der anderen Seite ein Heckenschütze. Der junge Soldat spähte zu der kleinen Steinmauer in gut 100 Metern Entfernung.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Leutnant zwei weitere Männer die Straße entlangschickte. Geduckt huschten sie ihren jeweiligen Zielen entgegen. Kein Schuss, niemand schoss. Ging es auch diesmal wieder gut?

Atemlos erreichten sie die kleine Steinmauer. Der Kamerad, mit dem er sich unterhalten hatte, streckte sich, um auf die andere Seite zu schauen: „Niemand hier, Herr Feldwebel!“

„Danke, und halten Sie ihr Maul“, zischte der Feldwebel zurück. „Sie wecken ja alles auf hier!“ Er deutete auf den jungen Soldaten und drei weitere Männer. „Sie sichern die andere Seite. Achten Sie auf die Sträucher. Überall kann jemand sein.“ Er schnaubte verärgert: „Niemand hier… Pah, was ich schon erlebt habe!“

Der gemaßregelte Kamerad lief rot vor Verlegenheit an.

Vorsichtig schoben sich die vier vorgeschickten Soldaten um die Mauer. Anders als auf der Gegenseite waren hier tatsächlich zahlreiche Büsche, in denen sich ein gegnerischer Soldat bestens verstecken konnte. Zwei von ihnen beobachteten das nächste Feld, er und ein weiterer Kamerad stachen mit ihren Gewehren in die Büsche.

„Niemand hier“, meldeten sie schließlich.

„Hier ist jemand“, grummelte der Feldwebel. „ Ich fühle das mit jeder Faser meines Körpers.“

Der junge Soldat sah die langgestreckte Kette seiner Kameraden, die bis zu der kleinen Straße rechts von ihnen reichte. Vier oder fünf Männer von ihm entfernt entdeckte er den Leutnant, der jedem einzelnen noch einmal Vorsicht einschärfte. Schließlich stand der Zugführer vor ihm.

„Halten Sie immer die Augen auf, nach irgendetwas Ungewöhnlichem. Egal was es ist.“

„Jawohl.“ Aus den Augenwinkeln sah er eine Kaninchenfamilie über das Feld vor ihnen hoppeln. Auch dieses Feld war nicht bestellt. Viele Felder waren in dieser Zeit nicht bewirtschaftet, und das durfte eigentlich nicht sein. Andererseits: Wäre es von Vorteil, sich durch hochgewachsene Getreidefelder zu kämpfen? Gut, man hatte bessere Deckung, aber man sah die anderen ebenso wenig.

„Welchen Weg, Herr Leutnant?“ erkundigte sich der Feldwebel.

„Wir sollen bis zu der Straße da vorne.“ Der Offizier zeigte auf ein dunkles Band hinter dem übernächsten Feld. „Dann machen wir Meldung.“

„Offenbar sind die doch abgehauen“, flüsterte ein Kamerad neben dem jungen Soldaten. Er beugte sich vor, um die Meter zwischen ihnen zu überbrücken.

„Die kommen wieder“, zischte der junge Soldat zurück.

„Dann müssen wir ihnen halt noch mal eins hinter die Ohren geben, oder?“

Natürlich. Noch waren Soldaten auf ihrer Seite da…

„Weiter, Leute, in zwei Linien.“

Jeder zweite Mann trat vor, und vorsichtig, aber zügig eilten sie nun über das nächste Feld. Wenig später folgte, etwas versetzt, die andere Kette. Der junge Soldat musterte den Boden vor sich, trockene Erde, ausgedörrt durch die Sonne der letzten Tage. Hier war nichts Außergewöhnliches, wenn man von dem Wissen absah, dass jederzeit ein Schuss fallen konnte, der einen von ihnen töten könnte.

Die nächste Hecke wurde erreicht, ein Gestrüpp aus Dornen und verwittertem Holz, aus dem in unregelmäßigen Abständen zusätzlich einige Bäume ragten. Ein, zwei Soldaten bemühten sich, über die Hecke zu klettern, mussten den Versuch aber abbrechen, da sie an den Dornen hängenblieben.

„Wir müssen sie umgehen“, flüsterte ein Soldat.

„Ein Schwert wäre nicht schlecht…“

„Oder eine Machete…“

Der junge Soldat sah, wie der Feldwebel längst ein Messer gezückt hatte und eine Schneise in das Gebüsch schnitt. Dann legte ein anderer Kamerad seine Uniformjacke auf die mittlerweile deutlich flachere Hecke.

„So, jetzt rüber“, zischte der Leutnant und winkte dreien seiner Männer zu, die nun erheblich leichter über die Hecke kamen. Inzwischen waren auch die beiden Soldaten, die der Straße gefolgt waren, auf der anderen Seite angekommen und hatten diesen Bereich zu sichern begonnen.

„Niemand da!“ kam es von drüben, und der Rest des Zuges, einer nach dem anderen, kletterte über die Hecke.

Zehn Minuten später hatten sie die andere Straße, ihr Ziel, erreicht. Eine Allee, beschattet von alten Bäumen, zog sich schier unendlich durch die Landschaft, sich wie eine Schlange um die Felder windend. Der junge Soldat nahm kurz seinen Helm ab und schaute zum Himmel. Mittlerweile waren die dunklen Wolken verschwunden, und die Sonne begann, ihre Kraft zu entfalten. Es würde sehr warm werden.

Über Funk gab der Leutnant ihre Position durch und meldete keine Feindberührung.

„Wo, zum Teufel, stecken die bloß?“ flüsterte ein Soldat.

„Willst du das wirklich wissen?“ gab ein anderer zurück.

„Wenn ich sie sehe, kann ich wenigstens was tun. Das Warten ist das Schlimmste…“

„Wer hat hier was von Pause gesagt?“ fauchte der Feldwebel, als er sah, wie einige Soldaten sich auf dem Boden niederließen. „Es geht weiter!“

Leise murrend erhoben sich die Männer, wagten aber nicht zu widersprechen. Einige Trinkflaschen kreisten, und auch der junge Soldat nahm einen gierigen Schluck kühlen Wassers. Die Sonne würde es in den Metallbehältern bald in eine widerwärtige warme Brühe verwandeln.

„Wir folgen nun dieser Allee, die uns in einem Bogen zu unserer nächsten Position bringen wird.“

Der Magen des jungen Soldaten knurrte, aber für Essen blieb keine Zeit. In einer langen Reihe folgten nun die Männer der Straße, gesichert auf beiden Seiten von jeweils zwei Kameraden, die in einigem Abstand über die Felder liefen und zur Seite spähten. Die Allee war kühl und schattig, traf bald auf einen kleinen Bach, der sie eine Weile begleitete und die Szenerie mit seinem leichten Geplätscher untermalte, bevor er nach Norden schwenkte, fort von ihnen.

Schweigend rückten die Männer vor, und bald hatte der junge Soldat jegliches Gefühl für die Wegstrecke verloren. Endlos wand sich die Straße durch die Landschaft, ein Baum nach dem anderen, ein Feld nach dem anderen. Er ertappte sich, wie seine Gedanken zeitweise abschweiften, zurückkehrten zu seiner Freundin.

Halte durch! ermahnte er sich. Nachlässigkeit konnte tödlich sein. Er hatte das Buch Im Westen nichts Neues gelesen, ein verpöntes Buch, so dass er es stets verborgen hatte, aber er mochte es. Der triviale Tod des Helden am Ende, inmitten der blutigen Schlachtfelder des letzten großen Krieges, hervorgerufen durch eine kleine Nachlässigkeit… Wie oft passierte dies auch in diesem Krieg Tag für Tag? Ihm durfte das nicht geschehen. Er würde zu seiner Freundin zurückkehren.