Buch lesen: «Sahra und Malek»

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T.D. Amrein

Sahra und Malek

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Die wichtigsten Protagonisten in der Reihe Krügers Fälle

(Haupt) Kommissar Max Krüger 52, Dienststelle Freiburg im Breisgau

Seine Lebensgefährtin Elisabeth Graßel 52

Kommissar Eric Guerin 39, Kripo (Police judiciaire) Colmar, Elsass, Frankreich

Kommissar Kaspar Gruber 49, Kripo Basel, Schweiz

Seine Lebensgefährtin Sonja Sperling

Krügers Team in Freiburg:

Michélle Steinmann 33, Krügers Liebling und vorgesehene Nachfolgerin

Kriminalrat Peter Vogel 62, Chef der Dienststelle Freiburg

Dr. Franz Holoch, Pathologe, unberechenbarer aber sympathischer Egozentriker

Erwin Rohr, Chef Spuren und sein besonders begabter Mitarbeiter Helmut Paschke

Krügers Assistenten Otto Grünwald 37 und Thomas Sieber 36

Sekretärin Susanne Trautmann 47 guter Geist des Reviers

Grubers Team in Basel:

Sein Assistent Bruno Finger, Adrian Betschart, leitender Staatsanwalt und Grubers Chef,

Pathologe in Basel Dr. Norbert Diener, Spuren Markus Känzig, Sekretariat Kirsten Hohenauer

Angelehnt an eine massive Buche, schloss Sahra Kruse für einen Moment die Augen, um ungestört in die Düfte und Geräusche des Waldes eintauchen zu können. Irgendwo in der Ferne erklang das unverkennbare Hämmern eines Spechtes. Ein leiser Luftzug streichelte ihre Haut. Den Geruch des dichten, grünen Moosteppichs kannte sie genau, weil sie sich manchmal hineinlegte, um die Baumkronen von unten zu betrachten. Vor allem an heißen Sommertagen. Sie fand dies mindestens so effektiv abkühlend wie ein Bad in einem der Baggerseen in der Nähe. Die waren einfach zu klein, um das Wasser im Sommer nicht zu einer lauwarmen, mit schleimigen Algen durchsetzten Brühe, verkommen zu lassen. Und im Wald brauchte sie sich kaum über schamlose Gaffer zu ärgern. Was natürlich nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie niemals heimlich beobachtet wurde, wenn sie sich genüsslich im Moos räkelte.

Sahra nutzte inzwischen jede Gelegenheit, um rauszugehen. Jedoch keineswegs, um auf Menschen zu treffen. Sondern, um in Ruhe die Natur zu genießen. Fast zwanzig Jahre lang hatte sie sich möglichst Zuhause verkrochen, um den angewiderten Reaktionen von Passanten zu entgehen, die sich hemmungslos über ihre zahllosen Horror-Tattoos mokierten. Wohlgemerkt, bloß über diejenigen, die sich nicht so leicht verstecken ließen. Im Freien einen Bikini zu tragen, blieb für Sahra schlicht unmöglich.

Wie konnte man nur?

Sie war es längst leid, jedem zu erklären, dass sie von einer Bande Halbstarker als junges Mädchen, "zum Spaß verziert" wurde. Mit unauslöschlichen Tätowierungen, die den größten Teil ihres Körpers bedeckten. Natürlich tauchte immer gleich die Frage auf, weshalb sie sich nicht dagegen wehrte, als man ihr eine Höllenfratze direkt unterhalb des Kinns in die Haut gestochen hatte? Die ehrliche Antwort: Sie lag während der Prozedur im Drogenkoma. Dies erweckte öfters anstelle von Mitleid mit ihr, eher mehr Verständnis für die Täter.

Nur weil Sie sich noch irgendwie an der Bande rächen wollte, war sie damals nicht gleich von einer Brücke gesprungen. Doch bald darauf erfuhr sie von ihrer Schwangerschaft. Wer dafür die Verantwortung trug, lag gleichermaßen im Dunkeln. Sahra versuchte das Unmögliche. Und entgegen jeder Erwartung schaffte sie den Absprung.

Ein Student aus besserem Haus unterstützte sie dabei. Er, beziehungsweise seine Eltern, hatten ihm eine kleine Wohnung direkt neben der Uni angemietet. Ohne Bedingungen zu stellen, ließ er sie bei sich wohnen. Er sorgte dafür, dass sie zu den Vorsorgeuntersuchungen ging, sich zweckmäßig ernährte und diente als Gesprächspartner, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Er freute sich ganz offenbar mit ihr auf das Kind. Als Einziger. Ihre eigenen Eltern hatten sie längst verstoßen und Freundinnen aus früheren Tagen wollten ebenfalls nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Es kam, wie es kommen musste. Er stellte sie seinen Eltern vor. Mit bis unters Kinn hochgeschlossenem Kleid. Die Wangen dick gepudert. Dazu trug sie Handschuhe und lange Ärmel. Die Schwiegermutter in spe erkannte natürlich gleich, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Als die dann auch noch erfuhr, dass nicht ihr verwöhnter Liebling Sahra geschwängert hatte, brach die Hölle auf. Er knickte sofort ein. Wagte nicht einmal einen Versuch, seiner Mutter zu widersprechen.

Sie durfte noch bis zur Geburt die Wohnung nutzen. Seine Familie befürchtete einen Skandal, wenn herauskommen sollte, dass sie eine Hochschwangere auf die Straße gestellt hatten. Aber danach musste sie verschwinden. Endgültig. Man riet ihr, den Balg sofort zur Adoption freizugeben. Sahra hatte selbst daran gedacht. Nun kam es nicht mehr infrage.

Heute war sie froh darüber. Es war hart gewesen. Sehr hart. Die Not hatte sie jedoch auch fest zusammengeschweißt. Und seit er verdiente, unterstützte er seine Mutter mit einer regelmäßigen Überweisung. Dadurch verschwand das bisher alles überlagernde Thema in den Hintergrund. Der einzige Wermutstropfen, sein Arbeitsplatz befand sich auf einem Schiff. Auf hoher See. In geschlossenen Räumen oder dauernd an derselben Stelle hielt er es nicht lange aus.

Sie tröste sich insgeheim damit: Besser weit weg, dann brauchte er sich nicht für seine Mutter zu schämen. Obwohl er das niemals getan hatte.

Ein deutliches, rasend schnell näherkommendes Rascheln ließ Sahra erstarren. Etwas streifte ihre Schulter, ein brennender Schmerz im Ohr, es fühlte sich an, als ob sie von einer scharfen Zange gezwickt worden wäre. Gleichzeitig versuchte offenbar jemand, ihr eine ganze Haarsträhne auszureißen.

Sahra blieb absolut bewegungsunfähig. Sie schaffte es nicht einmal, zu schreien. Jetzt passierte genau das, wovor sie sich trotz aller Liebe zur Natur insgeheim gefürchtet hatte. Sie wurde brutal überfallen und ohne jede Hemmung geschlagen, bis sie sich nicht mehr wehren konnte. Restlos verkrampft, erwartete sie den nächsten Schlag. Hoffentlich bereitete man ihr ein schnelles Ende. Natürlich eine absolut naive Vorstellung. Sie würde bestimmt tagelang gequält werden …

Irgendwie entfernte sich das Geräusch nach oben. Gewiss bloß eine Halluzination ihres verstörten Gehirns, das sich vor der Realität bewahren wollte.

Sie wartete vergeblich. Endlich schaffte sie es, nach oben zu sehen. Ein dunkelbrauner Fleck flitzte die Äste entlang, um danach in hohem Bogen in die nächste Krone zu wechseln. Der Fleck verfügte über einen buschigen Schwanz, der sich in der Luft gut erkennen ließ. Sahra griff sich an die Ohrmuschel. Blut. Warm und klebrig. Wie befürchtet.

Vorsichtig drehte sie den Kopf. Keiner da.

Sahra ließ sich ins Moos sinken. Ausgerechnet ein niedliches Eichhörnchen hatte ihr den größten Schrecken eingejagt, den sie sich überhaupt vorzustellen vermochte. Diese Art, die sie oft verzückt beobachtete, wenn sie reglos dalag, hatte bisher zu ihren absoluten Lieblingstieren gezählt. Klar war das keine Absicht gewesen. Aber trotzdem.

Auf dem Rückweg streifte Sahra nicht so unbeschwert wie sonst durch den Wald. Das Erlebnis hatte ihre Aufmerksamkeit deutlich geschärft. Außerdem spürte sie ihren Puls im Ohr. Wenigstens blutete es nicht mehr, aber das Brennen verstärkte sich massiv, sobald sie die Ohrmuschel berührte. Sahra ging normalerweise ohne Schminkspiegel in den Wald. Deshalb wusste sie nicht, wie die Verletzung aussah. Die Anzahl der mit Blut vollgesaugten Papiertaschentücher ließ Schlimmes vermuten. Gott sei Dank trug sie keinen Ohrring, den hätte ihr das Tier bestimmt herausgerissen.

Sahra versuchte, sich selbst zu beruhigen. Sie hatte schließlich schon einiges überstanden. Und zerfetzt fühlte sich das Ohr nicht wirklich an. Außerdem schwemmte das Blut auch Bakterien oder andere Erreger aus der Wunde. Bei Unfällen mit Wildtieren bestimmt kein Nachteil. Die praktische Sahra gewann Stück für Stück wieder die Oberhand.

Etwas Glänzendes, das durch einen einzelnen Sonnenstrahl beleuchtet wurde, fiel ihr im Unterholz auf. Der Wald stand hier nicht besonders dicht. Die Schneise, die man in der Nähe für eine Bundesstraße geschlagen hatte, sorgte für mehr Licht unter den Bäumen als üblich. Mit einem Fuß stieß sie nach dem Ding. Es fühlte sich schwer an. Sie bückte sich und wich unwillkürlich zurück. Eine Pistole. Schwarz, glänzend mit einigen blanken Stellen. Allzu lange konnte die noch nicht hier liegen, ging ihr durch den Kopf. Andererseits schaute sie normalerweise auch nicht so aufmerksam hin, überlegte sie. Trotzdem, keine Spur von Rost an den blanken Stellen. Das dauerte doch im Freien wohl nicht besonders lange.

Nicht das Sahra irgendetwas von Waffen verstanden hätte. Aber ihr erster richtiger Freund, Gonzo, natürlich ein Spitzname, hatte so ein Ding besessen. Die einzige Sache, die er stets gehegt und gepflegt hatte. Einschließlich seiner Freundinnen. Ständig zerlegte er das Ding und reinigte sorgfältig die Einzelteile. Übte stundenlang in eckigen Bewegungen, Deckung von Zimmer zu Zimmer und das schnelle Wechseln des Magazins.

Sahra hob die Pistole auf. Lag gut in der Hand, stellte sie fest. Sie erinnerte sich, welchen Respekt es Gonzo verschaffte, wenn er die seine aus dem Hosenbund gezogen hatte. Da war doch irgendwo ein Druckknopf gewesen.

Das Magazin glitt aus dem Griff und rollte ins trockene Laub. Rasch hob sie es wieder auf. Deutlich erkennbar enthielt es mehrere messingfarbene Patronen.

Sahra schaute sich um. Niemand zu sehen. Sie schob das Magazin zurück in den Griff und steckte die Waffe ein. Eigentlich war sie nicht darauf erpicht, Erinnerungen aus der schlimmsten Zeit ihres Lebens zu wecken. Jedoch genau dazu führte dieser Fund. Aber etwas von Wert, das sich leicht zu Geld machen ließ, einfach wegzuwerfen, das schaffte Sahra nicht. Zu lange hatte der Mangel ihr Leben bestimmt.

***

Das Ohr sah dunkelrot und dick geschwollen, ziemlich schwer verletzt aus. Aber genau genommen handelte es sich bloß um einen tiefen Kratzer. Offenbar war das Hörnchen mit der Kralle an der Ohrmuschel abgerutscht, als es den Stamm hinaufhetzte. Wovor es geflüchtet war, wusste Sahra nicht. Wahrscheinlich fühlte es sich genauso panisch wie sie in diesem Moment. Und seine Todesangst hatte wohl einen konkreten Grund. Im Wald lagen zahlreiche Fuchsbaue mit frisch ausgeworfener Erde davor. Ein sicheres Zeichen, dass sie bewohnt waren.

In der Nacht träumte Sahra, wie sie mit vorgehaltener Waffe einen Tätowierer zwang, einem pickligen Grünschnabel, ein Hakenkreuz mitten ins Gesicht zu stechen. Der Traum entstand nicht einfach aus dem Nichts. Es waren die Gedanken, gegen die sie sich tagsüber gewehrt hatte. Dass das Opfer gesichtslos blieb, lag daran, dass sie tatsächlich nicht wusste, wer damals dabei gewesen war. Außer Gonzo natürlich. Der war immer dabei gewesen, wenn etwas ausuferte. Und auch der würde Respekt zeigen, wenn man eine Pistole direkt auf ihn richtete. Und sich womöglich sogar an die Namen seiner damaligen Kumpels erinnern.

Aber wo der heute stecken mochte? Wahrscheinlich war der längst zum braven Bürger geworden. Hatte möglicherweise Frau und Kinder. Allerdings schwer vorstellbar bei ihm.

Seine damalige Stammkneipe lag nur wenige Kilometer entfernt. Vielleicht könnte man nach der Arbeit einmal kurz vorbeischauen. Auf ein Bier. Sogar so was konnte sie sich jetzt ab und zu leisten. Eventuell würde sie vorsichtig nachfragen.

Sahra arbeitete seit der Geburt ihres Sohnes für einen kleinen Bestatter. Ein oder zweimal die Woche. Nur wenn es bei ihm Arbeit gab, logischerweise. Sie richtete die Verstorbenen her, wusch und schminkte sie. Eklig zwar, aber vergleichsweise gut bezahlt. Eine einfache Einraumwohnung auf dem Firmengelände gehörte dazu. Er hatte ihr überdies immer wieder das Jugendamt vom Leib gehalten, das dauernd damit drohte, ihr das Kind wegzunehmen. Dafür ließ sie ihn ab und zu anfassen oder schlief mit ihm. Das hatte sich so ergeben. Ohne Gewalt. Er benahm sich jederzeit anständig. Demütigte sie nicht und akzeptierte, wenn sie einmal keine Lust hatte. Eigentlich eine fast normale Beziehung. Außer, dass er sie niemals auf den Mund küsste und ihr immer wieder zu verstehen gab, dass er sich auf keinen Fall binden wollte.

***

Die Kneipe sah immer noch genauso aus wie früher. Nur der Typ hinter dem Tresen war ein anderer. Sahra zögerte erst. Was sollte sie tun, wenn sie erkannt wurde?

Aber die jungen Kerle, die sich in einer Ecke zusammendrängten, beachteten sie überhaupt nicht. Die Aufmerksamkeit galt zwei Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, die versuchten, kokett zu wirken. Es hatte sich wirklich nicht viel geändert. Sahra blieb am Ende des Tresens stehen und bestellte ein Bier.

Gespannt verfolgte sie das Geschehen vorsichtig aus dem Augenwinkel. Die Typen versuchten, sich gegenseitig durch markige Sprüche auszustechen. Offenbar fehlte es allen an Kohle, um den Mädchen ein Getränk anzubieten.

Ein neuer Gast betrat den Raum. Gepflegter Vollbart, schulterlanges, seidig glänzendes Haar. Breite Schultern. Wirkte aber trotzdem relativ schlank. Betont aufrechter, zielstrebiger Gang. Er trug eine abgegriffene Lederjacke und Cowboystiefel mit Metallverzierungen. Lässig ließ er den Wagenschlüssel am kleinen Finger baumeln. „Ein Bier, aber zackig, du Langweiler!“

Sahra verschluckte sich. Die Stimme kannte sie. Gonzo!

Er nahm keinerlei Notiz von ihr. Nicht bloß, weil sie älter geworden war. Sahra zeigte sich in der Öffentlichkeit niemals ohne eine dicke Schicht Theaterschminke im Gesicht. Damit konnte sie ihren Typ in gewissen Grenzen der Situation anpassen. Wenigstens ein Hauch von Vorteil.

Seine Aufmerksamkeit galt jedoch ausschließlich den beiden jungen Mädchen, die sich ihm interessiert zuwandten und nach ihren Schminkspiegeln gegriffen hatten. „Was zu trinken?“, brummte er.

Die beiden standen synchron auf und stellten sich links und rechts von ihm hin.

Immerhin bestellte er ihnen bloß eine Cola. „Ohne Schuss!“, wie er betonte.

„Wieso ohne?“, maulte die eine. „Denkst du, wir vertragen das nicht?“

„Dafür seid ihr zu jung“, stellte er fest.

„Ach, wirklich!“ Die Göre präsentierte ihm ihren Busen. „Wie alt sieht das denn aus?“

„Ja, ist nicht schlecht“, gab er zu.

Die andere wollte nicht zurückstehen und warf sich ebenfalls in Pose.

Er nickte. „Zwei doppelte Wodkas für die Damen!“

Der Keeper verzog das Gesicht. „Das geht nicht. Das weißt du doch!“

„Ja natürlich, du Langweiler. Trinkt aus! Wir gehen woanders hin!“ Ein Zwanziger landete auf dem Tresen. „Trinkgeld gibts heute nicht. Selbst schuld, du Pfeife!“

Die Mädchen kicherten.

„Los, kommt!“

Die beiden hakten sich ein. Gonzo, stolz wie ein Gockel, schleppte sie nach draußen.

Die Jungs verfielen wieder in Lethargie. Sahra trank ebenfalls aus. Sie musste etwas tun. So viel stand fest.

***

Täglich rang Sahra mit sich, ob sie ihren Gedanken freien Lauf lassen durfte oder nicht. Schlummerte in ihr etwa eine Sadistin? Sie redete sich ein, dass es nicht bloß um ihre eigenen, schlechten Erfahrungen ging. Diese armen Mädchen, die von Typen wie Gonzo benutzt und danach achtlos weggeworfen wurden. Dem müsste man Mal eine richtige Lektion erteilen. Am besten kastrieren. Wie einen Kater, der das Streunen einfach nicht lassen konnte. Das Einzige, das sicher half. Und er sollte auch noch etwas davon haben. Ihn bloß schmerzlos umzubringen, schien ihr in seinem Fall als Strafe überhaupt nicht geeignet. Und dass jemand sein eigenes Leben durch einen Mord zerstörte für diesen elenden Strolch. Das war er nun wirklich nicht wert.

Sahra wusste, dass sie es niemals schaffen würde, auf einen Menschen einzustechen. Oder ihm mit einem Messer ein ganzes Teil abzutrennen. Aber ein kleiner Eingriff, der sich kaum davon unterschied, was sie sonst an Leichen manchmal ausführen musste? Wie zum Beispiel einen herabgeklappten Unterkiefer mit einem eingesetzten Stück Draht zu fixieren. Sie hatte schließlich sogar die Möglichkeit, einen Test durchzuführen, sobald der nächste Tote angeliefert wurde. Sahra schüttelte sich angewidert. Auf keinen Fall. So tief würde sie nicht sinken. Niemals.

2. Kapitel

Zwei Wochen später schaffte es Sahra wieder, nicht jeden Tag an Gonzos Bestrafung zu denken. Wie oft in ihrem Leben hatte sie sich über eine Ungerechtigkeit tagelang aufgeregt. Daraufhin Pläne zur Abhilfe geschmiedet, bis sie schließlich einsehen musste, dass sie nichts ausrichten konnte. Es fehlte ihr an Macht, an Geld und an Entschlossenheit. Sie war einfach bloß ein Spielball, den jeder nach Belieben in eine Ecke treten konnte.

Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass sie an diesem Tag eine junge Frau zum "Aufhübschen" unter dem Leichentuch auf ihrem Arbeitstisch vorfinden würde. Natürlich war es nicht die Erste, die man aus dem Rhein gefischt und ihr hingelegt hatte. Aber Sahra erkannte sofort, dass es sich um eines der Mädchen handelte, die sie kürzlich mit Gonzo gesehen hatte. Auf dem "Lieferschein", wie man das Papier normalerweise unter sich nannte, suchte sie nach der Todesursache. Suizidales Ertrinken. Keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden. Fundort Rheinkilometer …

Sahra zitterte vor Aufregung. Die Tote dürfte höchstens einige Stunden im Wasser gelegen haben. Außer etwas aufgequollener Hornhaut an den Füssen wies nichts auf eine Wasserleiche hin. Selbstverständlich hatte eine rechtsmedizinische Untersuchung der Leiche stattgefunden, bevor man sie zur Beerdigung freigab. Trotzdem konnte Sahra es nicht lassen, sich den Körper des Mädchens genauer anzusehen. Eine Leichenöffnung wurde offenbar, als nicht notwendig erachtet. Sie fand einige wenige Einstiche, die normalerweise der Entnahme von Gewebeproben und Körperflüssigkeiten dienten. Durchaus üblich bei nicht natürlicher Todesursache.

Geübt drehte sie den Körper auf den Bauch. Keine ausgeprägten Totenflecke. Ebenfalls nicht ungewöhnlich bei einer Wasserleiche. Aber mehrere, nur schwach erkennbare dreieckförmige Zeichen auf dem Gesäß des Mädchens, ließen Sahra laut aufstöhnen. Wie oft hatte sie selbst dieses Muster getragen. Es stammte von Gonzos Gürtelschnalle, der seinen Freundinnen gerne den nackten Hintern damit versohlte, wenn sie "frech geworden" waren.

Natürlich sollte sie jetzt die Polizei rufen, um ihre Beobachtung zu melden. Das war Sahra klar. Aber einerseits müsste sie dann zugeben, dass sie selbst lange eine von Gonzos Tussen gewesen war. Und sich brav vorgebeugt hatte, wenn er sie schlagen wollte. Und weshalb hatte sie ihn nicht angezeigt oder wenigstens verlassen? Was konnte sie darauf antworten?

Die Wahrheit? Diese Bestrafungen hatten sie unheimlich stark erregt. Er schlug zwar kräftig zu, aber er verletzte sie nicht wirklich. Trotz der Schmerzen, auch eine Art Zuwendung, die sie sonst nirgends erhielt.

Sich demütigen zu lassen, war sie inzwischen gewohnt. Bloß deshalb würde sie nicht schweigen. Aber was würde passieren? Man würde ihn vielleicht befragen. Und er würde es empört abstreiten. Und selbst, wenn er es zugab. War so was strafbar, wenn es ohne Zwang geschah? Wahrscheinlich nicht einmal das.

***

Sahra radelte in den nächsten Tagen mehrmals gegen Abend an Gonzos ehemaliger Stammkneipe vorbei. Vor der Rückfahrt unternahm sie in deren Nähe einen gemütlichen Spaziergang. Erst hatte sie es bei seiner alten Bleibe versucht, aber dort standen inzwischen moderne Mehrfamilienhäuser. Zu ihrer Zeit war es ein größtenteils verlassenes Gewerbegebiet gewesen. Wo Gonzo sich damals in einem Abbruchobjekt mit einigen Kumpel eine Art private Autowerkstatt eingerichtet hatte. Im Erdgeschoss schraubten die Jungs an ihren Kisten, in der ehemaligen Wohnung im Obergeschoss fanden die Feten statt. Durch einige Matratzen, alte Sofas vom Sperrmüll und einem Holzherd zum Heizen und Kaffeekochen, sowie einer noch brauchbaren Toilette eignete sich der Ort auch für gelegentliche Übernachtungen. Das galt für die Kumpel. Gonzo wohnte praktisch ständig dort und nutzte die Räume auch für seine unzähligen Bekanntschaften. Ausgerissene oder Abgehauene, Drogenabhängige, Aussteiger, Lebenskünstler, Illegale oder Legale. Jeder fand bei ihm Unterschlupf. Falls er zwei wichtige Kriterien erfüllen konnte. Weiblich und nicht über dreißig. Gemeldet war er selbst bei seinen Eltern unter seinem richtigen Namen, Jürgen Hahnloser. Seine Aktivitäten waren in der Umgebung einigermaßen bekannt, schienen aber niemanden weiter zu interessieren.

Sahra hatte im Telefonbuch, das im Büro des Bestatters lag, nachgeschlagen, ob Gonzo oder eben Jürgen immer noch in Freiburg wohnte. Die Adresse, wenn sie sich richtig erinnerte, war die seiner Eltern, die sie auch flüchtig gekannt hatte. Eine ruhige Gegend, wo sie durch Nachforschungen sofort aufgefallen wäre.

Schließlich war es sein unübersehbares Auto, das ihn verriet. Darauf hätte sie eigentlich gleich kommen können, tadelte sich Sahra selbst. Offenbar schaute er immer noch fast jeden Abend in der Kneipe vorbei. Er schien sich tatsächlich kaum verändert zu haben. Bloß mit den Bräuten lief es anscheinend nicht mehr ganz so rund wie früher. Sahra sah ihn in dieser Woche insgesamt vier Mal kommen und gehen. Immer ohne Begleitung.

***

Obwohl Sahra mit ihren Leichen stets ganz alleine blieb, bedeckte sie, sobald der Körper gewaschen war, die intimsten Stellen mit einem Tuch. Der Mann, dem sie heute das Gesicht rasierte, bildete da keine Ausnahme. Sahra verwendete bei starkem Bewuchs ein althergebrachtes, einklappbares Rasiermesser. Gefunden hatte sie das Ding in einer ganzen Sammlung, die wahrscheinlich noch von Maleks Eltern stammte. Die meisten Messer befanden sich in schlechtem Zustand, bis auf das eine, das sie deshalb an sich genommen hatte. Ein solches Rasiermesser setzte eine gewisse Sorgfalt voraus, besonders bei tiefen Falten. Es gab nicht viel, worauf Sahra richtig stolz sein konnte. Aber ihre Fähigkeit, dieses Messer zu schärfen, hielt sie schlicht für legendär. Trotzdem gehörten Einwegrasierer aus Plastik, die sich leichter führen ließen und für einen Damenbart locker ausreichten, natürlich ebenso zur normalen Ausstattung ihres Arbeitsplatzes.

Trotz aller Aufmerksamkeit, die sie ihrer heiklen Aufgabe widmete, glitt ihr Blick immer wieder zu der deutlichen Erhebung im Tuch auf dem Schoss des Toten. Manchmal verhielt sich die Natur im Zusammenhang mit der Leichenstarre, nicht besonders gesittet. Sahra kannte auch dieses Phänomen. Normalerweise entlockte es ihr höchstens ein Lächeln. In Leichenpflegerkreisen nannte man dies auch "Großer Zapfenstreich", in Anlehnung an ein letztes Strammstehen bei militärischen Verabschiedungen.

Endlich gab sie sich einen Ruck und zog das Tuch weg. Natürlich trug Sahra bei ihrer Arbeit eine Plastikschürze und Latexhandschuhe. Sie griff kräftig zu und brachte die schlaffe Haut des Hodensacks dadurch in Spannung. Er war nur schwach behaart. Einzelne Venen schimmerten durch. Einmal tief durchgeatmet, dann zog sie das Rasiermesser über die höchste Stelle. Ansatzlos glitten die Hoden des Mannes heraus. Einfach so, hingen sie bloß noch in gleicher Weise wie ein Batteriepaket "an den Kabeln".

Sahra hatte sich vorgestellt, dass sie die Dinger mühsam herausschälen und in einer längeren, kniffligen Prozedur herauslösen müsste, um sie zu entfernen. Konnte das wirklich so einfach sein?

Verschämt sah sie sich um. Sollte sie die Hoden wieder zurückstopfen? Sie versuchte es. Aber sie quollen immer wieder aufs Neue heraus. Ohne zu nähen, würde es nicht gehen.

Im Nebenraum wurde eine Tür geöffnet. Sahra durchfuhr es heiß. Eigentlich wollte ihr Chef nie zusehen, wenn sie arbeitete. Er ekelte sich zu sehr. Deshalb hatte er sie schließlich damals angestellt und vieles Weitere in Kauf genommen, um nicht selbst Hand anlegen zu müssen.

Sahra konnte es nicht riskieren. Ein schneller Schnitt, und die beiden walnussgroßen Organe verschwanden in ihrer Hosentasche.

Natürlich hörte sie gleich darauf, dass ein Wagen gestartet wurde und wie ihr Chef damit vom Hof fuhr. Der dachte doch nicht im Traum daran, sie zu besuchen, wenn sie präparierte. Aber trotzdem. Wie hätte er wohl reagiert, wenn er sie erwischte? Würde er die monströse Sahra, die tote Männer kastrierte, noch länger in seinem Haus dulden?

***

Nach und nach vervollständigte Sahra die Ausrüstung für ihr Vorhaben. Sie bestellte ein Paar Handschellen bei Beate Uhse, weil die absolut diskret lieferte. Neutral verpackt und ohne Absender.

Außerdem benötigte sie eine zuverlässige Maske für Gonzo, damit er sie nicht erkennen konnte. Ein alter, voluminöser Teekannenwärmer, der seit Jahren unbenutzt herumstand, schien dazu am besten geeignet. Ein sackartiges, dickwandiges Gebilde mit opulentem Blumenmuster. Das sich am offenen Ende durch ein eingenähtes Gummiband, an hineingestellte Kannen jeder Größe von selbst anpasste. Sie hatte es natürlich ausprobiert. Umgedreht schmiegte sich das Band ebenfalls bestens an den Hals eines Menschen.

Aus ihrer Drogenzeit wusste sie, dass man von Benzindämpfen ziemlich schnell das Bewusstsein verlor. Schließlich sollte der Wärmer ihm nicht bloß die Sicht versperren. Sondern, frisch mit etwas Benzin getränkt, auch die Gegenwehr erschweren. Und nicht zuletzt mögliche Schreie dämpfen.

Sahra war den Ablauf der Prozedur bestimmt schon hundertmal durchgegangen. Sie würde auf dem Parkplatz der Kneipe auf ihn warten. In lockiger Perücke, auch ein Utensil aus ihrer Tätigkeit, sehr kurzem Rock und mit maximal hochgeschraubtem Busen. Deshalb hoffte sie, würde er kaum auf ihr Gesicht achten. Sobald er angebissen hatte, wollte sie ihm eine ruhige Stelle ganz in der Nähe, direkt am Rhein vorschlagen. Ein Ort, den sie beide gut kannten.

Er musste selbst hinfahren, das war wichtig, weil Sahra dies nicht konnte. Im Gebüsch unter der kleinen Brücke, die dort einen Gewerbekanal überquerte, würde ihr Fahrrad für den Rückweg schon bereitliegen.

Mit vorgehaltener Pistole wollte sie ihn zwingen, sich selbst mit den Handschellen ans Lenkrad zu fesseln. Dass dies bestens funktionierte, wenn man dem Opfer ein gewisses Stück Bewegungsfreiheit im Auto erhalten wollte, wusste sie ebenfalls aus der Zeit mit ihm.

Wichtiger Punkt: Dass sie sich an dieser Stelle davon überzeugte, dass er die Armbänder richtig geschlossen hatte.

Sobald sie dann den Wärmer mit dem Benzin aus einem Parfümfläschchen präpariert und ihm übergestülpt hatte, konnte eigentlich nicht mehr viel schiefgehen. In einem Auto fanden sich schließlich einige geeignete Stellen, um etwas festzuzurren, falls notwendig.

Ein Problem, woran sie lange gekaut hatte, blieb ihr Rückzug. Dass der auffällige Teewärmer besser nicht zurückbleiben sollte, schien ihr ratsam. Möglicherweise erstattete Gonzo trotz der Schmach Anzeige. Dann konnte sich vielleicht daraus eine Spur für die Polizei ergeben. Eher unwahrscheinlich, aber trotzdem. Außerdem sollte er besser nicht stundenlang Benzindämpfen ausgesetzt bleiben. Er würde kaum vor dem nächsten Morgen entdeckt werden. Bis dahin konnte er möglicherweise sogar ersticken, unter dem Ding. Das wollte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Er sollte möglichst viel mitbekommen. Schmerzen haben und stundenlang frieren. Ohne genau zu wissen, wann er befreit wurde. Eine weitere ihrer eigenen Erfahrungen, die sie ihm verdankte.

Eine Szene in einem Film, den sie inzwischen gesehen hatte, brachte Sahra endlich auf die richtige Idee. Die Helden zogen sich nach einem Gefecht hinter einer dicken Rauchwolke zurück. Rauchpetarden, die wahrscheinlich noch aus dem Krieg stammten, stapelten sich in einer großen Kiste im Lagerkeller ihres Chefs. Sie wusste davon, weil er zum Spaß einmal eine gezündet hatte. Dies ließ sich durch einfaches Aufreißen bewerkstelligen. Bei der vorhandenen Menge würde es kaum auffallen, wenn eine Weitere fehlte.

Ab und zu auftauchende Skrupel erstickte Sahra mit dem Gedanken an die junge Selbstmörderin auf ihrem Arbeitstisch. Selbst wenn Gonzo daran nicht direkt Schuld hatte. Typen wie er, richteten immer wieder das Leben junger Mädchen zugrunde. Sie hatte es jetzt in der Hand, einen davon zur Räson zu bringen. Das Einzige, das man ihr eventuell vorwerfen konnte, sie hatte viel zu lange damit gewartet.

***

Jürgen Hahnloser saß missmutig in seinem Wagen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Schlampe, mit der er verabredet war, erschien einfach nicht. Natürlich hatte die vermutlich auch geschwindelt, mit ihrem Gewicht, dem Alter und der angeblich so tollen Figur. Daran hatte er sich längst gewöhnt. Aber immer noch besser so eine, als die unmöglichen Weiber vom Puff. Die ihn meistens wie einen lausigen Junkie, der seine Triebe nicht im Griff hatte, behandelten. Das lag auch daran, dass man ihn inzwischen überall kannte. Bei neuen Freiern täuschten die wenigstens noch so was wie Vergnügen vor. Aber für die Stammkunden …

Früher hätte er höchstens eine oder zwei Minuten auf eine Braut gewartet. Wenn er rechnete, kam offenbar für jedes seiner Lebensjahre eine Minute dazu. „Himmelarsch und Zwirn!“, fluchte er laut.

€1,49

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0+
Umfang:
220 S. 1 Illustration
ISBN:
9783752902372
Verleger:
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Bookwire
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