Die Enten schwimmen auf dem See

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Enten schwimmen auf dem See
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sylvia Rosenkranz-Hirschhäuser

Die Enten schwimmen auf dem See

Erzählung

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Titel

Kapitel 1 Die Enten schwimmen auf dem See

Kapitel 2 Die Enten schwimmen wieder auf dem See

Kapitel 3 Die Enten schwimmen weiter auf dem See

Kapitel 4 Die Enten schwimmen nicht mehr auf dem See

Kapitel 5 Die Enten sind tot

Epilog

Impressum neobooks

Titel

Die Enten schwimmen auf dem See

Erzählung

Du weißt zur Stunde ihn

An fernem Ort.

Mit dem Verstand begreifst du seine Ferne.

Es liegen zwischen dir und ihm

Ein Himmel Sonne

Und ein Himmel Sterne.

Und doch trittst du ans Fenster immerfort.

Reiner Kunze

Kapitel 1 Die Enten schwimmen auf dem See

Die Enten machen mich traurig.

„Großmama, du schaust wieder unablässig auf das Wasser. Warum machst du das?“

Annas Großmutter antwortet nicht.

„Großmama, was denkst du? Anna fragt ungeduldig, sie mag den entrückten Blick ihrer Großmutter nicht.

Ich erinnere mich an Zeiten, in denen du noch gar nicht geboren warst. Das ist lange Jahre her.“

„Es gab damals Zeiten, die waren schön für mich, anstrengend, oft unerträglich schwierig, aber eben auch sehr, sehr schön.“

Großmutter hält inne. „Vor allem in der Erinnerung“, fügt sie wehmütig hinzu.

Anna beobachtet genau. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt, lebt 100 km von ihrer Großmutter entfernt und hat sie nun fast zwei Monate nicht gesehen. Überhaupt sieht Anna ihre Großmutter nur drei bis vier Mal im Jahr. Dennoch bedarf es zwischen den beiden keiner Stunde, um wieder nahe und vertraut zu sein.

Großmama war vor zwei Tagen fünfundsiebzig Jahre alt geworden und die Familie hatte den Geburtstag würdig gefeiert, bevor alle Familienmitglieder wieder ihrer Wege gefahren waren.

Bis auf Anna, die ein paar weitere Tage bei ihrer Großmutter bleiben wollte aus einem Grund, über den Anna währen der Feier und auch danach noch kein Wort verloren hatte. Von Annas jüngerer Schwester hatten ihre Eltern, ihr Bruder und Großmama erfahren, dass Annas langjährige Beziehung zu ihrem Jugendfreund vor genau zwei Wochen in die Brüche gegangen war und Anna sehr litt.

Ungewohnt wortkarg und in sich gekehrt, hatte sie sich immer von den Gesprächsgruppen im rosenblühenden Garten während der Festlichkeiten ferngehalten und war auch oft nicht zu sehen gewesen.

Für Anna ist ihre Großmutter eine liebenswerte Frau, von der sie aber nicht allzu viel weiß, denn Großmutter ist meist schweigsam, still in Gesprächen und wenig mitteilsam, wenn es um Gefühle geht.

Deshalb ist Anna nun unsicher, ob sie Großmutters Sätze aufgreifen oder übergehen soll.

Großmutter nimmt ihr die Entscheidung ab.

„Anna, siehst du die Enten auf dem Wasser?“

„Ja, warum?“

„Sie erzählen mir eine längst vergangene Geschichte. Eine glückliche und traurige zugleich.“

Anna ist unsicher, aber neugierig: „Erzählst du sie mir?“

Großmutter zögert.

„Du bist jung und ich weiß, es geht dir seit kurzem nicht gut. Darum scheint es mir aber gerade deshalb eine gute Zeit, dir meine Geschichte zu erzählen. Wenn du sie verstehst, wird sie dir etwas sagen.“

Wieder schaut die Großmutter auf den See.

Er liegt im Halbschatten, schilfbewachsen und schwarzmoorig mit dem Glanz der untergehenden Sonnenstrahlen auf der ihnen zugewandten Uferseite. Die Entenfamilie schwimmt auf Anna und ihre Großmutter zu und dreht in ruhiger Bahn wieder zum anderen Ufer des Sees um.

Ohne den Blick von den Enten zu wenden sagt die Großmutter:

„Ich werde dir die Geschichte erzählen, Anna. Es ist eine Liebesgeschichte – oder vielleicht auch keine, darüber urteile selbst.

Stimmt es, dass du nicht mehr mit deinem Freund Daniel zusammen bist?“

„Ja, wir haben uns getrennt, es tut weh, ich mag ihn noch, ich kann deshalb nicht darüber reden.“

Und nach einer Pause: „Ich mag aber auch Tim. Sie sind beide sehr lieb. Im Moment bin ich ziemlich durcheinander, vielleicht hilft es mir, wenn du mir etwas von dir erzählst.“

Am See wird es zunehmend ruhiger, einige Leute packen ihre Taschen zum Nachhausegehen, andere rufen ihre Kinder aus dem Wasser, um ihnen das mitgebrachte Abendbrot zu reichen. Ab und zu platscht ein Kind vom Steg ins Wasser und seine Freunde schreien aus Vergnügen mit.

Anna setzt sich zu Füßen ihrer Großmama auf den warmen Sandboden, während ihre Großmutter die Augen mit der Hand beschattet und so leise spricht, als fielen ihr die Worte schwer.

„Du weißt nicht sehr viel aus meinem früheren Leben. Würde ich mich dir nicht so nahe fühlen, aus Gründen, die du vielleicht bald erkennen wirst, könnte ich nicht in dieser Art mit dir reden. Die Geschichte beginnt zu einer Zeit, in der ich gerade beschlossen hatte, mich auf keine Männer mehr einzulassen, keine neuen Beziehungen, die bisherigen hatten regelmäßig zu Problemen geführt, wollte ich eingehen. Genug ist genug, dachte ich damals und war froh über meine Erkenntnis.

Wie so viele Reisen zuvor beabsichtigte ich eine weitere Reise, die ich Traumreisen nannte. Träume, an Orte zu gelangen, an denen Träume Realität wurden, weil sie einfach wunderschön sind.

Ich war Anfang 50 und du gerade wenige Wochen im Kindergarten. Daran erinnere ich mich noch so genau, hatte ich mich doch schweren Herzens von dir verabschiedet, nachdem du mir in deiner liebenswerten Art ein selbst gemaltes Bild mit auf meine Reise gabst mit den Worten: Großmama für dich, das blaue Meer und die Sonne, da fährst du doch hin und da hinten, da schwimme ich, neben dem kleinen Seehund!

Du mochtest damals schon, ebenso wie ich Wasser und Sonne, du liebtest die Bewegung im Warmen, sei es in der Badewanne, sei es im See oder im Meer. Ohne schwimmen zu können, aber völlig frei von Angst planschtest du im Wasser, wo immer du konntest.

Als ich im Flughafen auf meinen Flug wartete, steckte ich dein Bild in meinem Koffer, ganz oben darauf.

Wie immer, wenn ich verreiste, hob sich meine Stimmung und um sie weiter zu steigern, Vorfreude zu genießen, setzte ich mich, nachdem mein Gepäck aufgegeben war, in das kleine Bistro in der Flughafenhalle und trank einen Piccolo.

Ich freute mich sehr.

Mein Flugziel waren die Malediven: schwimmen, tauchen ins Meer und die Gedanken, träumen, Abstand nehmen, Kräfte sammeln, allein sein mit mir.

Du weißt, Anna, eine meiner größten Leidenschaften ist, nein, sagen wir besser war, das Reisen; Neues, Unbekanntes, Sinne, Wissen erweitern, Erfahrungen sammeln, Unbekanntes erforschen, offen sein für neue Gedanken, Gefühle. Ich hatte schon damals viel gesehen, viel erlebt und freute mich dennoch oder eben gerade deshalb wie ein Kind auf die Inseln, mein kleines Inselchen, das ich bereisen wollte.

Fast berauscht ging ich zum Abfluggate und suchte mir einen Platz unter vielen.

Dabei sah ich Paul, sein Name könnte auch Max oder Moritz gewesen sein. Heute wäre es gleichgültig. Inmitten der an die Hundert Fluggäste saß er in hellbeiger Lederjacke, mit leicht gekrümmtem Rücken, den starrem Blick auffallend ins Nichts gerichtet.

Für den Bruchteil einer Sekunde nahm ich ihn wahr und erinnere mich an meinen flüchtigen Gedanken, er gefällt mir und dann sofort, nein, keinen Mann mehr.

Er war jung, jünger als ich, schwer zu schätzen, denn seine dunklen Haare durchzogen graue Strähnen und mein Abstand zu ihm betrug etwa zwanzig Meter. Sein ernstes Gesicht Ruhe ausstrahlend, blieb in meinem Kopf haften, wenn auch nicht bewusst, denn weinige Zeit später bereits gemütlich in meinen Sitz kuschelnd, hatte ich den jungen Mann vergessen.

Bis zu meiner Ankunft in Male, Hauptstadt der Malediven.“

Großmutter hält inne und Anna sieht an ihrem entrückten Blick, dass sie nicht mehr den See vor ihren Augen hat, sondern das Meer, das ruhige endlos blaue Meer, den indischen Ozean.

„In Male entstiegen alle Passagiere der großen Maschine und wurden in kleine Propellermaschinen verteilt, die die einzelnen kleinen Inseln ansteuerten.

Ich konzentrierte mich darauf, den Namen ‚meiner’ Insel zu hören, es war schwer, denn die Namen waren undeutlich und für unsere Ohren nicht leicht zu verstehen.

Ein Flugzeug nach dem anderen startete und zurück blieben immer weniger Touristen, alle waren bereits in der Luft zu ihrem Endziel außer zwei Pärchen, dem jungen Mann vom Abfluggate und mir. Ich registrierte Paul erneut.

 

Nach halbstündigem Flug wurden wir auf bewegter See schaukelnd in ein wackeliges Holzboot verfrachtet und landeten müde, aber im Inneren aufgeregt, auf Kuamati.

Eine freundliche Reiseleiterin empfing uns und verteilte die Zimmer.“

Großmutter unterbrach einen Moment.

„Ich erzähle dir das zunächst Unwichtige, Anna, weil es rückblickend doch nicht unwichtig war, es war wie Schicksal und niemand, am wenigsten ich, wusste in diesem Augenblick warum.

Die Reiseleiterin dachte nämlich, Paul und ich seien ein Paar und wollte uns in ein gemeinsames Zimmer stecken.

Ich merkte es noch nicht einmal. Paul meinte in seiner ruhigen Art:

 Moment mal, wir gehören nicht zusammen, wir reisen getrennt, wir kennen uns nicht.

 Ach so, entschuldigen Sie bitte vielmals.

Die Reiseleiterin war sichtbar beschämt.

Wir erhielten unsere Zimmer zugewiesen, auf die wir warten mussten, denn sie waren angesichts des frühen Vormittags noch belegt.

Die Szenen laufen, obwohl fast dreißig Jahre her, wie ein Film in mir ab, an jede Minute meine ich mich erinnern zu können.

Übermüdet, vom langen Flug entnervt und leicht überdreht trafen sich alle neu Angekommenen, zwei Pärchen, Paul, dessen Namen ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste und ich uns zum Kaffee an der Hotelbar.

Jeder erzählte, nur Paul war schweigsam.

Erst langsam, alle hatten kurz erwähnt, warum ausgerechnet die Malediven, meinte Paul beiläufig in stark hessisch-bayrisch gemischtem Dialekt: mei Freundin wollt nit mit, da bin i hoalt ellans gefoarn.

Selbst schuld.

Ich musste genau hinhören, um ihn zu verstehen.

Aha, er hat eine Freundin, der Nette. Mehr dachte ich nicht.“

Am darauf folgenden Tag sah ich Paul flüchtig am Abend, als er sich zum Sonnenuntergang an einen der freien Tische am Meer setzte, ich saß an einem der Nachbartische und sah dem Spiel der Wellen zu.

Ich registrierte seine Anwesenheit und ein vages Empfinden des Angenehmen, wenn ich ihn wahrnahm. Gleichzeitig sperrte sich etwas in mir, einen längeren Blick zuzulassen.

Auch am nächsten Tag war Paul tagsüber für mich unsichtbar und erst gegen Abend nahm er wieder seinen Platz am Meer ein.

Während kurze Zeit später Mantarochen als Attraktion zur Fütterung bis zum Ufer schwammen und sich elegant um die Beine der herbeiströmenden Touristen schlängelten, ich mit Kamera aufgeregt dazwischen, streifte mein Arm für einen Sekundenhauch Pauls Arm, so dass er kaum erspürbar zurück zuckte, als sei er mir zu nahe getreten, seinen Körper fast unmerklich krümmte, um mich nicht zu berühren.

Ich verbrachte den Rest des Abends mit meinem Cocktail an meinem Tisch und Paul an seinem vier Meter von mir entfernt.

Am dritten Tag – ich hatte Paul seit Beginn unseres Inselaufenthaltes zu keiner der Mahlzeiten gesehen – tauchte er erst am späten Nachmittag wie aus einem Sonnenschleier auf. Er saß, als ich auf einen Tisch für meinen Sundowner-Cocktail zusteuerte, entlang meines Weges an einem Tischchen mit Korbsesseln und blickte mich mit einem schüchternen Lächeln an, ein Lächeln, das mir spontan den Mut gab zu fragen, ob ein Platz frei sei.

Selbstverständlich. Ein Wort mit einem Lächeln und einem Ausdruck, der mich blitzartig durchzuckte.

Halb verlegen, halb Selbstbewusstsein darstellen wollend.

Ich setzte mich zu ihm. Kaum hatte ich Platz genommen, stand Paul auf und holte mir ein Kissen aus einem anderen Sessel, um es mir an den Rücken zu legen.

Ich war gerührt, Anna, und ich werde diese Szene in meinem Leben nicht vergessen, denn ich habe Pauls Fürsorglichkeit auch später nicht zu schätzen gewusst und konnte mir das nie verzeihen.

Annas Großmutter hält inne.

Langweile ich dich, Anna? Du schaust, als hörtest du mich nicht mehr.

Anna genoss in sich gerade eine Art Ablenkung von ihren eigenen Sorgen. Ablenkung einerseits, Neugierde und Staunen andererseits über Großmutters Mut zum Erzählen.

Nein, Großmama, ich höre sehr wohl, was du erzählst, bitte, sprich weiter.

Paul und ich redeten an diesem Abend bis spät in die Nacht, er löste seine Zunge mit Bier ich mit Rotwein. Wir packten gegenseitig unser Leben aus und ich erfuhr, dass Paul zu dieser Zeit 39 Jahre alt war. Zum ersten Mal bemerkte ich seine Hände. Paul hatte für mich die schönsten Hände der Welt. Ohne Fingernägel. Eine Form der Psoriasis hatte Pauls Nägel zerstört, über ein derartiges Krankheitsbild hatte ich bisher noch nichts gehört und insgeheim bewunderte ich Paul, wie gelassen er damit umging, wenn auch seine Hände, wie ich später feststellte, meist so ineinandergelegt vor ihm lagen, dass die Fingerkuppen nicht zu sehen waren. Pauls Stimme war tief und leise und ich mochte sie gleichermaßen wie seine Hände, seine Augen und seinen Blick.

Wir verließen als letzte Gäste den Gastronomiebereich und verabschiedeten uns mit einer kurzen Umarmung, bevor Paul zu seinem Landbungalow ging und ich zu meinem Wasserbungalow. Der Wasserbungalow verwirklichte einen Traum für mich.

Du weißt, Anna, wie ich das Wasser liebe, das haben wir beide gemein, die Liebe zum Wasser verbindet die Seelen der Menschen. Es sind ganz bestimmte Menschen, die sich vom Wasser angezogen fühlen. Vermutlich würden wir auch heute nicht so lange hier am See sitzen, wären wir nicht vom Wasser fasziniert.

Die Ruhe in der Bewegung.

Das ist es, was mich anzieht.

In meinem Bungalow auf Kuramathi lebte ich im Paradies, ein Bett, von dem aus ich den freien Blick zum Meer genießen konnte und, drei Meter vom Bett entfernt, begann mein Balkon, von ihm führte eine schmale Treppe direkt ins glasklare Meer. Wenn ich, wie jeden Morgen und jeden Abend, ein kleines Stückchen vom Meeresufer hinausschwamm, waren alle meine Sinne aufs Höchste erfüllt: ich betrachtete mir während der ruhigen Schwimmzüge den leuchtend weißen Sandstrand, darüber die Kokospalmen am nahen Horizont, den Geruch tropischer Feuchte und ein flüsterleises Wellenkräuseln. Schöneres konnte ich mir nicht vorstellen.

Am nächsten Tag suchte ich Paul eher unbewusst, denn das bewusste Suchen verbot ich mir. Mein fester Wille: keine neuen Gefühle, keine neuen Probleme, keine Unruhe und Aufregung ums Herz.

Abends traf ich ihn wieder am gleichen Tisch und das gleiche Ritual vollzog sich: ich fragte, ob ich mich setzen könne, er nickte und wir begannen unser Gespräch, das inhaltlich ein Austausch unserer Lebenserlebnisse war.

Zu späterer Stunde begann eine Live-Band zu spielen und wir tanzten auf Holzpaletten über dem Meeresufer. Ich quälte mich auf hochhackigen Schuhen und in einem engen schwarzen Rock zu fetzigen Rhythmen bis Paul meinte, ich solle doch die Schuhe ausziehen. In Pauls Armen zu tanzen, war wie Schweben. Das Meer hinter uns und um uns schwarz, glänzend und in seinem leisen monotonen Rauschen wie ein vollendeter Beiklang zur Musik.

Wenn du solche Momente erlebst, Anna, halte sie fest. Lass’ sie nie mehr aus deinem Herzen. Bewahre sie. Daran, wie ich dir heute hier am See über diesen Abend vor über zwanzig Jahren erzähle, erkennst du vielleicht die Wichtigkeit des Augenblickes und wirst verstehen, wenn ich ein Gefühl der Dankbarkeit für diesen Abend des Tanzens am Meer in meiner Erinnerung aufbewahre.

Annas Großmutter hatte wie im Rausch gesprochen, schnell und doch von kleinen Gedankenpausen durchbrochen.

Anna fühlte sich von Großmutters innerer Bewegung teils berührt, teils empfand sie es aber fast als peinlich, die Großmutter in so starken Gefühlen zu erleben.

Deshalb hing eine Zeit lang Schweigen zwischen ihnen bevor Großmutter fortfuhr, ihre Tränen hatte Anna aus den Augenwinkeln wahrgenommen.

Bis zu unserem Abflug von Kuramathi blieben uns noch drei Tage, nein, Abende, denn nach wie vor sah ich Paul frühestens nachmittags, während ich tagsüber ununterbrochen an ihn dachte und wie ein junges Ding hoffte, ihn zu treffen. Ich suchte mit den Augen den Strand ab, schaute auf den Sandwegen zu den Bungalows und dem Restaurant nach ihm, betrachtete die Touristengesprächsgruppen, ob er vielleicht darunter steckte und ich ihn übersehen hatte. Ich sah ihn bis auf ein einziges Mal nie am Tag. Und das, obwohl die Insel so klein ist, dass du jeden Meter zu Fuß erreichen kannst und die Strände so nah beieinander liegen, dass du von einem zum anderen blicken kannst.

Ich fragte ihn auch nicht, wo er denn sei, denn ich wehrte mich gegen Gefühle, mein Verstand stemmte sich dagegen, obwohl sich mein Herz schon lange verselbständigt hatte. Ich wollte keine neue Liebe und konnte mich dennoch nicht wehren.

Paul erschien nicht zu meinen Zeiten zu den Mahlzeiten, deshalb trafen wir uns nicht während des Frühstücks oder des Lunchs in dem Restaurantgebäude. Paul frühstückte morgens früher und ließ – mir nicht begreifbar – die restlichen Mahlzeiten ausfallen.

Er bevorzugte Bier.

Abends erzählte er von seinen Spaziergängen um die Insel.

Ich sah ihn während der Tage auf Kuramathi nie in Badehosen, stets trug er Hemd und Hose. Er teilte auch nicht meine Liebe zum Wasser. Ich schnorchelte und, Anna, noch nie sah ich so viele, so bunte, so schillernde und schöne Fische bei jedem Schnorchelgang wie in diesem Meeresstückchen um das kleine Inselparadies. Ich war berauscht von Meer und Fischen. Und ungewollt und jeden Tag mehr von Paul.

Am vorletzten Abend gab es eine organisierte Tour in einem kleinen Bootchen zum Sonnenuntergang mit Sektumtrunk. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass Paul mit hinausfuhr, traute mich jedoch nicht, ihn am Abend zuvor darum zu bitten. Die Anmeldung zur Bootstour tätigte ich nach dem Frühstück und den restlichen Tag bis zur Abfahrt um siebzehn Uhr verbrachte ich in ununterbrochenem Hoffen, Bangen, Warten, ob Paul dabei sei.

Er war nicht dabei und ich merkte allein im Boot unter verliebten Pärchen und fröhlichen Menschen, wie er mir fehlte. Er fehlte mir zum ersten Mal und später, bis zum heutigen Tag, Anna, noch viele, viele Male. Eigentlich immer. Ich spürte, während die Sonne glutrot hinter dem dunklen Meereshorizont versank, wie ich meinem Sehnsuchtsgefühl eigene Schuld zumaß, weil ich nicht mutig genug war, ihn um Teilnahme an der abendlichen Fahrt zu bitten.

Während der ganzen Woche bewahrte ich meine Zurückhaltung, um keine Bindung entstehen zu lassen, kein Interesse zu signalisieren. Paul war fast 15 Jahre jünger als ich. Undenkbar für eine Beziehung. Dieses Selbstbewusstsein, jüngeren Frauen stand zu halten, besaß ich nicht.

Wenn ich sehe, wie du mich von der Seite anlächelst, Anna, glaube ich, du verstehst, was ich meine. Stell dir vor, ich bin nun fünfundsiebzig Jahre alt und Paul wäre nun sechzig, klingt das nicht sonderbar? Ein Mann, im Alter, in dem viele nach Vierzigjährigen suchen und eine Frau, die langsam an den Tod zu denken beginnt.

Nein, das habe ich mir nicht vorstellen können.

Annas Großmutter schweigt wieder sehr lange.

Anstatt, dass ich mich traute, das Leben zu leben, ich Dummkopf.

Sie redet wie zu sich selbst, denkt Anna.

Ich erzähle dir nun meinen Traumurlaub zu Ende. Traumurlaub habe ich die Tage immer genannt.

Am Tag vor unserer Heimreise begegnete mir Paul zum ersten und einzigen Mal gegen Mittag, ich hatte kurz zuvor eine ungewöhnlich große Qualle am Strand entdeckt, sie bestaunt und gleichzeitig an Paul gedacht, wie im Grunde von morgens bis abends seit Tagen. Zigarette rauchend schlenderte er mir entgegen, mein Herz konnte nicht höher schlagen und mein Puls nicht schneller rasen. Dabei versuchte ich äußerlich ruhig und demonstrativ gleichgültig aufzutreten.

Du hier? –

Ich sprudelte verlegen von der Qualle los und anstatt sie Paul zu zeigen, ihn hinzuführen und so im Kontakt zu bleiben, stotterte ich etwas von ‚da hinten ist eine Riesenqualle, musst du dir unbedingt anschauen….’ ließ ich ihn stehen und lief zutiefst von meiner eigenen Feigheit enttäuscht weiter, einfach von ihm fort.

Paul und ich verbrachten auch den letzten Abend gemeinsam am Meer bei Bier und Rotwein und viel gegenseitigem Gefühl. Er sprach immer wieder von seiner Freundin und seinen Beziehungsproblemen mit ihr, dem Sohn der Freundin, der an erster Stelle stünde, wir hatten uns abwechselnd zugehört gingen jeden Abend als letzte der Hotelgäste zu unseren Bungalows, Paul umarmte mich dabei und unser Abschied unter den Palmen, wenn sich unsere Wege trennten, war täglich länger und intensiver geworden, und doch blieb er voller Vorsicht und Unsicherheit. Keiner wagte den Wunsch auszusprechen, die Nacht miteinander zu verbringen. In meinem Inneren gab es nichts, wonach ich mich mehr sehnte. Doch behielt ich es für mich.

 

Am Flughafen versuchte ich, unsere Tickets für den Rückflug auf Plätze nebeneinander umzubuchen. Mit Erfolg. Ich hatte ein Glücksgefühl darüber, das mich ängstigte.

Schließlich bestand eine enge Bindung zu Rolf zur damaligen Zeit; ich hatte öfter von der Insel aus mit großen Telekommunikationsproblemen mit Rolf sprechen können und jedes Mal mit schlechtem Gewissen das Gespräch beendet, er hatte sich zur damaligen Zeit gerade seiner dritten Tumoroperation unterziehen müssen, deren Verlauf nicht einfach gewesen zu sein schien, Anna. Meine Beziehung zu Rolf damals war distanziert, ich fühlte mich überfordert und meine Unterstützung wurde von ihm nicht ausreichend gewürdigt, innerlich war ich verletzt und obwohl Rolf, der Schwerkranke, all meine Hilfe hätte nötig gehabt, hielt mich diese Tatsache nicht davon ab, Paul jeden Tag mehr zu mögen.

Und du hattest kein schlechtes Gewissen dabei, Großmama?

Anna wirft einen kritisch-fragenden Blick auf ihre Großmutter.

Ich trug lange Zweifel und auch manchmal Reue in mir, doch überwog Pauls Anziehungskraft alles andere. Jetzt kann ich dir aus dem, was später alles geschehen ist, mehr sagen, vieles erklären, doch höre meine Geschichte zunächst weiter.

Ein Frage, Großmama: ich bin, wenn du erzählst in einer ähnlichen Situation, ich habe eine Beziehung verloren, ich habe mich von Daniel, den ich sehr liebte, getrennt, weil ich… glaube, Tim noch viel stärker zu lieben. Ein reines Bauchgefühl, durch nichts zu begründen, ich leide und liebe gleichzeitig, wie komme ich da heraus, Großmama? Wie?

Mit meinen Freundinnen kann ich darüber nicht reden. Ich habe es versucht und hatte das Gefühl, keine kann mich verstehen. Besonders, wenn ich mich über meine Ambivalenzen und Zweifel äußere, schauen sie mich mit großen Augen an und sagen, ich wäre unmoralisch, egozentrisch und so und würde Daniel, der so lieb und treu ist, nicht verdienen, ja, so nennen sie meine Haltung. Keine denkt auch nur eine Sekunde daran, dass ich an der Situation auch leide.

Vielleicht hilft es zu wissen, Anna, dass du nicht die einzige in einer solchen Situation bist. Heute bin ich der festen Überzeugung, es gibt Tausende, Männer wie Frauen gleichermaßen, die Beziehungen beenden, Trennungen in unglaublicher Härte vollziehen und nicht wissen, was richtig, was falsch ist, die zwei Männer lieben oder Männer eben auch Frauen gleichzeitig lieben und nicht weiter wissen. Du bist nicht allein, Anna, tröstet dich das?

Entscheidungen nimmt dir niemand ab, die musst du selbst treffen, und wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen, musst du auch selbst damit leben lernen.

Das kann sehr schmerzhaft sein, für immer weh tun. Die Sätze klingen wahrscheinlich hart für dich, ich kann sie nicht anders formulieren, ich habe sie selbst durchlebt, sie fassen Leben zusammen.

Vielleicht verstehst du mich besser, wenn ich meine Geschichte weiter erzählt habe.

Ich konnte gegen mein Gefühl zu Paul nichts tun. Ich konnte nichts anderes tun als es zuzulassen.

Wir saßen gemeinsam nebeneinander auf dem Rückflug von den Malediven im Flugzeug und der Flug über den Wolken glich einer Reise im Himmel, so selig fühlte ich mich.

Es ist schwer zu beschreiben, doch allein das Anlehnen meines Kopfes an Pauls Schulter ließ Glücksgefühle hoch kommen, die ich nicht mehr kannte.

Paul rauchte, und wenn er für eine Zigarettenlänge in den Raucherteil des Flugzeuges seinen Platz neben mir verließ, fehlte er mir und ich wartete sehnsüchtig auf seine Rückkehr, denn ich zählte die Minuten, die uns von der Landung trennten: sobald wir Boden unter unseren Füßen hatten, gingen wir in unser altes Leben zurück und getrennte Wege. Daran vermochte ich nicht zu denken. Hatten wir auch viel an den gemeinsamen Abenden am Meer voneinander kennen gelernt, ich kannte sein vollständiges bisheriges neununddreißigjähriges Leben, so haben wir Gespräche über die Zukunft ausgeblendet, denn Paul hatte Carla und ich wollte meine, wenn auch sehr distanzierte und relativ unverbindliche Beziehung zu Rolf fortführen. Etwas anderes gestand ich mir nicht ein. Es existierte etwas in der hintersten Ecke meines Herzens, doch versuchte ich, kein winziges Gefühlsteilchen davon Raum greifen zu lassen. Ich hatte Angst vor mehr.

Wir landeten und ich konnte meine Trauer kaum verbergen.

Am Gepäckband im Flughafen passierte etwas Sonderbares.

Ich wollte mich möglichst flüchtig, weil innerlich den Tränen nahe, verabschieden, die Adressen hatten wir im Flugzeug ausgetauscht, um uns gehen lassen zu können, wenn der erste seinen Koffer bekommt.

Wir wurden beide erwartet, Paul vom Vater seiner Freundin, da sie die Fahrt zum Flughafen scheute, worüber ich innerlich leicht abfällig lächelte, ich gebe es zu. Ich wurde von deiner Mama erwartet.

Paul erhielt als einer der ersten seinen Koffer. Er stellte ihn neben sich, beachtete ihn nicht weiter, zündete sich seelenruhig eine Zigarette an und blickte mich an, mir wurde fast schwindelig vom Abschiedsschmerz, der für immer sein konnte. Die Angst davor saß tief.

Gehst du nicht?

Nein, ich habe noch Urlaub, war seine Antwort. Und immer wieder sein tiefer, ruhiger, langer, fester Blick in meine Augen.

Diese Szene hat sich mir in mein Herz gegraben, Anna.

Es sind kleine Dinge im Leben, die je weiter sie zurück liegen, umso größer werden.

Dass du das alles noch so genau weißt, Großmama, wie viele Flüge machtest du, wie häufig standst du am Kofferband! Und wie ewig ist es her.

Es war der Anfang einer großen, meiner intensivsten und schönsten Liebe, das ist das Entscheidende.

Paul sagte nicht, ich warte auf dich, er drückte sich subtiler aus, das tat er später oft, eine feine Art seiner Sensibilität.

Er sagte, ich habe noch Urlaub, nicht auf mich bezogen und doch nur für mich gemeint.

Wir mussten lange auf meinen Koffer warten und verließen gemeinsam das Flughafengebäude, direkt in die Augen und Arme deiner Mama, Anna.

Das ist Paul, wir haben uns auf der Insel kennengelernt.

Ein skeptisches freundliches Lächeln deiner Mama, weiter nichts.

Es folgte ein kurzer Abschied mit einer angedeuteten Umarmung. Irgendwie hatte uns der Alltag schon umfasst, wir waren nicht mehr allein mit uns, die alte Welt holte uns ein.

Man sieht sich. Das war’s.

In den Stunden danach musste ich mich finden, sammeln, sortieren.

Zurück kehren in mein früheres Leben, zurück zu meiner Sorge um Rolf und zu dem Vorsatz ihn in der Klinik zu besuchen, in der er seit Tagen nach einer komplizierten Halsoperation lag.

Ich fuhr in die Klinik, nachdem ich deine Mutter an ihrer Wohnung ausgeladen hatte und traf am Krankenbett einen schwerkranken Mann, an Kabel und Schläuche gebunden, sich nicht bewegen könnend; der auch nicht sprechen, sondern nur leise röchelnd

sich verständlich machen konnte. Nur seine Augen leuchteten auf, als ich mich zu ihm beugte und ihn über sein verklebtes, ungewaschenes Haar streichelte.

Ich war zutiefst erschüttert und berührt und mit einem fast nicht aushaltbaren schlechten Gewissen belastet.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?