Verschwunden

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Ein Sturm teils wutentbrannter Beschwerden gegen die Gesetzesänderung und ihre offenbar überrumpelnde Eile ist dokumentiert. Auslöser sind fehlende personelle Voraussetzungen für die Umsetzung in den Ämtern. »Durch die bisherige Kürzung des Stellenplanes in dem Referat Mutter und Kind konnten die Aufgaben im Vormundschafts=, Pflegschafts=, Beistands=, Adoptions= und Pflegekinderwesen trotz Einsatzes aller Kräfte und laufender Überstunden nicht so erledigt werden, wie dies wünschenswert ist und in unseren Gesetzen angestrebt wird«,27 meldet die Delitzscher Abteilung Mutter und Kind am 16.1.1953 an die regierungsamtliche Kontrollstelle für die Arbeit der Verwaltungsorgane. »Ein unmöglicher Zustand aber ist dadurch eingetreten, dass auf Grund der ›Verordnung‹ [...] Aufgaben übernommen werden mussten, ohne dass eine neue Planstelle bereits geschaffen wurde.« Im Interesse Minderjähriger müssten Arbeitsbedingungen geschaffen werden, »die wenigstens als einigermaßen normal angesehen werden können«. Angesprochen wird zudem die fehlende Kompetenz. »Eine Bearbeitung der vom Gericht übernommenen Fälle konnte bisher so gut wie gar nicht erfolgen. Bei den übernommenen Vorgängen handele es sich teils um äusserst komplizierte Rechtsgeschäfte, die keinesfalls nur flüchtig bearbeitet werden dürften. »Diese schwierigen Fälle wurden bei den Vormundschaftsgerichten nicht einmal von den Rechtspflegern, sondern von den Vormundschaftsrichtern bearbeitet.« Eine Nachfrage habe ergeben, dass in den Nachbarkreisen gleiche Schwierigkeiten vorlägen. »Abschließend erlauben wir uns nochmals darauf hinzuweisen, dass die Bearbeitung nicht von Laienkräften, sondern durch eine qualifizierte Kraft erfolgen muss.«

Überforderung bis zur Empörung. Der Grimmaer Kreisarzt verlangt die »Einschaltung« des stellvertretenden Ratsvorsitzenden und informiert fünf Referate und Abteilungen, »denn die Abt. Gesundheitswesen muss es restlos ablehnen, in irgendeiner Form für die Folgen haftbar gemacht zu werden, die durch das ›Quirlen eines weiteren Koches im Brei‹ entstehen. Ein größeres Durcheinander dürfte wohl kaum jemals entstanden sein«.28 Er zeigt sich »felsenfest davon überzeugt, dass noch vor Ostern die ersten Beschwerden wegen nicht gezahlter Unterhaltsgelder hier eingehen. Ich bitte mir verbindlich mitzuteilen, welcher Stelle diese Beschwerden zuzuleiten sind, denn ich stehe auf dem Standpunkt, dass der sich damit auseinander setzen soll, der dieses unheilvolle Durcheinander angestiftet hat. Es versteht sich von selbst, dass ich als Kreisarzt und selbstverständlich auch unsere Referatsleiterin von Mutter und Kind die Verantwortung für die hieraus resultierenden Klagen, um keinen härteren Ausdruck zu gebrauchen, restlos ablehnen muss«.

Übergangsprobleme aufgrund versäumter Vorbereitung, die sich nach und nach lösen lassen? Auch weiterhin wird die Jugendhilfe sich im Kreis nichterfüllbarer Ziele und Zuständigkeitskonflikte drehen. Intern beklagte fachliche und organisatorische Unzulänglichkeit wird chronisch, Anforderungen seitens der Justiz kann nicht entsprochen werden. Nach Kontrollen wird auffallend häufig die prophylaktische und fürsorgende Funktion innerhalb des Aufgabenspektrums angemahnt, ohne dass diesen vorrangigen, nur zu gern als »vornehm« bezeichneten Aufgaben im Interesse von Familien und Einzelnen entsprochen wird.

1952. Auf der 2. Parteikonferenz der SED wird die »Staatsmacht« als »Hauptinstrument« beim planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR propagiert. Die Überbetonung von Staat und Partei hat im Laufe der Jahre und Jahrzehnte nicht wenig dazu beigetragen, dass Menschen vom »Glauben« an den Sozialismus abrückten und eine offenkundige Diskrepanz sich im Gefühl vieler verankerte. Im Zuge der zugleich angekündigten »weiteren Demokratisierung« sollen Arbeitskräfte des Staatsapparates freigesetzt werden »für die Produktion«, breite Schichten der werktätigen Bevölkerung wiederum »herangezogen« werden für Aufgaben des Apparates, halten Arbeitspläne des Rates der Stadt Leipzig fest.29 Voran kommen auch längerfristig weder die erforderliche Qualifikation der Mitarbeiter noch Zuordnung und Fokussierung der Arbeitsaufgaben in der Jugendhilfe. Nach einem an das Ministerium für Volksbildung gerichteten Beschwerdekatalog des Generalstaatsanwalts über die mangelhafte Arbeit der Referate Jugendhilfe der Kreise Leipzig-Stadt und Leipzig-Land vom 7.7.1958 legt der zuständige Referatsleiter am 19.8.1958 Rechenschaft ab. Vordergründig stehen notorische Terminüberschreitungen in Jugendstrafsachen zur Debatte, wodurch sich Verfahren verzögerten, abgesetzt oder ohne die erforderliche Zuarbeit der »Jugendhilfe« durchgeführt werden mussten. Doch die Kritik der Generalstaatsanwaltschaft ist umfassend. »Tatsächlich haben sich aber Fälle gehäuft, in welchen zwei bis vier Monate vergingen, ehe die Jugendhilfe die Ermittlungen bearbeitete und abschloß. Durch diese Verzögerungen waren Mahnungen von Seiten der Staatsanwaltschaft und der VP erforderlich«, bestätigt der Referatsleiter die ergangenen Vorwürfe. Ebenso dass »Sorgerechtsangelegenheiten (Entzug des Sorgerechtes, Ruhen der elterlichen Gewalt u. a.) mangelhaft bearbeitet oder nicht durchgeführt wurden«.30 Ein Grund dafür: Mitarbeiter würden »in nicht zu vertretendem Maße in Arbeiten außerhalb des Aufgabenbereichs eingesetzt. [...] Die Mängel in der Arbeit der Jugendhilfe zeigen sich aber nicht nur in der Jugendgerichtshilfe, sondern auch in anderen Teilgebieten, wie zum Beispiel in der Erfüllung der Stellungnahmen zur Sorgerechtsregelung in Ehescheidungssachen, in der Beschwerdebearbeitung sowie in der Einhaltung der Termine allgemein«. Dem Referatsleiter bleibt nur zu bestätigen, dass die Arbeit auf seinem Aufgabengebiet »in den vergangenen Jahren laufend zu Beschwerden Anlaß gegeben« habe, doch verweist er auf die ungenügende »Qualität der Mitarbeiter«. »Diese hat sich zwar mit der Reduzierung der Planstellen etwas gebessert, dass dabei auch einige schwache Kräfte ausgeschieden sind. Aber auch bei den verbleibenden Mitarbeitern liegen noch ernsthafte Mängel in dieser Beziehung vor.«31

Nach Tagungen in mehreren Stadtbezirken ein »Zwischenbericht« der städtischen Abteilung Volksbildung an die Bezirksebene. »Eine Veränderung auf Grund der durchgeführten Ratssitzungen ist in den Referaten Jugendhilfe nicht zu spüren«, hält der amtierende Stadtschulrat fest. »Trotz gegenteiliger Hinweise werden sogar Planstellen gestrichen, so in Süd, Nordost, Südost und Nord. Die Kollegen des Stadtbezirks Nord haben sogar die Absicht, in Zukunft die Stelle des Referatsleiters einzusparen. Sie wollen seine Aufgaben im Kollektiv mit übernehmen.«32

Hartgesottene Eigenmächtigkeit. Die Situation in den Leipziger Stadtbezirken Süd, Mitte und Nordost gilt als »besonders schwierig«. Sorgerechtsregelungen könnten »nur ungenügend bearbeitet werden, um einigermaßen die Frist einzuhalten, was besonders schwerwiegend ist, wenn man bedenkt, dass Sorgerechtsregelungen möglichst endgültig sein sollen. [...] Grundsätzlich kann in den Referaten keine systematische Arbeit geleistet werden ...«33

Eine von Anfang an erschöpfte Gesellschaft? Sie verschleißt sich durch Ideologie und die Fixierung auf »Gefährdungen« einer Jugend, deren angeblichen Kern das verhasste Interesse an westlicher Lebenskultur bildet. Von einem »Zurückbleiben in der operativen Arbeit« berichtet die Jugendhilfe Leipzig an die Bezirksabteilung Inneres. Anlass bieten »Brigadeüberprüfungen« der Referate Leipzig-Land und Südwest in Bezug auf »den Stand und die Bekämpfung der Jugendgefährdung«. Anders als in Westdeutschland sei diese in der DDR »keine Massenerscheinung«34 – was das gewaltsame Vorgehen gegen Treffs Jugendlicher in der Öffentlichkeit, gegen ihre kulturellen Vorlieben oder mutige Demonstrationen im Stadtbild umso fragwürdiger macht –, andererseits wird die »Gefahr« jedoch durch ständige beschwörende Wiederholung eingerüttelt. Die Kontrollbrigaden setzen sich zusammen aus Vertretern der Kommissionen für Volksbildung und Jugendfragen, der FDJ, aus ehrenamtlichen Jugendhelfern, Justiz- und Jugendhilfe-Mitarbeitern. Zu Verheerungen durch »Ehren-Amtlichkeit« später. Erhellend an dieser Stelle die »hauptsächlichsten Ursachen« auftretender Probleme in Heimen. Zwei Drittel der dort untergebrachten Jugendlichen seien Kinder alleinstehender Mütter, die vorwiegend berufstätig sind. Bei einem Drittel der untersuchten Fälle liege Schulbummelei vor, dabei bei jedem zweiten Kind aus häuslichen Verhältnissen, die »in erzieherischer Hinsicht in Ordnung waren«. Der Anteil berufstätiger Mütter bei Sitzenbleibern betrug sogar siebzig Prozent, was den heutigen Schrei nach Kitas nachdenkenswert macht und zu angemessener Deutung von DDR-Kinderbetreuung wie zu früher Trennung überhaupt anregen mag. Die Hälfte aller Heimkinder waren Sitzenbleiber. »Diese Feststellungen decken sich im wesentlichen auch mit der Einschätzung auf dem Gebiete der Jugendkriminalität im Stadtgebiet Leipzig ...«35

Als Ursachen für angeordnete Heimeinweisung nennt der Abschlussbericht zu fünfzig Prozent »überwiegend häuslich erzieherisch unzulängliche Verhältnisse«, die andere Hälfte sei auf »ungenügende Betreuung infolge beruflicher Tätigkeit alleinstehender Mütter, auf Mangel an Hortplätzen, ungenügende Einbeziehung in die Freizeitgestaltung durch die Pionier- und Jugendorganisation« zurückzuführen. Kinder, die politisch unliebsamen Eltern entzogen und eingewiesen wurden, erscheinen dabei nicht, ebenso wenig Heranwachsende, deren Heimerziehung staatlichen Kontrollen zufolge als grundlos beurteilt wurde. Auch über die überfallartig organisierten Kindeswegnahmen wie bei Herrn. K. und Frau S. kein Wort.

 

»Hingabe«, »im allgemeinen gründlich« erfolgende Berichte, »anzuerkennender Einsatz« werden genannt. Misserfolge dennoch. Das System der Jugendhelfer sei auf einem gewissen Stand der Organisierung stehengeblieben, die ehrenamtlichen Helfer würden im Wesentlichen nur mit Berichten über die Erforschung der häuslich-erzieherischen Situation beauftragt. Die Zahl ist sogar rückläufig und die Gewinnung von Betriebsjugendhelfern in den Anfängen steckengeblieben. »Gegenwärtig ist der Zustand in den Referaten der Jugendhilfe in der Regel so, dass die Jugendhilfe erst dann eingreift bzw. einzugreifen in der Lage ist, wenn staatliche Zwangsmaßnahmen erforderlich sind. Damit muß festgestellt werden, dass die prophylaktische und erzieherisch wirkungsvollste Arbeit der Jugendhilfe sehr wenig zur Anwendung und Entfaltung kommt.«36

Diese Klagen rücken die psychische Verfassung damaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Blick. Hohe Reizbarkeit und Verschlossenheit vieler von ihnen im öffentlichen Verkehr, knappe Abfertigung, autoritäre Distanz, die es oftmals unmöglich machte, angstfrei gelöst an Behördengänge heranzugehen, rührten ohne Zweifel auch aus ständigen auslaugenden Zwängen her, die innerlich verhärten oder beschädigen mussten – ausgenommen freilich Mitwirkende, die all dem begeistert und scheinbar mühelos entsprachen, so es sie gab. Bedrückend blieben die perpetuierenden ideologischen Auflagen, weil sich nie jemandem erschloss, wie denn beispielsweise politische und fachliche Aufgaben vollkommen miteinander verschmelzen sollten, ein alchemistischer Vorgang, der sich – weder in der Metallurgie noch im ärztlichen Heilwesen noch in der industriellen Produktion oder wo auch immer – schlicht nicht erzwingen ließ. Die Forderung hatte allein zur Folge, dass Menschen in permanente Verlegenheit gebracht und vor sich lächerlich gemacht wurden, und immer wieder auch sprachen Einzelne Kritik an der üblichen hysterisch-leeren Vorwärtswut, die ohne Hinblick auf erforderliche Kompetenz und deren Sicherung erfolgte, offen aus.

Nicht ausreichend recherchierte, möglicherweise überstürzte Fallentscheidungen werden so vorstellbar auch aus der angespannten Dauerfixierung des Personals heraus, dass sie die Erfüllung vorrangig politischer Auflagen versäumen könnten. Unruhe, die sich auswirkte auf die heruntergefahrene wirkliche Arbeit mit anvertrauten Familien.

Es mag so scheinen, als konzentrierten sich meine Aufzeichnungen auf Dokumente mit besonders oder ausschließlich kritischem Aussagewert. Weder hier noch im Weiteren. Nicht die oftmals überraschenden Inhalte und nicht die enge Abfolge der Alarmrufe aus dem Inneren der Jugendhilfe folgen einer besonderen Auswahl. Zudem: Wer wäre seiner Herkunft gegenüber nicht berührbar, erinnerte nicht gern intakte, Stabilität gebende Lebensumstände, wenn er sie erfahren hat, ein funktionierendes Gemeinwesen mit aufmerksamem Blick auf Menschen, voll »Wärme«, die im Nachhinein zu stärken vermag. Doch es bleibt etwas Ruheloses, das aus »gesetzmäßigen« Gründen – wie sehr Kommunisten dieses Wort doch liebten! – die Sache verdarb. Ein Scheitern an der Unentrinnbarkeit aufgezwungener gesellschaftlicher Zielsetzung, die Recht vermissen ließ.

Dazu die tragikomische Praxis. Das Leben!

Ein weiteres Hindernis bildet die notorisch planlose Planwirtschaft. »Auch die operative Arbeit als des wesentlichsten Mittels, mit dem pulsierenden Leben in aktiver Verbindung zu stehen, ist noch ungenügend entwickelt bzw. ist im Referat Jugendhilfe des Landkreises Leipzig im wesentlichen durch die rigorosen Planstellenkürzungen im Juni 1958 die operative Arbeit fast zum Erliegen gekommen«, schätzt der Bericht der Brigadeüberprüfung weiter ein.37 Gravierend wirkt ein »hoher Ausfall von Arbeitszeiten, weil ein großer Teil der Mitarbeiter zu häufigen Einsätzen außerhalb ihres Arbeitsgebietes herangezogen wurde, wie z. B. 2 Kollegen je 9 Tage zur Überprüfung von Fleischwarengeschäften und Abzug eines Kollegen 14 Tage zur Errechnung von Preisdifferenzen und 5 Kollegen je ½ Tag zum Austragen von Einladungen. An einem Sprechtag – Mittwochnachmittag – wurde sogar ein Mitarbeiter vom Publikumsverkehr weggeholt und eingesetzt zum Zählen von Därmen. Wesentlich mit durch diese Mängel kam es [...] zu der Beschwerde des Generalstaatsanwaltes über das Versagen der vom Referat Jugendhilfe durchzuführenden Jugendgerichtshilfe.« In der Folge »mußte eine Vielzahl von Jugendgerichtsverhandlungen verzögert oder abgesetzt werden. Das hatte zur Folge, daß die Jugendlichen z. T. monatelang auf die Aburteilung warten mußten und indessen in Gefahr kamen, erneut straffällig zu werden. Damit wurde auch das Ansehen unserer Jugendgerichtsbarkeit herabgesetzt«. Unmissverständlich wird hier die mangelhafte »Erledigung der Erforschung der häuslichen Situation der jugendlichen Straffälligen« benannt.38

Lahmende Realisierung. Obgleich von verantwortlichen Stellen auf die steigende Jugendkriminalität hingewiesen wird, reagieren weder die Volksvertretung noch die Räte oder die ständig (herbei-)zitierten ehrenamtlichen und staatlichen Partner darauf; sie alle beschäftigen sich ernüchternd wenig mit Fragen der »Jugendgefährdung«. Als stehe man plötzlich im leeren Raum. Selbst die Abteilung Volksbildung behandelt die Probleme kaum. Notrufe erfolgen. »Die noch verbliebenen Mitarbeiter des Referates haben keinen Überblick mehr über ihr Arbeitsgebiet. [...] Dies bezieht sich insbesondere auf die pädagogische Propaganda, die Anleitung der ehrenamtlichen Jugendhelfer, die Zusammenarbeit mit den Organisationen und die Anleitung und Kontrolle der Aufgaben der Jugendhilfe in den Gemeinden.«39

Der Befund des »Brigadeberichts« ist alarmierend. Es sei nicht gelungen, den Stand der Jugendkriminalität in den vergangenen drei Jahren zu senken, auch Schulbummelei und »das Herumtreiben von Kindern und Jugendlichen« seien verhältnismäßig häufig. Etwa die Hälfte der Delikte und Eigentumsvergehen seien bis auf Ausnahmen nicht durch Not erklärbar. Lösungen für die Zukunft? Stärkere Durchsetzung der marxistischen Konzeption als Grundlage für alle Entscheidungen und Handlungen der Jugendhilfe. Jeder Mitarbeiter soll alle Teilgebiete der Jugendhilfe beherrschen. Vor allem aus Arbeitern der Betriebe sind weitere ehrenamtliche Mitarbeiter zu gewinnen, Jugendhelfer in die sozialistischen Erziehungsaufgaben der Jugendhilfe einzubeziehen.

Ein sofortiger reflexhafter Rückfall in die Abstraktion. Wie sollte eine »stärkere erzieherische Verantwortlichkeit in den Wohngebieten, Gemeinden und Betrieben« aussehen? Zu welchem Klima all das führen? Noch mehr Ausforschung und Kontrolle? Vertrauensschwund untereinander, Schwund von Vitalität hin zu Verkrampftheit des Einzelnen, Erstarrung? In rein politische Richtung zielt die Aufforderung, sich stärker auf »die Auswahl und Qualifizierung der Pflegeeltern und Vormünder zur Gewährleistung der sozialistischen Erziehung der ihnen anvertrauten Mündel und Pflegekinder«40 zu orientieren. Kindeswohl? Auch die »Festigung der häuslich-erzieherischen Verhältnisse« wird genannt, doch vor allem blutlos und beklemmend auf »die Durchsetzung der sozialistischen Erziehung in den der Jugendhilfe unterstellten Heimen« gepocht.

Die »vorwärtstreibende Kraft« des Sozialismus wird zu Sand in überstrapazierten Getrieben. Im Februar 1960 kritisiert der Senat des Bezirksgerichts Leipzig in einem Ehe- und Sorgerechtsbeschluss die »völlig ungenügende« Stellungnahme der Jugendhilfe Delitzsch. Ermittelt werden sollten die Verhältnisse beider Elternteile, ihre erzieherischen Fähigkeiten und die Beziehung des Kindes zu ihnen. Doch »umfaßt die Stellungnahme des Rates des Kreises Delitzsch, Referat Juhi, 4 Sätze, ohne dass aber auch nur mit einem Wort die vorgenannten gesetzlich festgelegten Merkmale erwähnt werden. Denn die Feststellung, dass die Verhältnisse bei den Eheleuten R. nicht sehr günstig seien, sind nach den Angaben der Verklagten ohne jeden Hausbesuch getroffen worden«.41 Der Wohnort des Vaters ist nicht eruiert, die berufliche Tätigkeit der Mutter falsch angegeben. Harsch werden »eingehende Ermittlungen« verlangt, »um diese mangelhafte Arbeit nach über vier Jahren seit Inkrafttreten der Ehe-VO abzustellen«.

Die beanstandete Zuarbeit wurde von einem ehrenamtlichen Jugendhelfer gefertigt. »Der Bericht ist mehr als mangelhaft und sinnentstellend«, nimmt ein Referent der Delitzscher Jugendhilfe dazu Stellung, mehrere Stellungnahmen für das Gericht seien »alles andere als ein Sorgerechtsbericht«.42 Jugendhelfer seien nochmals auf »die Wichtigkeit, Bedeutung der Sorgerechtssachen« hinzuweisen. »In jedem Fall ist mit beiden Elternteilen vom Bearbeiter außerdem eine Aussprache durchzuführen ...« Selbstkritisch wird festgestellt, dass die Jugendhilfe hätte »Hausbesuche durchführen müssen«, jedoch sei kein Kraftwagen dagewesen.

Es fällt schwer, angesichts dieser Zeugnisse an wohlbegründete Sorgerechtsentscheidungen zu glauben, auch die Erfahrungen von Frau S. bleiben dafür zu aufschreckend. Als Jugendhilfevertreter endlich ihre Wohnung in Augenschein nahmen und die Lebensbedingungen ihrer Tochter im Nachhinein nicht beanstanden konnten, änderte das nichts an der Wegnahme des Kindes.

Frau S.

»Ich kümmere mich darum, habe ich immer wieder gesagt, ich höre nicht auf, bis ich sie finde.«

Nach 1989 nimmt Frau S. die Suche nach dem verschwundenen Kind erneut auf. Sie wird herumgeschickt zwischen den Jugendämtern Taucha, Delitzsch und Leipzig. In Leipzig-Schönefeld bekommt sie erste unklare Andeutungen.

»Wir können dir keine Auskunft geben« – sie wird geduzt –, »aber wir geben dir eine Adresse, wo du hin kannst.« Die Gehbehinderte muss von Leipzig-Nordost nach Südwest, damit sie dort neue Telefonnummern und Informationen zur Adoptionsvermittlungsstelle bekommt.

»Immer wieder haben sie gefragt. Wer sind Sie? Wann geboren? Stiefmutter? Vater? Eins ging ins Andere. Sie haben alle meine Verwandten abgefragt, ehe sie überhaupt zu dem Fall, zu Annett kamen.«

Warten. Nachfragen. Warten.

2005 ein Anruf.

»Bleiben Sie ruhig.«

»Was ist?«

»Das sagen wir Ihnen gleich. Sie sind ja ganz aufgebracht.«

»Aber selbstverständlich«, sagt sie. »Ich bin aufgeregt.«

»Halten Sie sich fest«, sagt die Mitarbeiterin, »sitzen Sie? Ich kann’s Ihnen sagen, aber nicht am Telefon.«

Sie wird hinbestellt. Sie reißt die Tür auf. Eine Mitarbeiterin kommt.

»Ich hab was für Sie gefunden.«

»Und das wäre?«

»Ihre Tochter.«

»Wo?«

»In München.«

Mehr nicht. Eine Nachricht, die das Amt »nun hat« und die vermutlich immer bekannt war. Oder: Wie sollte sie je unbekannt gewesen sein?

»Ich hab es Ihnen nur ausgerichtet«, fügt die Angestellte hinzu. Und als Kommentar eines Amtes in junger Demokratie: »Frau S., wir sind auch nicht glücklich gewesen mit’m Juchendammd Taucha!«

Sie erhält den schriftlichen Beweis. Die Stiefmutter hat 1977 unterschrieben, als sie, mit der Polizei, Annett aus der Kindereinrichtung holte.

Woher plötzlich dieses amtliche Wissen? 2005. So wahrhaftig der Bericht dieser Begegnung bis in die Diktion hinein ist, so unglaubwürdig der amtliche Kern. Anzunehmen ist vielmehr, dass zu jeder Zeit bekannt war, »wo« die Tochter »war«. Was für Frau S. nunmehr »gefunden« wurde, war immer da. Wäre das Jugendamt je von selbst auf sie zugekommen?

Frau S. wird aufgebracht beim Erzählen.

»Ich hör nicht auf zu suchen, ich hör nicht auf«, wiederholt sie, als wäre noch 1977, als hätte sie den Kontakt zu ihrer Tochter inzwischen nicht erkämpft.

Obwohl es kein direkter ist. Sie darf ihr schreiben. Sie ist unbändig stolz, aber sie hat sie weiterhin nicht gesehen.

Frau S. ist blond, und hell ist auch ihr Lächeln, ihre Ausstrahlung. Sie erzählt, dass sie ihre Stiefmutter inzwischen angerufen habe, nachdem das Jugendamt endlich mit dem Eingeständnis der Adoption herausrückte.

»Ich hab Annett gefunden.«

 

Die Stiefmutter erwiderte: »Nein, das war ich nicht. Das ist nicht wahr«, und knallte den Hörer auf.

»Ich habe es ihr danach bewiesen, mit dem Schriftstück vom Jugendamt. Steht da deine Unterschrift? Oder ist das etwa meine?« Sie verstummt, richtet sich auf. »Auch andere Verwandte waren wie vom Schlag gerührt, dass ich Annett gefunden habe.«

Das Jugendamt arrangiert eine Begegnung mit der Adoptivmutter. Kaffee. Kuchen. Die Mutter. Die Adoptivmutter. Keine Tochter.

»Du bist ja auch eine hübsche Frau«, sagt die Fremde aus München, bei der Annett als Tochter lebt.

Eine Situation, bei der Frau S. erneut umstandslos geduzt, wenn nicht für unterlegen gehalten wird.

»Nein, ich bin hässlich«, antwortet sie.

Ein Impuls, um das Glatte, Vorhersehbare oder Berechnete der Situation zu brechen. Reaktion auf etwas, das nicht stimmig ist.

Was haben die zwei Frauen dort zusammen verloren? Einer dieser Akte, die sich Versöhnung nennen und Klarheit ersetzen?

Frau S., die lächelt, voll Erwartung war, die nach und nach merkt, dass ihre Freude zu Irritation wird.

Keine Aussprache, wie es zu der Adoption kam, wie die andere Frau heute über das Geschehen denkt. Welches Gewicht die Wegnahme des Kindes immer besitzen wird.

Ist das möglich?

Frau S. hat die Adoptivmutter beobachtet.

»Die Frau wollte ihre Sachen geregelt haben und keinen in der Quere. Sie war – dummfrech, obwohl ich dazu nicht genug weiß, aber ich habe es gesehen.«

War der Tochter abgeraten worden mitzukommen? In ihrem vermeintlichen Interesse? Ist sie verunsichert, scheut vor einer düsteren Vergangenheit im Osten zurück? Darüber wird nicht gesprochen.

Frau S. soll akzeptieren. Hübsch. Hässlich. Schön. Schrecklich. Spätestens nach dem Treffen muss sie merken, dass ihr auf eine Art der Mund gestopft wird. Die achtundzwanzig Jahre verlängern sich weiter. Das bedeutet Wiederfinden.

Der Ablauf der Begegnung, den Frau S. schildert, erinnert an ihre Haltung 1977, als sie sich gegen das Verschwinden der Tochter wehrte. Sie sieht hin, erfasst sofort. Spottet, besitzt flammenden Humor. Auch jetzt verstand sie den Versuch der Beschwichtigung oder Korrumpierung, die Absicht, dass sie beherrschbar bleibe, so wie es bereits bei den vorangegangenen Telefonaten anklang. (»Bleiben Sie ruhig. Sie sind ja ganz aufgebracht.«) Vor allem aber ging es um die Tatsache, die bis heute anhält. Die soll sie akzeptieren.

Die Jugendamts-Mitarbeiterinnen hätten es ansonsten »schön gemacht«, sagt Frau S. überraschend und schweigt danach. Ist das spöttisch gemeint? Nimmt sie im Nachhinein vorlieb mit einem Brocken Kuchenteig? Inzwischen kenne ich sie etwas. Ich höre und sehe die Einsprengsel von Klarsicht, Stolz. Das alles zusammen. Den Mut.

Das Ergebnis ist, dass die Tochter fernbleibt.

Und weiter?

Weiter sei nichts geplant.

Im Jugendamt seien die schlimmsten Verbrecher gewesen, sagt sie. Ich muss lächeln. »Verbrecher« war eine gängige Bezeichnung für die SED in der DDR, besonders Ältere, die mehrere Gesellschaftsordnungen oder -unordnungen überblickten, und uneingeschüchterte Frauen, die kein Blatt vor den Mund nahmen, benutzten sie. Es konnte in einer alten Waschküche passieren oder während ein Großvater Lkw-Ladungen an einer Rampe ablud, dass ich es hörte, von Menschen, die Wertmaßstäbe im Arbeiten und Leben bewahrt hatten durch beide Diktaturen hindurch und damit nicht zu widerlegen waren. Der pauschale Begriff meinte Genaues.

Frau S. hat ein Funkeln in den Augen.

»Wir machen ganz ruhig«, sagt sie. »Ich weiß, dass sie irgendwann kommt. Ich weiß es.«

»Wie kam es, dass Annett in München lebt?«, frage ich.

Sie weiß es nicht. Darüber sei nicht gesprochen worden. Ich frage weiter, ob die Adoptivmutter immer im Westen gelebt haben könnte. Es kostet mich Überwindung, aber ich spreche es aus: Ob das Kind gegen Geld weggegeben worden sein könnte, gegen Bestechung.

»Illegaler Menschenhandel, aber ja. Heute doch auch. Da werden Kinder aus der Wohnung geklaut.« Frau S. und ihr Mann sehen mich aufgebracht an. »Wissen Sie das nicht?«

In den Neunzehnhundertachtzigerjahren leitete ich eine Zeitlang einen Literaturzirkel in dem von staatlicher Seite aus scharf beobachteten Leipziger Kulturhaus »Jörgen Schmidtchen«.43 Bevor wir nach der Veranstaltung auseinandergingen, schwärmte ein Teilnehmer jedes Mal, wie sehr er sich auf seinen kleinen Adoptivsohn freue und dass er ihn jeden Abend liebevoll ins Bett bringe. Die Frage nach der Adoption lag nahe. Er machte kein Hehl daraus. Zwischen Triumph und inniger Befriedigung spielte er uns den Vorgang vor, der zum erfolgreichen Abschluss seiner Bewerbung um ein Kind geführt hatte. Die Angestellte der Adoptionsvermittlungsstelle ging hinaus, er legte – tatsächlich, diese bis zum Überdruss bekannte Methode? – Geld in eine Schublade und ließ sie aufgezogen stehen. Die Angestellte kam wieder herein, schloss die Lade. Das Baby fand zu einem sehnsüchtigen Paar.

Was der glückliche Vater erzählte, erregte uns dennoch, auch seine eigene Haltung dazu. Ihm schien die Sache selbstverständlich, ein Kind käme zu Eltern, die ihm gute Verhältnisse bieten könnten. »Wir hatten das Geld, andere nicht. Also haben wir ein Kind. So läuft es im Leben.« Die Runde schwieg. Wie hatten die bestechliche Bürokratin und er sich erkannt? Ihre beiderseitige Bereitschaft zum Arrangement? Und wie dachten sie voneinander? Oder spielte das keine Rolle? Offensichtlich dachte er so ja gerade nicht. Wir sahen uns an. Es blieb, dass er sich dazu bereit fand.

Weder politische Gründe noch »Asozialität« müssen in diesem konkreten Fall eine Rolle gespielt haben, doch es sollte nachdenklich machen, wenn Uwe Hillmer in einer Fernsehsendung darauf hinwies, Menschen seien oftmals in die Asozialenfalle gedrängt worden. Zwar gäbe es keine Beweise, doch Indizien dafür, dass Kinder an wartende Paare gegeben worden seien.44 Ein trauriger Beweis war die Aussage des strahlenden Vaters im »Jörgen Schmidtchen« gewiss. Lachend gegeben.

Ich frage Frau S.: »Könnte Annetts Adoptivmutter auch aus dem Westen stammen?«

»Ja, das würde ich sagen.«

Ihr Mann: »Da kann man sich aber täuschen.«

Eine Vorwegnahme. Etwas später, nachdem die Akte von Frau S. gefunden sein wird, antwortet der Dezernent für Jugend und Soziales im Landratsamt Muldentalkreis auf meinen schriftlichen Antrag, den Hergang der Kindeswegnahme aufzuklären: Aus den Gesetzen ergebe sich für die leibliche Mutter ein Anspruch auf Beratung und Unterstützung. »Dies erfolgte bereits zur Zufriedenheit der Beteiligten.« Auch das Recht zur Akteneinsicht sei »abschließend geregelt«, eine Einsichtnahme Dritter nicht zulässig. »Nach unserer Rechtsauffassung.«45 Ich werde mich fragen, ob er mit »geregelt« die Kaffeepause meint, ob sie die »Unterstützung« ausmacht. Leider findet er kein Wort zu dem berechtigten öffentlichen Interesse an Diktatur-Aufarbeitung, das ich gleichzeitig anmahne. Stattdessen »Schutz der Betroffenen«. Staatlicher Schutz von Opfern, an denen eben dieses Amt ehemals versagt hat? Und: »Zufriedenheit«.

Wie kann Frau S. das verkraften? Trobisch-Lütge und Bomberg betonen, wie hochsensibel Regimeopfer auf »eine ungenügend deutliche Abgrenzung vom DDR-Regime« vonseiten mancher Therapeuten reagieren.46 »Erhöhte Verletzbarkeit und Ängstlichkeit« bestünden selbst nach einer Therapie weiter. Politische Traumatisierungen ließen sich nicht als individuelle Störungen abtun, es bedürfe eines gesellschaftlichen Diskurses, der die Würde des Opfers wiederherstellt. »Das ist nicht in einer Atmosphäre der Überversorgung der Täter und der Unterversorgung der Opfer zu erreichen.«47

Was erlebte Frau S. 2005, während des arrangierten Treffens mit der Adoptivmutter im amtlichen Rahmen? Wurden ihr Trauma, die daraus entstandene Krankheit dabei thematisiert? Wurde sie mit Achtung behandelt, respektvoll gegenüber dem Erlittenen, der Vielzahl ohnmächtiger Jahre? Sind ihr Weiterleben und Suchen gewürdigt, das erfahrene Unrecht durch das Jugendamt und die staatliche Gewalt ausgesprochen worden? Wie sie kämpfte, um sich aus dem schwarzen Loch der Überrumpelung herauszuarbeiten?

Ist ein einziger Punkt davon mit Ja zu beantworten?

Auch dass es zu einem Neubeginn gekommen wäre, zu einer Stärkung, ist zu verneinen, das Trauma bleibt privat. Der Staat zeigte, dass er sich nicht stellt. Was ist, soll bleiben. Ich wende es hin und her, es bleibt ein Übergriff. Eine Blindstellung. »Wir warn auch nich glücklich.«

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