Buch lesen: «Flieg Gedanke»
Flieg Gedanke
1. Auflage, erschienen 3-2021
Umschlaggestaltung: Romeon Verlag
Text: Sybille und Manfred Specht
Coverbild: Robert Specht
Layout: Romeon Verlag
ISBN (E-Book): 978-3-96229-835-7
Copyright © Romeon Verlag, Jüchen
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Flieg Gedanke
Inhalt
Vorwort
Manfred: Mein Geburtsort
Meine Eltern und Großeltern
Meine Einschulung
Evakuierung
Der Feuersturm am 16. Januar 1945
Kriegsende und Besatzung
Wieder zurück in Magdeburg
Magdeburg wird sowjetische Besatzungszone
Unser Wechsel nach Riesa
Der lange Schatten und der 50. Breitengrad
Studium an der TH Dresden
„Stud. ing. Heinrich Flasche“– ein Schattenspiel
Sybille: Geboren in Sachsen, aufgewachsen in Berlin
Manfred: Studium-Ende und beruflicher Einstieg
Die ersten Tage beim VEB Volksbau
Übersiedlung und Neubeginn
Mein zweiter Berufseinstieg
KB-Chef in Hannover
Sybille: Von der Brieffreundschaft zur Verlobung
Manfred: Ein Berliner Mädel
Lebensbund und Exodus
In bulgarischer Obhut
Zurück in München
Sybille: Der Weg in eine gemeinsame Zukunft
Manfred: Unser Weg zum glücklichen Ausgang
Unser gemeinsamer Lebensweg
Wohnung und Eigenheim in Hannover
Berufliche Herausforderung und Promotion
Sonderfälle im beruflichen Alltag
Umzug nach Koblenz
Ruf nach Berlin
Die ersten Jahre als akademischer Lehrer und Forscher
Unser Zuhause in Berlin und unser Ferienhaus in Schweden
Bürogründung und Wiedervereinigung
Pensionierung
Ansprache zu meiner Verabschiedung als Universitätsprofessor an der Technischen Universität Berlin
Die leise innere Stimme
Unsere wichtigsten Interessensgebiete
Ausklang
Literatur
Danksagung
Vorwort
Immer, wenn wir unsere Geschichte erzählten, unseren Kindern, Enkeln und Freunden vom Reifen unserer gesegneten Verbindung, von unserer Liebe und unserem Kampf gegen die Zwangsgewalt der seinerzeitigen politischen Macht bis zur dankbaren, freien Gestaltung unserer Familie berichteten, wurden wir stets gedrängt: „Das müsst ihr unbedingt alles aufschreiben, für uns, für unsere Nachkommen. Schließlich ist es auch ein erinnerungswerter Teil der deutschen Geschichte.“
Viele Entscheidungen im späteren Leben erhalten ihren prägenden Ursprung bereits in der Vergangenheit. Das Unterbewusstsein, die Intuition, das zweite Gehirn, auch Bauchgefühl genannt, entwickelt sich schon in frühen Jahren durch schicksalhafte Erlebnisse. Als wir mit unserem Bericht begannen, erkannten wir schon am Anfang, dass an bedeutsamen Weggabelungen viele unserer gemeinsam getroffenen Entscheidungen ihre Prägung bereits in frühen Zeiten erhalten hatten. Jeder Gegenwind wollte uns vor allem auf die Probe stellen. Und so entstand dann doch ein Lebensbericht, selbstverständlich und ausführlich mit dem besonders gewünschten fesselnden Teil: ein Buch unseres Lebens.
Dabei beginnt jeder von uns mit der eigenständigen Schilderung seiner familiären Herkunft, seiner Entwicklung, dem Wagnis der Flucht aus der DDR und seiner weltanschaulichen Urteilskraft. Nach unserem voller Zuversicht geschlossenen Bund fürs Leben schildere ich, Manfred, in unser beider Namen den weiteren Weg in unsere gemeinsame Zukunft.
Es möge Euch gefallen.
Übrigens: Unser Lebensbericht ist nicht gendergerecht geschrieben, schon weil wir den Eindruck haben, dass es bei unseren Lesern mit der Sprachbeherrschung gut bestellt ist.
Boppard-Buchholz, im Oktober 2020
Sybille und Manfred Specht
Wir widmen dieses Buch unseren geliebten Kindern
Robert und Andrea,
und den uns ebenso ans Herz gewachsenen Enkeln
Clara, Nicolas und Cristian,
Maximilian und Konstantin
und in herzlicher Zuneigung auch unserer Schwiegertochter
Cristina
und allen mit uns verbundenen
Freunden.
Manfred:
Mein Geburtsort
Dort, wo die Mulde in die Elbe fließt, liegt die Stadt Dessau-Roßlau. Ein urbanes Zentrum im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt. Erst im Jahr 2007 vereinigten sich die beiden Städte Dessau und Roßlau, Dessau am Ostufer und Roßlau am Westufer der Elbe gelegen.
In Dessau, in dieser einst als Ackerbürgerstadt wahrgenommenen Ansiedlung, erblickte ich am 13. November 1937 das Licht der Welt. Bis dahin hatte sich Dessau sehr respektabel entwickelt, von ersten Anfängen als Handelsplatz, man kannte ihn unter dem Namen „Ein-Straßen-Stadt“, bis zum weltbekannten Industriestandort, allen voran die Junkers-Flugzeugwerke mit bis zu 40.000 Mitarbeitern.
Viele haben sicher schon einmal vom „Alten Dessauer“ gehört. Gemeint ist Leopold I., seit 1693 Fürst von Anhalt-Dessau. Er ist beachtliche 71 Jahre alt geworden. Für damalige Verhältnisse und bei seinem militärischen Lebenswandel als Feldmarschall in preußischen Diensten sicher nicht alltäglich. Er kämpfte erfolgreich in drei geschichtlich bedeutsamen Kriegen, wofür ihm der Preußenkönig in der Berliner Mohrenstraße ein Denkmal errichten ließ. Dort kann jeder von Euch ihn noch heute jederzeit besuchen.
Im Januar 1871 trat das anhaltinische Gebiet als Herzogtum Anhalt mit der Hauptstadt Dessau dem seinerzeit proklamierten Deutschen Reich als Bundesstaat bei.
Die kulturelle und politische Offenheit und Fortschrittlichkeit der Stadt zog immer wieder Persönlichkeiten mit neuen Ideen und Weitblick an. Einer der sicher bekannten Zuwanderer in jüngerer Zeit war Walter Gropius, der 1925 das Bauhaus nach Dessau verlegte.
Das Besondere meines Geburtsdatums
Anfang der neunziger Jahre überraschte Peter Plichta die Wissenschaftsgemeinde mit der Aussage, dass dieser Welt ein bisher verborgener, göttlicher Zahlenbauplan zugrunde läge, der durch einen ewigen Primzahlencode verschlüsselt ist. In mehreren Buchveröffentlichungen führt er seine Beweise an, unter anderem seien genannt: „Gottes geheime Formel“ (1) und „Das Primzahlkreuz“ Bd. I – III (2). Dort steht zu lesen: „Hinter den verdrängten Rätseln unserer materiellen Welt steckt ein geheimer Bauplan: ein Zahlencode, bei dem die Primzahlen eine herausragende Rolle spielen.“
So muss es erstaunen und regt zu vielerlei Gedankenspielen an, dass mein Geburtsdatum
13-11-19-37
ausschließlich aus Primzahlen besteht. Was kann das bedeuten? Ist mein Leben göttlich vorbestimmt oder dem Zahlencode eine real existierende Bedeutung zuzuweisen? Eine Antwort kann nur eine wertende Inventur meines Lebens geben, das ich hier nach bester Erinnerung niederschreiben will. Jeder Leser möge sich dann sein eigenes Urteil bilden.
Ich habe einen jüngeren Bruder. Etwa dreieinhalb Jahre nach mir kam Siegfried zur Welt, auch in Dessau, und man lese und staune, auch sein Geburtsdatum besteht ausschließlich aus Primzahlen:
13-3-19-41.
Um diese exzeptionelle Wiederholung gebührend einordnen zu können, muss bedacht werden, dass diese beiden Jahrgänge 1937 und 1941 die einzigen von 1931 bis 1943 sind, demnach über eine Zeitspanne von zwölf Jahren, die überhaupt durchgängige Primzahlen als Geburtsdaten, wie hier vorgestellt, enthalten können. Das klingt vielleicht höchst esoterisch, mysteriös, vielleicht aber auch substanziiert. Jedenfalls verheißungsvoll.
Ein wacher Blick in die Natur lehrt uns Demut und Zurückhaltung, was unser beschränktes menschliches Wissen anbelangt. Dinge, die wir nicht verstehen oder wahrnehmen, müssen noch lange nicht falsch sein oder nicht existieren. Belassen wir es daher einfach bei der dargelegten Feststellung und überlassen es des Schicksals Mächten.
Meine Eltern und Großeltern
Kurz vor Jahresende 1936, zwischen Weihnachten und Sylvester, gaben sich meine Eltern das Ja-Wort. Schaue ich meinen Bruder an und mich, kann ich sagen: Das habt ihr gut gemacht. Die schicksalhaften Stürme der Zeit aber haben diese Ehe zerzaust. Sie wurde 1955 geschieden. Fortan schuf meine geliebte Mutter in heldenmütiger Anstrengung das familiäre Fundament, auf dem mein Bruder und ich unsere Zukunft bauten. Von vielem davon wird noch die Rede sein. Alle in unserer Familie nannten sie nur Mutsch, und so will ich auch hin und wieder diesen Ehrennamen benutzen.
Die Mutsch, Hedwig Prager, wuchs als viertes von fünf Kindern auf einem kleinen Bauernhof in Bad Köstritz im Thüringer Land heran. Sie war gerade fünf Jahre alt geworden und ihr ältester Bruder Walter zehn Jahre alt, als der von langer Hand vorbereitete Erste Weltkrieg ausbrach und ihr Vater, mein Großvater Franz Prager, zur kaiserlichen Marine eingezogen wurde. Hof, Haus, Acker und Stall lasteten nun auf den Schultern der Mutter, meiner Oma, geborene Henriette Nagler. Zum Hof gehörten Hühner und stets war ein stolzer Hahn dabei, ein oder auch mal zwei Schweine, zwei Kühe und ein Ochse als Zugtier. Musste der beim Pflügen des Ackers helfen und die Kirchturmuhr schlug zwölf, blieb er spontan stehen und bestand auf einer einstündigen Stehpause. Anfängliches Antreiben blieb völlig wirkungslos. Auf diese Weise hatten dann auch die Oma und die zu Hilfsdiensten verpflichteten Knaben ihre erholsame Pause. Die Natur ist doch voller Wunder.
Zum Glück kehrte Opa unversehrt aus dem Krieg zurück. Seinerzeit schloss er sich aktiv dem Matrosenaufstand von Kiel an und lehrte auch mich, stets kritisch und abwägend zu sein. Sein Leibspruch war: „Und ist der Schwindel noch so dumm, er findet stets sein Publikum.“
Zu gern wollte meine liebe Mutter Sport treiben. In der Schule fiel sie auch auf diesem Gebiet besonders auf. Aber dafür fehlte einfach in der bäuerlichen Vorstellung und in der damals entbehrungsreichen Zeit jedes Verständnis. Ihre Eltern waren großzügig und ließen sie eine Lehrstelle als Schuhverkäuferin im benachbarten Gera antreten. Kostete es die Familie doch eine wochentägliche Eisenbahnfahrkarte. Und als tüchtige Schuhverkäuferin lernte sie später einen gewissen Hermann Franz Specht aus Roßlau bei Dessau kennen, lieben und heiraten.
Das Elternhaus meines Vaters war eine Fleischerei in Roßlau an der Elbe. Es wurde im eigenen Haus geschlachtet und jedes Verkaufsprodukt auch eigenhändig hergestellt. Mein Opa Hermann Franz Specht war schließlich ein sehr befähigter Schlachtermeister und in der Fleischerinnung hoch angesehen. Einmal im Jahr gab es einen besonderen Tag, an dem alle Handwerker mit ihren Gesellen in Berufstracht durch die Stadt zogen. Die Fleischer mit weißer Schürze, zur Dreiecksform gerafft. Opa Specht stets in der ersten Reihe der besonders Wertgeschätzten. Da erschien es völlig normal, dass auch der Sohn das Fleischerhandwerk erlernen sollte, um später das Geschäft zu übernehmen. Der aber wollte lieber Ingenieur werden. Am Ende gab er nach, absolvierte eine Fleischerlehre, um sich dann aber nach deren Abschluss doch zu verweigern. Auch politische Differenzen in den Dreißigerjahren zwischen Vater und Sohn hatten ihren Anteil.
Auch Opa Specht musste als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen. Immer wieder hörten wir ihm gern und aufmerksam zu, wenn er von jenen entsetzlichen Geschehnissen und seinen persönlichen Wertungen sprach. Besonders verbitterten auch ihn die Lügen und Märchen der Siegerpropaganda und die ungeheure Geschichtsverdrehung durch den erpressten Versailler Vertrag und die Ächtung Deutschlands. In (4) S. 403 ist zu lesen:
Ein Jahrhundert der Propaganda, der Lügen und der Gehirnwäsche zum Ersten Weltkrieg liegt hinter uns. Aufgrund kognitiver Dissonanz fühlen wir uns unbehaglich angesichts der Wahrheit: dass es ein Grüppchen wohlsituierter englischer Rassenpatrioten war, die mit Unterstützung mächtiger Industrieller und Finanziers in Großbritannien und den Vereinigten Staaten den Ersten Weltkrieg auslösten. Die in London ansässige geheime Elite war fest entschlossen, Deutschland zu vernichten und die Welt zu kontrollieren. Ihre Handlungen sind für den Tod von Millionen ehrbarer junger Männer verantwortlich, die in einem stumpfen und blutigen Gemetzel verraten und geopfert wurden, um eine unehrenhafte Sache voranzutreiben.
Zu Beginn seiner Erwerbstätigkeit war Opa gewerkschaftlich engagiert, trat später der SPD bei. Sein Sohn dagegen neigte der aufgekommenen Neuen Bewegung zu und wollte auf diese Weise der historischen Demütigung seines Vaterlandes entgegentreten. Als ich meinen Vater später einmal daraufhin ansprach, zuckte er mit den Schultern und bemerkte: „Wir glaubten fest daran, für unser Land etwas Gutes zu tun.“
Beruflich fand er bei den expandierenden Junkers Flugzeugwerken als Werksschutzmann eine Anstellung, war stets bemüht, in technische Bereiche hinzuwachsen. Unser erstes Familiendomizil bezogen wir daher in Dessau in der Lutherstraße. Eine ausgefallene Örtlichkeit hat sich mir schon als Knirps tief eingeprägt, ein Obstgeschäft, in dem es Bananen gab. Bei jeder Vorbeifahrt im Kinderwagen forderte ich mit ausgestreckter Hand: „eine Nane.“ Da half auch keine Ablenkung. Noch gab es sie.
Endlich: 1942/1943 hatte mein Vater Erfolg. Die Krupp-Gruson-Werke in Magdeburg boten ihm die Leitung einer Abteilung des Werkverkehrs an. So wechselten wir noch im gleichen Jahr nach Magdeburg in eine Wohnung im Hohenstaufenring, unmittelbar am Nordpark gelegen (heute: Otto-von-Guericke-Universität).
Meine Einschulung
Seit vier Jahren tobte nun schon wieder in Europa ein verheerender Krieg. In unserem Lebensbereich war zum Glück noch nichts von Kriegshandlungen zu spüren. Meine Eltern bemühten sich, mich von diesen noch entlegenen Geschehnissen fernzuhalten. Nur hin und wieder sah ich Gruppen von jungen Männern am Rand vom Nordpark sitzen und unter Aufsicht einer stupiden Beschäftigung nachgehen wie krumme Nägel wieder gerade klopfen. Es seien Kriegsgefangene, hieß es, was mir aber absolut nichts sagte.
Kurz vor Ostern 1943 fassten meine Eltern den Entschluss, mich zu Opa nach Bad Köstritz auf den Bauernhof zu schicken, natürlich in Begleitung der Mutsch. Landluft konnte ja nicht schaden und ordentlich zu essen gab es dort auch. Einige Wochen nach Ostern sollte mich die Mutsch wieder abholen.
Damals wurde zur Osterzeit eingeschult. Zusammen mit meinem Opa stand ich am Hoftor und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine große Kinderschar vorbeiziehen, etwa in meinem Alter, und jedes Kind hielt eine sonderbare spitze Tüte im Arm.
„Opa, was haben die denn da drin?“ „Äpfel, Kekse, Bonbons, vielleicht sogar Schokolade“.
„Das ist ja toll. Eine solche Tüte möchte ich auch haben“.
Pragmatisch, wie ein bodenständiger Bauer nur sein kann, sagte er ruhig und logisch: „Dann musst du eben zur Schule gehen“.
„Na klar, dann gehe ich zur Schule“.
Nach kurzer Überlegung rief Opa über die Straße hinweg dem Lehrer zu: „Anton, hier hast du noch einen vergessen“.
Bild 1 – Manfreds Einschulung, Ostern 1943
Und auf diesem Weg wurde ich mit fünf Jahren in Bad Köstritz eingeschult. Einfach auf Zuruf, ohne Wissen meiner Eltern. Auf dem Dorf war das anscheinend kein Problem. Erst als meine Mutter mich wieder abholen wollte, fiel sie aus allen Wolken. Einmal eingeschult, gab es kein Zurück mehr. In Magdeburg musste ich weiter zur Schule gehen. Diese frühe Einschulung war schicksalhaft für mich. Hat sie doch mein ganzes weiteres Leben bestimmt, in ausnahmslos positivem Sinn.
An eine Episode in der Bad Köstritzer Schule kann ich mich noch gut erinnern. Wir lernten das ABC. Der Lehrer zeigte mit einem Stab auf einen Buchstaben und der aufgerufene Schüler musste ihn laut und deutlich aussprechen. Wer versagte, kam ins „faule Ei“, ein auf den Boden gemalter Kreis in der Zimmerecke. Nach nochmaliger Abfrage und richtiger Antwort war er wieder entlassen. Anderenfalls mussten zwei Zeilen der Schiefertafel als zusätzliche Hausarbeit mit dem ungenannten Buchstaben beschriftet werden. Dieses Malheur drohte mir stets bei dem Buchstaben Q (Ku). Unvorstellbar, dass ein so großes Tier auf derartige Weise dargestellt werden soll. Irgendwann später riss dann doch der Knoten.
Evakuierung
Kaum eingelebt in der neuen Schule, kam zum Jahresende 1944 die Order, Familien mit Kindern müssten aus Sicherheitsgründen in benachbarte Dörfer umziehen. Meine Mutter und wir beiden Kinder erhielten in Dahlenwarsleben im Obergeschoss eines bäuerlichen Anwesens zwei Zimmer, einen Wohnraum und einen Schlafraum. Die Entfernung betrug etwa elf Kilometer und konnte per Pferdewagen bewältigt werden. Bis heute blieb mir verborgen, warum neben den Betten ausgerechnet das Klavier mit umziehen musste. Mein Vater blieb in der Stadt zurück und besuchte uns gelegentlich am Wochenende.
Schon bald erreichte das Kriegsgeschehen auch unsere heimatliche Flur. Das bereits fünf Jahre währende Bombardement deutscher Städte und Dörfer im Zweiten Weltkrieg, meistens fernab von militärischen Anlagen und kriegswichtiger Industrie, ist ohne Entsprechung in der Geschichte. Wenn feindliche Bomberverbände anflogen, gab es Sirenenalarm. Dann galt es, sofort mit dem bereitstehenden Handgepäck in den zugeteilten Luftschutzraum zu eilen und die Entwarnung abzuwarten. Bis kurz vor unserer Evakuierung holten uns die Sirenen des Öfteren zweimal pro Nacht aus dem Schlaf.
Auch die sich noch immer abmühenden Schulen hatten gewöhnlich eigene Schutzbunker. Nur unsere Dorfschule in Dahlenwarsleben nicht. Sobald die Sirene losbrach, musste alles in Windeseile eingepackt und im Laufschritt der abseits liegende Schutzraum in unserem Wohnhaus erreicht werden. In meiner Erinnerung schaffte ich es zwischen fünf und zehn Minuten, je nach Wetter und immer noch vor dem Überflug der Bomberverbände. Von Bombenabwürfen blieben wir Gott sei Dank verschont. Nur einmal erreichten uns auf dem Heimweg einige Tiefflieger. Sofort warfen wir uns bäuchlings in den Straßengraben, den Schulranzen über den Kopf und hörten über uns Maschinengewehrfeuer. Es wurde niemand getroffen, obwohl es sicher ein Leichtes gewesen wäre. Vermutlich wollten die Piloten ihr Gewissen nicht mit Kindermorden belasten.
Der Feuersturm am 16. Januar 1945
Am Vormittag dieses denkwürdigen Tages attackierte die 8. US-Flotte die Krupp-Gruson-Werke und die Hydrieranlage Brabag. Am Abend jedoch, nach 21 Uhr, fielen sechs Teilverbände über die Wohngebiete der Stadt her und legten alles in Schutt und Asche. In dieser Nacht fanden viertausend unschuldige Menschen den Tod durch Splitter, Trümmer oder Phosphorbrand. Von Dahlenwarsleben aus konnten wir das brennende Magdeburg sehen. Eine rot leuchtende Feuerglocke überwölbte die Stadt.
Meine Mutter brach noch zu Fuß in dieser Nacht nach Magdeburg auf, um zu sehen, ob auch unsere Wohnung getroffen worden war und wie es um unseren Vater stand. Er hatte glücklicherweise außerhalb unseres Hauses überlebt. Das Haus selbst aber hatte einen Volltreffer erhalten und war total zerstört. Es gab nichts mehr zu retten. Heimgekehrt schilderte uns unsere Mutter dann das schier unvorstellbare Inferno. Auf den Straßen liefen Menschen schreiend vor Schmerzen umher. Phosphor hatte ihre Kleidung durchsetzt und verbrannte sie bei lebendigem Leib. Auch wenn sie sich in den noch teils zugefrorenen Teich im Nordpark stürzten, brachte ihnen das keine Erlösung. Der Phosphor brannte auch im Wasser weiter.
Bombardiert wurden mehr als tausend deutsche Städte und Ortschaften. Auf dreißig Millionen Zivilpersonen, überwiegend Alte, Frauen und Kinder, fielen nahezu eine Million Tonnen Sprengund Brandbomben. Mehr als eine halbe Million Todesopfer und der unwiederbringliche Verlust der seit dem Mittelalter gewachsenen deutschen Städtelandschaft waren zu beklagen (5).
Erst vier Jahr später schuf die UNO mit der Genfer Konvention einen völkerrechtlichen Schutz für Zivilpersonen in Kriegszeiten. Geschähe das heute, wäre diese Missetat ein Kriegsverbrechen, ein moralisches wird es wohl bleiben.
„Bringst du einen Menschen um, nennt man dich einen Killer und du kommst auf den elektrischen Stuhl, tötest du Millionen, wird dir ein Orden verliehen“ (unbekannter amerikanischer Verfasser).
Kriegsende und Besatzung
Eine normale Landstraße, von Nordost kommend, durchquert Dahlenwarsleben, öffnet sich in der Dorfmitte vor dem Rathaus und der Kirche zu einem Platz und führt dann weiter in Richtung Autobahn nach Magdeburg. Auf ihr war plötzlich ungewohnter Betrieb. Zurückflutende Wehrmachtsverbände strebten Richtung Magdeburg. Ein Befehlshaber verpflichtete den Bürgermeister dazu, eine Straßensperre bauen zu lassen, wohl um nachrückende alliierte Verbände aufzuhalten. Zwischen zwei eingeschossigen Einfachhäusern, die unmittelbar am Straßenrand standen, errichteten verfügbare Einsatzkräfte an jeder Seite einen massiven, mannshohen Steinsockel. Es verblieb ein etwa drei Meter breiter Zwischenraum, der mit einer herbeigeschafften Straßenwalze geschlossen wurde. Als nach Abzug der militärischen Verbände der Bürgermeister mit einigen Vertrauten wieder allein war, gelangte er zu der Einsicht, dass diese Sperre anrückende Panzer nur dazu einlud, sie zu umfahren, indem sie die am Rande stehenden, wackligen Hofgebäude einfach niederbrächen. Die Straßenwalze wurde zur Seite gefahren und die Passage wieder frei gegeben. Kurz darauf sah ich den Bürgermeister mit zwei Begleitern, in der Hand eine weiße Fahne, auf der Landstraße den sich nähernden Amerikanern entgegengehen. Nach einem kurzen Stopp und Entgegennahme der Berichterstattung des Bürgermeisters rückten die Amis in Dahlenwarsleben ein.
Unter der Bevölkerung, besonders unter den Frauen, herrschte ein großes Angstgefühl. Wie wird das Ganze wohl enden? Vorsichtshalber verbargen sich alle in den Luftschutzräumen, wir uns im Keller unseres Hauses. Es geschah absolut nichts. Noch nicht einmal ein GI kam in den Keller, um nachzuschauen. Stattdessen hörten wir Klaviermusik. Die Amis machten es sich in unserem Wohnzimmer bequem und spielten Boogie-Woogie auf unserem Klavier. Für diesen Zweck hatten es meine Eltern ganz bestimmt nicht mit auf den Umzugswagen geladen.
Eine der älteren Frauen im Keller, vermutlich die unattraktivste, fasste sich ein Herz und ging nach oben. Nach zwanzig Minuten kam sie zurück und war fassungslos. Das Haus war voller Uniformen, aber keiner der Soldaten nahm sie näher zur Kenntnis. Da sie kein Englisch sprach, wagte sie nicht, jemanden anzusprechen und Fragen zu stellen. Nach einem ungestörten Rundgang durchs Haus ging sie wieder zurück in den Keller und hatte die vage Empfehlung, man möge einfach nach oben gehen und den nicht mehr zu ändernden Dingen ins Auge sehen. Unsere Mutter zögerte, war jedoch damit einverstanden, dass ich mich oben umsah. Schon in der Diele sprach mich ein GI an und schenkte mir einen Kaugummi. Ich hatte so etwas noch nicht gesehen, ich zeigte ihn meiner Mutter. Um Himmelswillen, der könnte vergiftet sein. Die Kriegspropaganda wirkte noch immer. Der Kaugummi wurde sicherheitshalber entsorgt. Allmählich entspannte sich die Situation und alle Hausbewohner kehrten in ihre Zimmer zurück. Ein Offizier teilte die Räume neu auf. Die Hälfte des Hauses galt als beschlagnahmt für die US-Armee. Uns verblieb allein das Schlafzimmer. Das Wohnzimmer mit dem Klavier war ab sofort ein konfiszierter Sperrbezirk. Des Weiteren mussten alle Waffen auf schnellstem Wege abgeliefert werden. Der Bauer hatte herrliche Jagdgewehre mit ziselierten Läufen aus Suhler Produktion. Achtlos wurden sie über die Knie gebrochen und auf den Mist geworfen. Nachträglich wird sich sicherlich der eine oder andere der Offiziere geärgert haben, sie nicht als Souvenir mit nach Hause genommen zu haben.
Wenn die Militärjeeps vorfuhren, umrundeten sie erst den zentralen Misthaufen und hielten dann vor der Haustür. Die Fahrer waren meist Schwarze. Einer von ihnen saß sehr lässig hinterm Steuer und zündete sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette an. Das Feuerzeug hielt er etwa dreißig Zentimeter unter die Zigarette und plötzlich stieg eine gewaltige Flamme auf. Ich war fasziniert und hochgradig beeindruckt.
Nach zwei Tagen wurde das zentrale Lebensmittel-Notlager für die Bevölkerung freigegeben. Alle liefen hin, auch unsere Mutsch. Sie kam aber mit leeren Händen zurück. Einen großen Sack Zucker hatte sie ergattert, als sie aber um die Ecke bog, stand ein Schwarzer mit herausforderndem Grinsen vor ihr. Den Sack fallen lassen und nichts wie weg, das wars dann.
Hinter unserem Hofgrundstück erhob sich ein kleiner Hügel, der Rübenberg, dort stand ein Geschütz und feuerte in Richtung Magdeburg. Mein Bruder und ich hielten uns gerade in der Scheune auf, als ein heftiger Donnerschlag die Luft erschütterte und ein Regen aus handgroßen Splittern von Dachziegeln unversehens auf uns niederprasselte. Wie durch ein Wunder blieb ich unverletzt. Mein Brüderchen aber wurde getroffen, blutete aus einer großen Kopfwunde, war aber bei Bewusstsein. Mit angepresstem Taschentuch lief er über den Hof zum Wohnhaus und einem amerikanischen Militärarzt direkt in die Arme. Der nahm ihn sofort zur Seite, schnitt die Wunde frei und stillte sie mit einem darüber gestreuten Pulver. Unsere Mutter verband den Kopf und das Malheur war bald vergessen. Dem lieben Siegfried sind merkwürdigerweise derartige Missgeschicke noch mehrmals passiert. Diese gottgegebenen Kopfnüsse haben ganz gewiss zu seinen späteren außerordentlichen Schulleistungen beigetragen.
Nach etwa zwei Monaten kam die Order: alle Umgesiedelten wieder zurück zum ursprünglichen Wohnort. Wer seine Wohnung durch die Bombardierung verloren hatte, erhielt eine neue Zuweisung. Die unsere hieß Barbarastraße im ehemaligen Kruppviertel. Ein geräumiges Einfamilienhaus, das nun für drei Parteien Raum bieten musste. Mein Vater war wieder bei Krupp beschäftigt, anfänglich mit Instandsetzungsarbeiten, und stand der Familie nun wieder leiblich zur Verfügung. Viel gab es nicht mehr zu transportieren. Immerhin blieben uns neben einer ausreichenden Kleidung die Betten, Tisch und Stühle und das Klavier. Vom Porzellan und den Bestecken war uns, während wir im Schutzraum ausharrten, die Hälfte gestohlen worden.
Wieder zurück in Magdeburg
Die Schule hatte noch immer nicht wieder begonnen. Die ganztägige Freizeit währte allerdings nicht lange. In die Barbarastraße zog auch ein Lehrer ein, der alle schulpflichtigen Kinder der unmittelbaren Umgebung zum Privatunterricht einlud. Meine Eltern stimmten sofort zu. Bezahlt wurde mit Naturalien. Im Winter musste jeder Schüler zusätzlich ein Stück Kohle mitbringen. Wir waren zu sechst und saßen zusammen mit dem Lehrer um einen runden Esstisch herum. Der Name des Lehrers und die Anzahl der täglichen Unterrichtsstunden sind mir entfallen. Als dann die offizielle Schule wieder begann, wurden die meisten meiner ehemaligen Mitschüler ein Jahr zurückgestuft, während wir Privatklässler nahtlos an unsere letzte Unterrichtsstunde anschlossen. Ohne dass es mir bewusst wurde, war mein frühzeitiger Start von Bad Köstritz gerettet. Möglicherweise doch ein Primzahlprivileg.
Es blieb noch immer genügend Zeit, um sich einer Jugendbande anzuschließen und mitzuwirken. An der Straße stand ein zweigeschossiger Rohbau, ein während des Krieges angefangenes Wohnhaus. Das war unser Hauptquartier. Die Decke im Obergeschoss bestand nur aus Holzbalken im Abstand von etwa einem halben Meter. Absolut trittsicher liefen wir im Laufschritt darüber hinweg. Durch die Brandwand zum Nachbarteil brachen wir eine kleine Öffnung, durch die gerade ein Kinderkörper hindurch passte. Eine erwachsensperrige Fluchtburg. Der vorbeiführende Fußweg wurde mit Stolperdrähten abgeschirmt. Als eines Tages eine ältere Dame über einen der Drähte fiel und sich sehr schmerzhaft die Knie aufschlug, plagte uns das schlechte Gewissen. Mit einem Akkordeon sind wir zu ihrem Haus gezogen, haben uns entschuldigt und ein Lied gesungen. Das hat uns viele Sympathien eingebracht, was sich später auszahlen sollte.