Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer

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Werner Kriesi erzählt
Andelka. Eine junge Mutter mit Krebs

Neben dem Hauseingang finde ich fünf Klingelknöpfe, alle in kaum leserlicher Handschrift angeschrieben. Eine dunkle, verwinkelte Treppe führt hinauf zur Wohnung. Hier wohnen Ausländer, die in der Schweiz Arbeit gefunden haben. Der Ehemann Andelkas bittet mich freundlich hinein. Einfache, gepflegte Zimmer mit ringsherum großen Fenstern. Ein etwa dreijähriges Mädchen fährt in forschem Tempo mit einem Dreirad vom Gang in die Stube, rings um den Stubentisch, wieder in den Gang zurück und so mit Vergnügen hin und her. Die junge Mutter kommt am Stock in die Stube. Wir begrüßen uns.

Gestern Abend sprachen wir am Telefon das erste Mal miteinander, heute fühlen wir uns einander bereits vertraut. Andelkas Muttersprache ist Kroatisch, sie versteht alles, was ich sage. Doch ihr Deutsch ist gebrochen, und ich muss oft nachfragen. Mit größter Mühe versucht sie sich zu beherrschen, da sie wohl vor mir nicht weinen will. Sie leidet an einem unheilbaren Osteosarkom, an Knochenkrebs, der vor einem Dreivier­teljahr diagnostiziert wurde. Metastasen in den Lungen führen inzwischen zu schwerer Atemnot. Der Onkologe hat schon zum dritten Mal eine Chemotherapie verordnet. Nicht zur Heilung, sondern als palliative Maßnahme, die im besten Falle zu einer Atemerleichterung führen kann.

Schweigend, in sich versunken, sitzt der Ehemann auf dem Sofa, das kleine Mädchen fährt Runde um Runde auf dem Dreirad um den Stubentisch. Wenn es an mir vorbeikommt, strahlt es mich an, will ein Kompliment. Andelka nimmt ihr Kind schließlich hoch, drückt es an ihre Brust, streichelt ihm über das Haar. Sie beginnt zu weinen, bald schluchzt sie heftig. Ich ziehe mich zurück, gehe hinaus in den Korridor. Sie und ihr Ehemann sollen sich in ihrem Schmerz nicht beobachtet fühlen. Auch empfinde ich jeden Versuch eines Trostworts in einer solchen Situation als reinen Zynismus.

Andelkas Eltern betreiben in Kroatien einen Bauernhof mit ein wenig Viehwirtschaft sowie Maisanbau. Hier wuchs sie mit vier Brüdern auf. In die Schweiz kam sie vor zehn Jahren, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse daheim eine anständig bezahlte Arbeit nicht erlaubten. Andelka fand eine Anstellung in einem Privathaushalt. Ihre Arbeitgeberin, eine Anwältin, ist der jungen Frau sehr zugetan und hilft, wo immer sie nur kann. In den Akten von Exit ist sie als Kontaktperson aufgeführt.

Der Ehemann ruft mich in die Stube zurück. Das Kind fährt alsbald wieder seine Runden, und wir setzen unser Gespräch fort.

Als sich der Krebs immer tiefer in dem rechten Oberschenkelknochen ausgebreitet hatte, wurden die Schmerzen trotz hoher Morphiumdosen unerträglich. Die Ärzte schlugen vor, das Bein samt einem Teil des Hüftknochens zu amputieren. Andelka lehnte ab: «Das wäre eine Monsteroperation. Jetzt kann ich immerhin mit dem Stock noch in der Wohnung herumgehen. Nachher sitze ich im Rollstuhl. So oder so werde ich sterben. Ich spüre, wie der Krebs meine Lungen frisst, mit jeder Woche geht mein Atem schwerer.»

Andelkas Ehemann kam Jahre nach ihr in die Schweiz, arbeitet seither in einem Gemüsegeschäft. Seine Deutschkenntnisse beschränken sich auf das dort täglich verwendete Vokabular. Ein differenziertes Gespräch mit mir über Krankheit, Schmerzen, Sterbehilfe und Tod überfordert sein Sprachvermögen. Doch Andelka versichert mir, ihr Mann sei mit ihrem Entscheid zu sterben nach langer innerer Auseinandersetzung einverstanden. Er erlebe ihre Schmerzen und wisse von den Ärzten, dass es keine Hoffnung auf Heilung gebe. Seit einigen Mona­ten befasst sich das Ehepaar mit der Frage eines Freitodes.

Sie spricht über ihre große Angst. Vor dem Sterben und vor allem, dass sie auf diese Weise, mithilfe eines Sterbemittels, sterben wolle. Sie verstehe ihr Schicksal nicht. Sie sei doch immer gut gewesen zu den Menschen, warum müsse die furchtbare Krankheit gerade sie treffen? Daher will sie auch vermeiden, dass jemand aus ihrer Verwandtschaft von ihrem Freitod erfährt. Das würde in Kroatien niemand verstehen. Die seien nicht nur konservativ katholisch, sondern auch abergläubisch. «Eine alte Frau aus der Verwandtschaft erzählt, ich sei verhext worden. Nur so sei die Krankheit zu erklären.» Diese hätte sogar schon einen Priester organisiert, der zur Teufelsaustreibung in die Schweiz reisen wollte. Andelka lehnte energisch ab.

Als ich sie frage, ob sie mit einem katholischen Priester aus der Schweiz sprechen möchte, verneint sie. Ich schließe daraus, dass sie und ihr Mann sich bereits von ihrem Kindheitsglauben distanziert haben, in ihren tieferen Gefühlen aber noch an die Glaubensüberlieferungen ihrer Herkunft gebunden sind. Ich versuche der jungen Frau die Gewissheit zu vermitteln, dass sie ein gutes Leben geführt habe, eine sehr gute Mutter und allseits geschätzte Frau sei und ihre Krankheit mit einer göttlichen Strafe nichts zu tun habe. Ich bestärke sie in ihrer Einsicht, dass Fegefeuer und ewige göttliche Verdammnis ein Relikt des geistigen Terrors der mittelalterlichen Kirche sind.

Mehr ist im Rahmen eines Erstgesprächs, zudem mit der ­beschränkten sprachlichen Verständigung, nicht möglich. Ein Kroatisch sprechender und der Freitodhilfe gegenüber liberal denkender Psychotherapeut wäre jetzt die angemessene Hilfe. Ein solcher Schritt wäre vor einigen Monaten oder Wochen angebracht gewesen und hätte von vernünftig denkenden Ärzten auch veranlasst werden müssen.

Als ich in der Nacht heimfahre, werde ich vom Schmerz über das Leiden dieser Frau überwältigt. Man müsste wohl ein Herz aus Stein haben, wenn man sich in einer solchen Situation nicht schwer bedrücken ließe.

Am nächsten Morgen rufe ich den langjährigen Hausarzt von Andelka an und informiere ihn über die baldige Freitodhilfe. Er schreibt mir ein drohendes Mail, bestreitet die Gültigkeit des bereits bestehenden Rezeptes eines Kollegen für das Ster­be­mittel und droht mit einer Klage vor Gericht. Die Krankheit, so behaup­tet er, sei nicht hoffnungslos und es bestünden noch sinnvolle Möglichkeiten der Behandlung. Damit widerspricht er der Diagnose des Onkologen, der schon vor Wochen eine «palliative Che­motherapie» verordnet hat, die nach den Richtlinien der WHO als die umfassende Versorgung eines sterbenden Menschen definiert ist, ohne dessen Leben zu verlängern oder zu verkürzen. Palliativmedizin wird somit eingesetzt, wenn nach ärztlichem Ermessen keine Heilungschancen mehr gegeben sind.

Andelka wird medizinisch bestens betreut und erlebt liebevolle Zuwendung von verschiedenen Seiten. Doch ist sie an der Grenze dessen angelangt, was sie physisch und psychisch an Leiden aushalten kann. Ungeachtet des unaussprechbaren Schmerzes, Kind und Ehemann verlassen zu müssen, möchte sie innert der nächsten zwei Wochen sterben. Exit zieht einen weiteren Arzt hinzu, der nach einer ausführlichen Begutachtung schließlich ein neues Rezept ausstellt.

Als Andelka am Tag ihres Sterbens mit bereits gesteckter Infusion auf dem Bett liegt, wünscht sie, das Vaterunser zu beten. Mit ihrer rechten Hand umklammert sie mein Handgelenk, und während der letzten Worte des gemeinsam gesprochenen Gebetes öffnet sie mit der anderen die Infusion. Wenige Sekunden später sinkt sie in den tödlichen Schlaf.

Freiheit zum Tode

Selbstmord, Suizid, Hand an sich legen, sich umbringen, sich selbst töten. Wenn ein Mensch mit Absicht sein Leben been­det, gibt es viele Weisen, dies auszudrücken. Herr Kriesi, Sie sprechen vom Suizid, doch fast ebenso oft vom Freitod.

Den Begriff Suizid versuche ich eigentlich zu vermeiden, ich spreche lieber vom Freitod. Den Begriff Selbstmord verwende ich nie. Denn der Selbstmord wurde von der Kirche verteufelt. Allen voran Augustinus. Schreiben Sie etwas zu ihm?

Ja, mach’ ich. Doch zuvor noch eine Bemerkung. In der Philosophie unterscheiden wir zwischen sogenannten dichten und dünnen Begriffen. Dichte Begriffe sind die, die gleichzeitig beschreiben und bewerten. Der Begriff für etwas, was wir tun, ist dann mit moralischen Wertungen aufgeladen oder einge­kleidet.

Wenn wir uns die lateinischen Sprachwurzeln an­se­hen, heißt ja der gewissermaßen nackte Begriff Suizid nur: sich selbst töten. Es ist ein dünner Begriff. Beim deutschen Selbstmord geht der Mord auf das indogermanische Verb mer zurück, das Sterben bedeutet. Etwas umständlich, rein von den Sprachwurzeln her gesehen, lässt sich Selbstmord wohl ausdrücken als sich selbst die Mittel zum Sterben geben. So gesehen ist also auch er ein dünner Begriff.

Doch so verstehen wir ihn nicht. Wertungen sind hinzuge­kom­men. «Selbstmord» ist, in Ihren Worten, zu einem dichten Begriff geworden.

In der Schweiz lässt sich über die letzten dreißig Jahre eine Veränderung beobachten. Es wird, geht es um Freitodhilfe von Organisationen wie von Exit, oft vom begleiteten Suizid oder assistierten Freitod gesprochen. Die Schweizer Gesellschaft bejaht diese Möglichkeit zunehmend, sieht sie also nicht mehr als moralisch anstößigen Mord, sondern als Hilfe zur Selbsttötung. Mord grenzt sich ja von allen anderen Tötungsdelikten durch die verwerfliche Gesinnung ab.

Sie sehen die Entwicklung rosiger als ich. Nicht nur der Begriff Selbstmord, auch der Begriff Suizid ist so von moralischer Verwerflichkeit aufgeladen, dass er sich kaum ohne diese denken lässt. Nochmals in Ihren Worten: Auch er ist zu einem dichten Begriff geworden. Und so ist auch der Begriff begleiteter oder assistierter Suizid in ein falsches Licht geraten, der viel häufiger als der Begriff Freitod verwendet wird. Eine Belastung für die Betroffenen. Für Andelka, über die wir gerade sprachen. Für ihren Mann. Für mich. Für alle, die ihr halfen. Daher ziehe ich den Begriff Freitod vor, wenn ich von der Sterbehilfe spreche. Wir helfen beim Freitod. Es ist ein assistierter Freitod, für den ich eintrete und dem sich Exit verschrieben hat.

 

Umgekehrt ließe sich Ihnen vorwerfen, dass Freitod ebenfalls ein suggestiv aufgeladener und somit auch manipulativer Begriff ist. Mit Freiheit verbinden wir Positives, Erstrebenswer­tes, Gutes. Freiheit ist ein Ideal. Und dies färbt in der Kom­bination auf den Begriff Freitod ab, der so gesehen profitiert. Gegner der Sterbehilfe sagen ja deswegen auch, es sei der schöngeredete Selbstmord, den Sie propagieren und zu dem die Sterbehilfeorganisationen Unterstützung anbieten. Sie würden mit dem Begriff Freitod verschleiern, um was es eigentlich gehe, nämlich den Mord, das Verbrechen an sich selbst. Das Bundesamt für Justiz übrigens verwendet in seinen Defi­nitionen zu den verschiedenen Formen der Sterbehilfe den Begriff Selbstmord und setzt in Klammern dahinter «auch Suizidhilfe genannt». Den Begriff Freitod gebraucht es nicht.5 Eine weitere kritische Frage ist: Welche Art von Freiheit ist hier gemeint?

Es ist schwierig, zu verallgemeinern. Ein Tetraplegiker etwa, der sein behindertes Leben im Rollstuhl nicht aushält, dessen Entscheid ist nicht zu vergleichen mit dem eines Menschen, der terminal an Krebs erkrankt ist und bald sterben wird. Denn der Tetraplegiker könnte weiterleben. Er kürzt mit dem Freitod sein Leben ab. Dem terminal Krebskranken hingegen ist die Zukunft verwehrt, seine Krankheit führt bald zum Tod. Er kürzt mit seinem Freitod das bereits eingetretene Sterbeleiden ab.

Und dennoch, ungeachtet dieser Unterschiede, ist bei beiden die Freiheit eingeschränkt. Man könnte Ihnen leicht Zynismus vorwerfen, da diesen Menschen vergleichsweise weniger Möglichkeiten, weniger Freiheiten zur Verfügung stehen als gesunden und nicht behinderten Menschen.

«Niemand kann dem Menschen die Freiheit nehmen, sich zu seinem Schicksal so oder so einzustellen.» Dies ist ein Zitat von Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie. Ich las es vor langer Zeit und kann es selbst nicht besser ausdrücken.

Auch die Zeilen eines Gebets gehen mir nicht mehr aus dem Sinn. Meist wird es dem amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugeschrieben, sein Ursprung geht aber wohl weit zurück ins Mittelalter:

«Gott, gib mir die Gelassenheit,Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

Sie meinen, auch wenn wir nicht ändern können, was mit uns geschieht, so können wir doch ändern, wie wir damit umgehen?

Ja, denn wenn ich gelähmt oder krebskrank bin, dann kann ich das nicht ändern. Das ist mein Schicksal. Doch ich habe die Freiheit zu entscheiden, wie ich damit umgehe, also ob ich mein Leben mit der Behinderung oder der Krankheit bis zum Schluss leben will – oder ob ich es durch ein selbstbestimmtes Sterben abkürze.

Das erinnert mich an die Stoa, an das, was Seneca oder auch Epiktet vor bald zweitausend Jahren lehrten. Lassen Sie uns später darauf zurückkommen. Nun erst mal Augustinus.

Augustinus: Wer sich selbst tötet, ist ein Mörder

«Gebt acht, dass es niemandem gelingt, euch einzufangen durch Philosophie, durch leeren Betrug, der sich auf menschliche Überlieferung beruft, auf die kosmischen Elemente und nicht auf Christus.» So heißt es im «Brief an die Kolosser», der von der Tradition dem Apostel Paulus zugeschrieben wird.6 Es ist eine Warnung, die Augustinus in seine Lehren übernimmt.

Zwar versteht sich auch Augustinus als Philosoph, als je­mand also, der nach Weisheit strebt. Doch er ist Christ, und da­­­her sieht er sich vom Verdikt des Apostels ausgenommen, das nur für Heidenphilosophen gilt. Von 396 bis zu seinem Lebensende 430 amtet Augustinus als Bischof von Hippo, ei­­ner Hafenstadt im Osten Algeriens. Sein Einfluss auf das noch junge Christentum ist immens. Bis heute prägen seine Lehren und Überzeugungen die westlichen Kirchen, die ihn mit dem Ehrentitel eines Kirchenvaters versehen haben.

Woher die Skepsis gegenüber den nichtchristlichen Philosophen? Weil, so Augustinus, nicht Gott der Gegenstand ihrer Untersuchung sei, sondern die «Elemente dieser Welt»7, die kosmischen Elemente also, wie es im Apostelbrief heißt. Augustinus zählt zu den nichtchristlichen Philosophen vor allen anderen die Epikureer und Stoiker, lehren diese beiden philosophischen Richtungen doch, dass das Glück nicht im Jenseits zu suchen und zu finden sei. Sondern jetzt und im Diesseits, während unserer Lebenszeit, hier auf Erden. Wir seien auf der Welt, um uns unseres Daseins zu erfreuen, wir würden leben, um zu genießen – und nicht, um die Liebe Gottes zu erwerben oder um auf die Erlösung zu hoffen.

Augustinus’ Pontifikat ist für die Christen eine unruhige Zeit. Zwar war das Christentum seit 380 Staatsreligion im Rö­­mischen Reich, doch 410 wird Rom durch die heidnischen Westgoten erobert und geplündert. Zahlreiche christliche Frauen werden vergewaltigt, und Augustinus muss die an ihn gerichtete dringliche Anfrage beantworten, ob es richtig sei, wenn sich die «geschändeten christlichen Jungfrauen» aus Scham und Verzweiflung selbst töten.

Seine Antwort ist kurz und bündig: Qui se ipsum occidit, homicida est. Auch wer sich selbst tötet, der ist ein Mörder.8 Dies erklärt Augustinus gleich zu Beginn seines Werkes «Vom ­Got­tes­staat». Das Verbot gilt nicht nur für geschändete Jungfrauen, sondern für jeden, der glaubt, sich mit noch so guten Gründen das Leben nehmen zu müssen. Nirgends in der Heili­gen Schrift, so Augustinus, gäbe es eine Stelle, die erlauben würde, sich selbst das Leben zu nehmen, um irgendein Übel zu vermeiden oder zu beseitigen. Die einzige Ausnahme sei Gottes Befehl. Hinzu kommt: Der Selbstmörder lade umso größere Schuld auf sich, je weniger er schuld sei an der Ursache, die ihn zum Selbstmord treibe. «Du sollst nicht töten», das fünfte Gebot, liest Augustinus somit als: «Du sollst nicht töten, weder einen anderen noch dich selbst».9 Wer es dennoch tut, sei verdammt, sei endgültig verloren und komme ins ewi­ge Feuer, das den Leib peinige.10 So folgt eine Pein auf die an­­dere; eine Erlösung gibt es nicht.

«Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philoso­phie.» In den Jahrhunderten vor Augustinus hatten die Hei­denphilosophen der Stoa und des Epikureismus weder den Tod durch eigene Hand noch die Hilfe dazu verdammt. Im Gegenteil, sie unterstützen ihn als einen Ausweg, eine offene Tür, wenn etwa ein Kranker so leidet, dass er es nicht mehr auszuhalten vermag. Augustinus setzt all die Wortgewalt seiner Rhetorik und Ausdruckskraft ein, um diese Philosophen zu diffamieren. Wunderlich dreist seien sie, verlogen, verblö­det, hochmütig und stumpfsinnig, da sie glaubten, das höchste Gut, die Glückseligkeit, sei im diesseitigen, sei im endlichen Leben hier unten auf der Erde zu finden. Doch der Herr, so Augustinus, kenne ihre Gedanken «und weiß, dass sie nichtig sind».11

Augustinus schildert das Elend irdischen Daseins. All das, was wir als gut empfinden, fällt der Zerstörung anheim. Alle körperlichen Güter werden zu Übeln. Die Gesundheit etwa? Labil. Schönheit und Anmut? Vernichtet. Die Kraft? Ermattet. Der Körper? Versteift. Die Glieder? Gelähmt, verstümmelt, zit­­ternd. Das Rückgrat? Gekrümmt. Der Mensch? Ein Vierfüß­ler jetzt, kriechend im Elend. Des Geistes «angeborene Gü­ter»? Blind sind jetzt die Augen, taub die Ohren, verrückt der Verstand, ergriffen von Dämonen. Und was tun die Heidenphilosophen? Sie entwickeln, so Augustinus entrüstet, Tugenden und lehren Mäßigung, Klugheit, Gerechtigkeit und Mut, um mit all diesen Gebrechen umzugehen. Doch nicht nur das, sie empfehlen sogar den «Selbstmord»:

«Mit wunderlicher Dreistigkeit sprechen die stoischen Phi­losophen diesen Übeln die Eigenschaft von Übeln ab, da sie doch im selben Atemzug behaupten, der Weise werde, wenn sie so überhandnähmen, dass er sie nicht ertragen könne oder dürfe, zum Selbstmord und zum Scheiden aus diesem Leben genötigt.»

Die entscheidende Frage ist: Warum soll es nicht dennoch möglich sein, im Rahmen der Conditio humana, der nun mal unabweisbaren Umstände des Menschseins, unserer Fragilität und Sterblichkeit, glücklich und zufrieden zu sein? Und mit Hilfe der vier antiken Tugenden – Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit –, auch die Entscheidung zu fällen, dass der Weg des Freitods der für uns richtige sein kann? Au­gustinus spottet: «Ei, welch glückliches Leben, das den Tod zu Hilfe ruft, um ein Ende zu finden! Ist es glücklich, so sollte man es doch festhalten!»

Und was rät er selbst? Augustinus ruft zur Geduld auf, zur Hoffnung aufs Himmelreich, aufs Jenseits, «denn wir stecken in Übeln, und die müssen wir geduldig ertragen, bis wir zu je­­nen Gütern gelangen, wo alles von der Art sein wird, dass wir uns daran unsagbar erfreuen, und nichts von der Art, dass wir es noch ertragen müssten. Solch ein Heil, wie es in der künftigen Welt eintreten wird, wird zugleich die vollendete Glückseligkeit sein.»

Die Kirche wird Augustinus folgen. Die Verdammung der Selbsttötung wird zur offiziellen Position und prägt die gesellschaftliche Meinung bis heute. Die Gleichstellung von Mord und Selbstmord zeigt sich auch in der Art der Bestra­fung. Bis ins 16. Jahrhundert wird etwa in der Schweiz die Leiche des Selbstmörders aufgehängt, gerädert, enthauptet – hingerichtet also, als sei sie ein lebendiger Verbrecher. Danach wird sie vom Scharfrichter, nicht von einem Geistlichen, außerhalb des Friedhofs verscharrt oder in einem Fass in den Fluss geworfen.

Im 19. Jahrhundert setzt sich mit der aufkommenden modernen Psychiatrie die Idee durch, Selbstmord sei eine geistige Krankheit. Die juristischen Sanktionen werden durch wissenschaftliche Erklärungsansätze abgelöst. Doch noch im frühen 20. Jahrhundert wird Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, eine gleichwertige Bestattung auf Friedhöfen verweigert. Ihre Gräber werden mit einem niedri­gen Eisengitter umzäunt, das den Selbstmörder daran hindern soll, als Wiedergänger seine Grabstelle zu verlassen.12

Werner Kriesi erzählt
Judith. Die Operationen helfen nicht

Als ich Judith kennenlerne, ist sie 39 Jahre alt, im selben Alter wie mein jüngster Sohn.

Aus ihrem Zimmer blicken wir auf die umliegenden Wiesen und Obstgärten, die sich frühlingsprächtig vor unseren Augen ausbreiten. Neuere Bauten bilden zusammen mit einigen alten Bauernhäusern ein kleines, idyllisch wirkendes Dorf. Vor mir sitzt, gelassen und ruhig, eine sehr jung wirkende Frau. Sie entschuldigt sich, dass sie unser Gespräch nicht ohne regelmäßige Schmerzmittelgabe durchhalten könne. Sie zieht den Rock ein wenig übers Knie und setzt sich eine Spritze in den Oberschen­kel.

Seit ihrer Kindheit leidet Judith an Pankreatitis, einer chro­ni­schen Bauchspeicheldrüsenentzündung. Ständig wieder­keh­ren­de Schmerzschübe, Übelkeit und Erbrechen quälen sie die gesamte Schulzeit hindurch, ohne dass die Krankheit richtig dia­­gnostiziert wird. Man denkt, sie sei halt ein übersensibles Kind. Nach der Matura studiert sie Ingenieurswissenschaften, muss jedoch wegen der stetigen Schmerzen abbrechen.

«Ich bin zwar noch jung», erzählt sie, «doch ich habe alles ge­habt, was das Leben einem Menschen bieten kann, vielleicht dürfen wir gar nicht mehr erwarten. Wir sind geneigt, vor allem in den westlichen Ländern, unsere Erwartungen an das Leben zu überfrachten. Damit sind dann so viele Enttäuschungen verbunden, die gar nicht sein müssten. Ich konnte ja trotz meiner Krankheit in die Schule gehen. Nur einige Semester hätten gefehlt und ich hätte mein Studium mit meiner Masterarbeit beenden können. Einmal war ich mit einem guten Mann verhei­ra­tet. Die Trennung war nicht zu umgehen. Ich war zu krank. Das weiß ich heute. Einige Jahre engagierte ich mich beim Schweizerischen Roten Kreuz. Ich habe die Welt kennengelernt! Im Guten wie im Schweren. Es genügt.»

Knapp dreißigjährig erleidet Judith einen akuten Schub. Die Hälfte des Magens, der Zwölffingerdarm, die Galle sowie die Milz müssen operativ entfernt werden. Bald darauf folgt ein Darmdurchbruch. Innerhalb eines Monats wird sie fünfmal operiert. Seither ernährt sie sich nur von Joghurt und allerlei Breispeisen. Mehr als zwanzigmal täglich spritzt sie sich ein Morphiumpräparat, das ihren ganzen Körper betäubt. Ohne diese Keule müsste sie sich, wie sie sagt, an der Wand den Kopf einrennen. Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres hält sie es nicht mehr aus. Sie versucht sich mit einer wilden Mischung von Medikamenten das Leben zu nehmen. Sie wird gefunden und reanimiert. Als sie erwacht, erfasst sie ein Heulkrampf. Sie ist derart verzweifelt, dass sie ihre Retter anschreit.

 

Judith spricht in aller Ruhe. Sie fürchte sich nicht vor dem Tod, denn sie wisse, dass «das Innere des Menschen» unsterblich sei. Oft würde sie ruhig auf dem Bett liegen und spüren, wie ihre Seele aus ihr herausfließe und spazieren gehe. Sie zeigt auf die blühende Wiese mit den Obstbäumen und sagt: «Schauen Sie dort! Dort ist dann meine Seele. Ich bleibe derweil ruhig auf meinem Bett und atme den Duft der Blüten, den meine Seele zu mir strömen lässt. Wenn meine Seele in den Körper zurückkommt, empfinde ich einen kleinen Ruck in meiner Brust, dieselbe feine Bewegung, mit der sie auch meinen Körper verlässt. Durch die Seelenreisen weiß, ich, es geht weiter. Mein frühes Sterben sagt mir, ich werde an einem anderen Ort gebraucht. Wo und wie, das weiß ich nicht, brauche ich auch nicht zu wissen, aber ich weiß, es geht weiter! Wenn es nicht so wäre, wäre menschli­ches Leben und Leiden doch ein böser Witz!»

Solche Erlebnisse würde sie sonst niemandem erzählen, denn sie fürchte abschätzige Bemerkungen von Menschen, die kein Verständnis hätten für Erfahrungen, die über den normalen Alltag hinausgehen.

Judith ist nicht lebensmüde, aber ihre seelischen und körperlichen Kräfte sind aufgezehrt. Sie wünscht, an dem Tag sterben zu können, an dem sie geheiratet hatte. An der Wand hängt ihr Hochzeitskleid, in dem sie eingesargt werden möchte. Bei meinem dritten Besuch bestimmt sie den Tag, an welchem sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Der Hausarzt hat das Rezept für das Sterbemittel bereits ausgestellt.

Zwei Tage vor dem abgesprochenen Sterbetag ruft sie mich an. Sie sagt ab. Mehrfach vereinbart sie mit mir einen neuen Termin. Nach der fünften Absage höre ich nichts mehr von ihr.

Worüber sprachen Sie bei solchen Anrufen?

Ich sagte Judith, dass es so gut sei, und versicherte ihr, dass sie mit besten Gewissen immer wieder Termine widerrufen könne. Nur sie allein könne wissen und spüren, ob sie ihrem Leben ein Ende setzen wolle und wann der richtige Zeitpunkt sei. Ich sagte, dass sie wieder auf mich zukommen könne, sollte sie einen neuen Termin wünschen. Und dass sie frei sei, auch diesen Termin je­derzeit abzusagen.

Fünfmal ein Termin und fünfmal die Absage. Es wirkt, als ob Judith sich nicht sicher war, ausprobierte, was passiert, was sie fühlt und was sie denkt, wenn sie einen Termin festlegt.

Ja, es ist wie eine Art Experimentieren mit der eigenen Seele. Ich habe das oft erlebt. Wenn jemand unsicher ist, schlage ich da­her manchmal vor: Setzen Sie mal einen Termin. Und schauen Sie, was Ihre Seele macht und Ihr Bauchgefühl sagt. Bei Judith spürte ich eine schon länger andauernde innere Auseinandersetzung zwischen Lebenswillen und Sterbewunsch. Die Aufgabe eines Freitodbegleiters kann dabei nur sein, in solch einer Situation stützend zu begleiten. Und keinesfalls zu werten, keinesfalls in eine Richtung zu lenken. Und zu betonen, dass man jederzeit absagen und auch jederzeit einen neuen Termin holen könne. Ohne Erklärung. Ohne Rechtfertigung.

Zu den beißenden Kritiken an Exit gehört, dass es um knallhartes Business mit Betriebszielen und Marketing gehe. Dass mit anderen einschlägigen Organisationen um zahlungsbe­reite Sterbewillige am Todesmarkt konkurriert werde. Und dass es daher auch kein Zurück mehr gebe, hätte jemand einen Termin zum Vorgespräch vereinbart.13

Eine realitätsfremde Vorstellung, dass jemand, der die Hilfe von Exit in Anspruch nehmen möchte, dann auch gezwungen sei zu sterben. Die Tatsache ist: Wir ermutigen die Menschen, sorgsam auf ihre innere Stimme zu hören. Und sich jederzeit die Freiheit zu nehmen, das zu tun, was sie richtig finden. Dazu gehört auch, dass sie immer absagen können. Auch wenn wir schon da sind, der Sterbetrunk oder die Infusion schon bereitstehen. Jederzeit ist ein Nein möglich. Wir erleben das im­mer wieder.

Auch telefoniere ich immer am Vorabend, um zu hören, wie es diesem Menschen geht, der seine letzte Nacht vor sich hat. Dann spüre ich, ob sie oder er wirklich entschlossen ist. Es kommt vor, dass die Person dann absagt oder verschiebt. Und ich werde es immer wieder betonen: Gerade weil die Menschen unsicher sein und ausprobieren dürfen, fühlen sie sich entlastet und können sich danach zum Weiterleben entschließen. Dieser ganze Weg der Freitodvorbereitung ist ein Weg der Klärung: Passt diese Art des Freitods für mich oder nicht? Und daher beendet rund ein Drittel der Menschen diesen Weg auch nicht mit dem assistierten Freitod, sondern wählen eine andere Abzweigung.

Einmal war ich einem Altersheim, um einen über achtzigjäh­rigen Mann zu begleiten. Er war die Wochen zuvor immer wieder sehr ärgerlich, dass die Vorbereitung so lange dauere. Ständig drängte er mich, alles zu beschleunigen. Nun saß er am Bettrand, das Glas mit dem Sterbemittel in der Hand. Er schaute hinein. Sonst nichts. Er saß einfach nur da und schaute ins Glas. Da habe ich gesagt: «Wollen Sie mir das Glas zurückgeben? Kommen Sie, wir stellen das Glas auf die Seite …» Ich hatte den Eindruck, dass er sich dies nicht traute, weil er zuvor so gedrängt hatte. Er schwieg. Ich sagte: «Es ist selbstverständlich, dass Sie zweifeln. Das können Sie mit bestem Gewissen.» Er schwieg. Die Knöchel der Hand, die das Glas umklammerten, wurden weiß. Schließlich murmelte er: «Ja, ich will es mir nochmals überle­gen.» Eine Zeit lang habe er gedacht, es müsse endlich vorwärtsgehen. Doch jetzt würde er merken, dass er noch zu sehr am Le­­ben hänge. Wir haben uns dann in einer sehr guten Stimmung voneinander verabschiedet. Er war gelöst und zufrieden. Später habe ich erfahren, dass er ein Vierteljahr danach ohne Exit gestorben sei.

Nachdem Judith ein fünftes Mal abgesagt hat, haben Sie nichts mehr von ihr gehört?

In einer solchen Situation nehme ich, nimmt Exit, nicht wieder Kontakt auf. Wir bleiben passiv, machen alles abhängig von einer erneuten Initiative der Person. Alles andere könnte als Druck empfunden werden. Übrigens ist dies auch einer der Gründe, warum Exit nur Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz begleitet. Wer eine lange Reise in die Schweiz unternommen hat, wird es schwerer haben, einen einmal ins Auge gefassten Sterbetermin aufzuschieben. Und so könnte der Druck wachsen, den Termin einzuhalten.