Buch lesen: «Wenn dir das Leben Zitronen gibt ...»
Susi Safer:
Wenn dir das Leben Zitronen gibt…
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 edition a, Wien
Cover: Dasuno
Satz: Lucas Reisigl
ISBN 978-3-99001-399-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
Wie machst du das?
Andere sammeln Briefmarken, ich Schicksalsschläge
Warum man nicht alles hinterfragen darf
Wieso du einmal Durchfall in Indien haben solltest
Das Leben ist scheiße. Ja, und?
Wie man aus schlechter Stimmung eine Festival-MILF zaubert
Die Geschichte vom Heinzi
Was hinterlasse ich der Welt?
Alle (vier) Wege führen zur Lebensfreude
Ohne Freunde geht nichts
Wenn nichts mehr hilft: Heul doch!
Warum du das Leben feiern und keine Party auslassen solltest
Das große Glück kommt. Auch wenn du es anders erwartest
Wenn eine Tür zugeht, mach eine Weltreise!
Und nach dem großen Glück kommt das große Wunder
Eine Frau stand im Lift…
Danksagung
Wie machst du das?
Vor ein paar Stunden fühlte ich mich noch unbezwingbar. Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich eigentlich sogar ein kleines bisschen unsterblich. Klingt das irgendwie überheblich? Schon, oder? Aber da war eben dieses eine bestimmte Gefühl. Diese eine Art von unsterblich. Es gibt ja zwei davon. Die erste: Wenn du den Tod einfach nicht am Schirm hast, weil du mit tausend anderen Sachen beschäftigt bist. Damit, viel zu arbeiten, um endlich berühmt zu werden, online zu shoppen oder dem Hund zum tausendsten Mal zu erklären, dass er nicht auf den Reifen des Nachbarn pinkeln soll, weil der sich eh schon, ich weiß nicht wie oft, darüber beschwert hat.
Ach ja, und damit, zu googeln, wie du diesen nervigen Rotweinfleck aus dem beigen Sofa bekommst. Der erste Tipp, den das Internet ausspuckt: Man soll ihn mit Salz behandeln. Habe ich probiert, doch man sieht ihn noch immer. Egal. Es war ein toller, sensationeller, lustiger Abend. Verbuchen wir es unter Kollateralschaden. Dinge, die passieren, wenn man das Leben feiert, es einen vor Lachen komplett durchbeutelt und der Wein über das dickbauchige Glas schwappt.
Ach, weißt du was, Schwamm drüber und passt schon. Ich will mich nicht zu lange mit diesem einen Zugang zur vermeintlichen Unsterblichkeit herumschlagen. Wo man glaubt, es geht ewig und noch länger weiter und deshalb müllt man seine Tage mit Dingen zu, die einem so unfassbar wichtig erscheinen. Tja, und dann kommt Tag X und das große Wundern… Denn, Überraschung Nummer eins: Es stimmt nicht. Es geht nicht unendlich lange weiter.
Die zweite Art der Unsterblichkeit fühlt sich anders an. Superer. Superlativer. Superheldenhafter. Von diesem Gefühl rede ich gerade. Man glaubt, es kann kommen, was will – man steht da drüber. Easy, ohne mit der Wimper zu zucken, nicht mal eine winzig kleine Schweißperle treibt es einem auf die Stirn. Wenn es sein muss, rettet man im Vorbeigehen und völlig mühelos auch noch gleich die Welt. Die gehört einem ohnehin, logisch.
Solche Momente gibt es nicht oft. Deshalb: Wenn dir so ein Augenblick unterkommt, darfst du ihn nicht kleinreden, sondern musst ihn auskosten. Im seltensten Fall fühlt man sich nämlich grundlos so unglaublich heldenhaft. Meistens hat so ein Gefühl eine Vorgeschichte. Manchmal hat die mit Drogen oder Egoproblemen zu tun. Oder wie bei mir damit, etwas Großes geschafft und erreicht zu haben. Und dann denkt man sich: Leckt mich jetzt alle bitte gehörig am Arsch, mir passiert gar nichts mehr!
Überraschung Nummer zwei: Es stimmt nicht. Einem kann sehr wohl noch was passieren. Denn, wenn du Pech hast, bremst dich das Leben genau in diesem wunderbaren Unsterblichkeitsmoment ordentlich aus. Als würde es dir sagen wollen: Übertreib mal nicht, sondern komm da lieber runter von deinem hohen Ross.
Oder in meinem Fall runter vom Downhill-Mountain-bike, mit dem ich die Freeride-Strecke im Bikepark Zauberberg Semmering heruntergebrettert bin. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich diese Mischung aus Nervenkitzel, ein bisschen Angst und echter Herausforderung liebe. Herrlich ist das! Das ist wie beim Freeriden im Schnee, der modernen Version des Tiefschneefahrens, bloß mit etwas mehr Lebensgefühl.
Normalerweise bin ich da immer mit meinen Freunden unterwegs. Zu diesen Sportarten bin ich auch über meinen Freundeskreis gekommen, der zum Großteil aus Männern besteht. Aus abenteuerlustigen Männern, die im Inneren immer Kind geblieben sind. Keine Ahnung, warum ich zu Buben in Sachen Freundschaft vor allem früher einen besseren Draht hatte als zu Frauen. Also nicht, dass ich etwas gegen Frauen hätte. Habe ich nicht. Im Gegenteil. Frauen sind super. Hat sich damals einfach so ergeben.
Ich habe – vor allem mittlerweile – auch viele Freundinnen. Nora zum Beispiel. Meine beste. Na gut, »mittlerweile« ist bei ihr das falsche Wort, sie war irgendwie schon immer da, seit meiner Kindheit beziehungsweise Vorpubertät und ist aus meinem Leben definitiv nicht mehr wegzudenken. Sie kommt in dem Buch bestimmt noch öfter vor, weil sie einfach eine so große Rolle in meinem Leben spielt. Uns verbinden so viele Erlebnisse, so viele Sachen. Sport allerdings nicht. Sie setzt bei diesen ganzen Hang- und Bergabwärtsfahrten lieber aus. Im Gegensatz zu mir. Es war nie meins, nur zuzuschauen, wie andere irgendetwas machen. Dafür bin ich viel zu neugierig. Ich muss alles selbst ausprobieren, mittendrin.
An diesem einen Nachmittag war ich allerdings auch ohne meine anderen Freunde unterwegs, weil sie entweder keine Zeit oder keine allzu große Lust hatten. Also bin ich allein losgezogen, weil ich unbedingt Sport machen und etwas unternehmen wollte. Ich habe einen unglaublichen Drang, mich zu bewegen und kann nur schwer stillsitzen. Eh super, laut World Health Organization sollten wir uns ohnehin jede Woche mindestens 150 Minuten lang moderat oder 75 Minuten intensiv bewegen. Das machen in Deutschland und Österreich viel zu wenige Leute. Zumindest für die Statistik kann es nicht schaden, dass ich den Durchschnitt immerhin ein bisschen in die Höhe treibe.
Sogar beim Schreiben dieser Zeilen muss ich immer wieder aufstehen und zumindest ein paar Schritte gehen. Vom Schreibtisch zum Kühlschrank. Wein nachschenken. Sind hin und zurück circa zwanzig Schritte. Fällt unter moderat, fix. Oder ich laufe kurz raus in den Garten, meinem Hund Saganaki hinterher. Ein Mischling im besten Alter, benannt nach gebackenem Feta, einer griechischen Spezialität, weil ich ihn verwahrlost gefunden habe, auf Karpathos, einer griechischen Insel, die meine Freunde und ich jedes Jahr besuchen. Saganakis neueste Angewohnheit: Er haut ab, sobald die Terrassentür offensteht.
Und das hatten wir ja schon: Kaum in Freiheit, bepisst er vor lauter Freude oder sonst einem Hochgefühl die Reifen des Nachbarn. Und ich kann mir dann wieder die ewig alte Beschwerdeleier anhören: Wieso macht er das? Können Sie ihn bitte gescheit erziehen? Und so weiter und so fort.
Aber wie bin ich jetzt eigentlich wieder auf den Hund gekommen? Ach ja, wegen der Bewegung. Und meiner Solo-Abfahrt am Semmering, wo plötzlich dieser verdammte Stein im Weg herumlag. Also, es lagen ja viele umher, wie das halt so ist auf einer Downhill-Strecke. Aber der eine Stein, der hatte sich eine besonders blöde Stelle zum Herumliegen ausgesucht, auf dem landete ich nämlich, nachdem ich zuerst auf andere Art ins Schleudern gekommen war, mit meinem Knöchel. Autsch.
Anfangs dachte ich, ich hätte mir beim Aufprall meinen Fuß nur irgendwie beleidigt. Gut, er stand vielleicht ein biiiiisschen komisch weg. Vermutlich ausgerenkt. Das kann vorkommen. Bei Sportarten wie diesen sollte man jetzt nicht unbedingt wehleidig oder großartig zimperlich sein.
»Hey«, rief ich zwei Typen zu, die, kurz nachdem ich gestürzt war, mit ihren Bikes an mir vorbeifuhren, »könnt ihr mal bitte ein bisschen an meinem Fuß anziehen? Auf drei!«
Sie blieben stehen und stiegen von ihren Rädern. »Bitte, was sollen wir tun?«
»Kurz an meinem Fuß anziehen. Ich habe mir den Knöchel ein bisschen ausgerenkt. Auf drei! Eins… Zwei…«
Die beiden sahen zuerst einander und dann mich irritiert an.
»Bist du dir sicher? Willst du dir das nicht lieber im Spital anschauen lassen? Wäre vermutlich gescheiter.«
»Nein, geh bitte, das ist keine große Sache. Einfach kurz anziehen. Der ist gleich wieder drin. Also, noch einmal: Auf drei! Eins… Zwei…«
Der eine schaute mich weiterhin verunsichert an, während der andere, etwas mutiger, meinen deformierten Fuß umfasste.
»Drei… Und zieh!«
Er zupfte vorsichtig daran. Es tat sich nichts.
»Mach nochmal. Vielleicht eine Spur engagierter. Ein wenig leidenschaftlicher, bitte!«
Er zog nochmal an meinem Fuß. Eventuell einen Hauch fester. Half nur nichts.
»Nein, lass gut sein. So wird das nichts. Ich fahre runter in die Station, aber danke euch.«
»Kommst du auch wirklich klar?«, fragten sie mich besorgt, mit noch immer sehr beunruhigtem Gesichtsausdruck.
»Ja, ja, sicher. Alles gut«, antwortete ich, winkte ab und deutete ihnen, weiterzufahren, was sie schließlich auch taten. Dann wollte ich aufstehen. Die Betonung liegt auf »wollte«. Ein stechender Schmerz zog sich von den Füßen hinauf bis in sämtliche Spitzen meines Körpers. Halleluja! Hölle, Hölle, Hölle! Ich wusste nicht, dass ein ausgerenkter Knöchel so böse wehtun konnte. Tat er aber.
Im Krankenhaus war ich zunächst trotzdem noch ziemlich zuversichtlich. Die Frau, die vor mir dran war, hatte nämlich auch ein Knöchel-Aua. Als sie aus dem Behandlungsraum kam, verkündete sie erleichtert: »Ist nur ein bisschen gezerrt, alles gut.« Wird bei mir auch so sein, dachte ich mir da noch. Rückblickend vielleicht eine etwas eigenartige Logik, aber hey, ich stand unter Schock.
»Es tut mir leid, Frau Safer, da ist ordentlich was kaputt. Ich fürchte, das müssen wir operieren«, verkündete der Arzt ein paar Minuten später mit mitleidiger Miene und zerstörte mit diesem lapidaren Satz meine ganze Zuversicht. Seine Prognose: Acht bis zehn Wochen Gips. Scherz, oder? Von mir aus Gips. Aber mit Operation? So mit Schrauben und Metallteilen? Und braucht das echt so lange, um zu heilen?
»Da sind nicht einfach nur die Bänder gezerrt?«
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht?«
Der Arzt schüttelte wieder den Kopf. Dieses Mal ein bisschen energischer.
»Auch nicht ausgerenkt?«
»Nein, leider mehrfach gebrochen.« Abermaliges Kopfschütteln, jetzt schon etwas entnervt, nach dem Motto: Was versteht die Gute daran bitte nicht? Aber ich verstand es wirklich nicht. Der Sturz war doch bitte nicht so schlimm, dass ich dessen Nachwehen jetzt bis zu drei Monate spüren sollte!
»Schauen Sie, Sie können sich das so vorstellen, als würden sie mit einem Mörser eine Handvoll Nüsse zerkleinern. So in etwa sieht ihr Knochen momentan aus…«, erklärte der Mediziner weiter.
»Aha«, antwortete ich ihm geistesabwesend und wartete darauf, dass der Arzt seine Diagnose endlich in den Computer tippte. Denn ich hatte einen guten Plan: Sobald er damit beschäftigt war, viele lateinische Fremdwörter in meine Patientenkartei zu klopfen, würde ich die Röntgenbilder mit dem Handy abfotografieren und einem befreundeten Chirurgen schicken. Ich wollte nicht, dass er davon etwas mitbekam, weil ich es als unhöflich empfand, seine Arbeit so offensichtlich anzuzweifeln, auch wenn ich mir sehr, sehr sicher war, dass er sich irrte. Und man weiß ja, wie die meisten Menschen reagieren, wenn man ihre Leistung infrage stellt: selten erfreut.
In einem unbeobachteten Moment drückte ich mehrmals auf den Auslöser und leitete die Schwarz-Weiß-Aufnahme meines Knöchels meinem Arzt-Freund weiter. »Ich brauche bitte dringend deine Einschätzung. Schau dir das kurz an. Habe ich da was?«, schrieb ich zu den Bildern und erwartete mir, dass mir Veith antworten würde, dass wir das auch ohne Operation in den Griff bekommen würden.
»Ja, hast du!!!«, kam zurück. »Was ich so sehen kann, schätze ich, du wirst nicht an einer OP vorbeikommen. Inklusive Liegegips. Könnte ein bisschen dauern.« Frustriert ließ ich das Handy in meine Tasche fallen. Noch im Flug bimmelte es erneut. Ich fischte nach meinem Smartphone. Eine weitere Nachricht von Veith. Ha, doch Entwarnung, wusste ich es doch. Es konnte nicht so schlimm sein.
»Auch wenn es dir nicht passt, Susi, du musst jetzt Geduld haben!!« Verdammt. Das war nicht die Nachricht, auf die ich gehofft hatte. Alle, die mich kennen, werden an dieser Stelle laut auflachen. Denn es gibt da folgendes, klitzekleines Problem: Ich besitze keine Geduld. Nicht einmal ansatzweise. Keinen noch so kleinen Funken.
Ich habe in meinem bisherigen Leben vier Knie-Operationen hinter mich gebracht – und in jedem Fall war ich selbst daran schuld. Es hieß ausruhen, schonen und ich habe mich nicht daran gehalten, weil ich es nicht ausgehalten habe, nichts zu tun. Selbst nach den Eingriffen am Knie habe ich mir, quasi vom OP-Tisch aus, noch ein Taxi bestellt und mich ins Büro fahren lassen, um dort was weiterzubekommen. Fades Herumliegen ist einfach nichts für mich.
Und was machte ich jetzt? Genau das! Ich lag hier in diesem öden Krankenhauszimmer, atmete stinkige Spitalsluft und starrte an die Decke, an der ein altmodischer Blumenluster aus Keramik hing. So einen und noch viele mehr in dem Stil hatten wir im Leuchtengeschäft meiner Familie. Haben mir nie besonders gefallen, aber angeblich verkauft sich der Stil gut. Oh, na, vielleicht sind die ja sogar von uns? Hm, ich schätze, dann muss ich sie jetzt eh gut finden. Und irgendwie passen sie ja zu den hellblonden Wänden und den flaschengrünen Tür- und Fensterrahmen. Pseudo-Biedermeier, eine gut gemeinte Schloss-Schönbrunn-Kopie.
In dem Moment kam mir Lilian Harvey mit ihrer Knöchelgeschichte in den Sinn. Warum eigentlich? Keine Ahnung. Aber fällt einem nicht ausgerechnet unter der Dusche ein, dass man noch dringend Geschirrspülmittel kaufen muss, das man seit zwei Wochen jeden Tag vergisst, endlich den blöden Erlagschein mit der Parkstrafe einzahlen sollte und auch der Friseurbesuch schon längst überfällig ist, geschweige denn der bei der Nagelpflege? Eben.
Ich weiß auch nicht mehr, wo ich die Story überhaupt aufgeschnappt hatte. Wahrscheinlich bei irgendeinem geschäftlichen Abendessen, wo sich einer mit dem Wissen um diese Anekdote rühmen wollte. Ist aber auch eine echt nette Geschichte. Die gebürtige Britin begann ihre Bühnenkarriere als Tänzerin. Mit 17 wurde sie am Wiener Varieté Ronacher engagiert. Eine ziemlich coole Sache für eine aufstrebende Künstlerin.
Noch cooler: Der deutsche Filmproduzent Richard Eichberg saß eines Abends im Publikum und war vom Auftritt der jungen Harvey so begeistert, dass er ihr sofort ein Angebot für seinen nächsten Film machte. Nur sie selbst fand seinen Vorschlag scheinbar nicht besonders prickelnd. Sie sagte ab, weil ihr die Filmbranche zu unsicher vorkam. Das war zu einer Zeit, in der das Theater auch tatsächlich noch einen weitaus besseren und beständigeren Ruf genoss als Kino und Fernsehen.
Ein paar Tage später jedenfalls stürzte sie schwer und brach sich – zack – den Knöchel. Die Ärzte sagten, sie würde so schnell nicht mehr professionell tanzen können. Produzent Eichenberg bekam davon Wind, witterte seine Chance, doch noch mit ihr ins Geschäft zu kommen und schickte ihr erneut einen Vertrag ins Spital. Dieses Mal unterzeichnete sie. Der Rest ist Geschichte: Harvey wurde zu einem der großen Stars der 30er-Jahre in Deutschland und spielte in mehr als 55 Filmen mit. Na ja, wer weiß, was man noch alles an Großartigkeiten erwarten würde. Wenn es bei einer Lilian Harvey klappt, warum nicht auch bei mir.
Verträumt schielte ich auf den noch ziemlich frischen Gips an meinem Bein, als es klopfte.
»Ja? Herein!«, sagte ich.
Die Klinke bewegte sich langsam nach unten und genauso langsam öffnete sich die Tür. Meine Freundin Doris steckte ihren Kopf durch den Spalt und lächelte mir mild entgegen.
»Na, du«, sagte sie, presste mitfühlend die Lippen zusammen und wedelte mit einem Strauß Blumen in meine Richtung. »Wie geht es dir?« Kurze Pause. »Sorry! Blöde Frage, gell! Wie soll es dir mit dem kaputten Knöchel schon gehen…«
»Du, eh okay, alles gut«, sagte ich, »ich freue mich, dass du da bist!«
»Du machst aber auch immer Sachen. Wie lange wird es dauern, bis alles wieder verheilt ist?«
»Der Arzt hat was von acht bis zehn Wochen gesagt. Zuerst einige Wochen Liegegips, dann einen normalen.«
»Scheiße, dann fällt ja auch dein jährlicher Karpathos-Urlaub ins Wasser.«
»Wie? Wieso?«
»Wolltet ihr da nicht im Juli fliegen? Da hast du dann ja noch deinen Gips.«
»Na, macht ja nichts. Ich fliege trotzdem«, sagte ich und nippte an meinem Mineralwasser.
»Mit Gips?«, Doris riss ungläubig die Augen auf.
»Sicher! Dann brauch‘ ich wenigstens die Koffer nicht selbst schleppen«, lachte ich.
Doris sah mich etwas verklärt an.
»Stimmt was nicht?«, wollte ich von ihr wissen.
»Doch, doch, alles gut, ich frag‘ mich nur gerade… Sag, wie machst du das eigentlich?«
»Wie mache ich was?«
»Na, dass du so lustig und locker und optimistisch bist nach dem ganzen Scheiß.«
Andere sammeln Briefmarken, ich Schicksalsschläge
Damit auch du am selben Wissensstand wie meine Freundin bist, sollte ich dir vielleicht kurz erzählen, was sie mit »dem ganzen Scheiß« gemeint hat:
Sache Nummer eins: Mein Schädel.
Es war 1998. Ich bin mir jetzt eigentlich gerade ziemlich sicher. Oder doch 99? Eigentlich komplett egal für die Geschichte. Da fällt mir ein, 2000 war dann… Ja, 1999 war es. So, jetzt haben wir’s!
Es war mitten im Frühling. Alles blühte, die Natur tauchte die Umgebung in angenehme Pastellfarben und die Nächte waren nicht mehr ganz so frostig. Wir waren aus, um eine bestandene Medizinprüfung von unserem Freund Markus zu feiern. Alles war ganz großartig. Wie das halt so ist, wenn man jung ist und das Leben genießt. Aufgedrehter Wahnsinn. Wir waren jetzt nicht irrsinnig besoffen, leicht beschwipst vielleicht, wir sind von Lokal zu Lokal gezogen und in jeder Bar haben wir Leute mitgenommen.
Am Ende sind wir im Tanzcafé Jenseits gelandet, als riesige Gruppe an feier- und lebenslustigen Menschen. Das Lokal war zu der Zeit total in und dementsprechend voll. Damals gab’s noch nicht so viele Bars und Clubs. Das klingt jetzt unglaublich alt, aber es war echt ein bisschen anders. Jetzt steht ja ein Hipsterschuppen neben dem anderen im sechsten, siebten Bezirk. Vor zwanzig Jahren gab es original drei Lokale in meinem damaligen Viertel, wo man seine Abende verbracht hat: die Bar Italia, die Schulz-Bar und das Café Jenseits. Ach so, und das Café Europa, klar. Das gab es aber irgendwie schon immer. Und die Camera, aber die war quasi ein reiner Drogenumschlagplatz und keine Location, um abzufeiern.
Somit war das Jenseits eine zum Bersten volle Hütte, was einerseits großartig geil war, aber andererseits war die Luft dementsprechend elend. Damals war auch das Rauchen noch für alle super und fast jeder hat’s getan. Kann man sich heute auch nicht mehr vorstellen, oder?
Die Getränke waren… Na ja. Ich weiß noch, dass ich meine Nase an diesem einen Abend ins Glas gesteckt und gesagt habe: »Der Wein riecht jetzt schon wie gekotzt«. Getrunken habe ich ihn trotzdem, dazu eine geraucht. Dann ist mir ganz schnell sehr schwindlig geworden und ich bin vor die Tür getaumelt. Einer der Jungs, der mit von der Partie war, ist hinter mir nachgewankt. Zum Glück, denn draußen ist mir so schwindlig geworden, dass ich einfach in Ohnmacht gefallen bin. Bumm, zack, mit dem Hinterkopf direkt und mit Vollgas auf die Gehsteigkante.
Irgendwann, vermutlich ein paar Minuten später, bin ich wieder zu Bewusstsein gekommen. Und da lag ich in meinem Ausgeh- und Prüfung-bestanden-Outfit mitten in der Nacht zwischen den parkenden Autos, Blick nach oben, lauter Menschen um mich herum, die besorgt dreinschauten. Über ihren Köpfen war da das Licht vom Neon-Schild des Lokals, das mir ins Gesicht strahlte und in meinen Augen brannte. Und mein Kopf – der tat ziiiiiemlich weh.
Am Weg ins Spital habe ich dann, wie prophezeit, gekotzt. Allerdings nicht vom Spritzer, sondern wegen der Schmerzen. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Doch, an einen überaus schlechten Witz einer Ärztin. »Oje, da haben wir wohl einen Sprung in der Schüssel«, hat sie gesagt, als sie sich das Röntgenbild meines Schädels ansah. Finde ich bis heute noch wahnsinnig unpassend.
An noch etwas erinnere ich mich: an Alex, der meine Jeansjacke getragen hat. Das Teil sah an ihm aus wie ein winziger Bolero in Kindergröße. Schräg, welche Details man in seiner Erinnerung oft abspeichert, oder? Zum Beispiel die eine Szene, in der das Krankenhauspersonal mein Bett superschnell und superhektisch den Spitalsgang entlangschob, vorbei an meinen Freunden, die noch immer sehr besorgt dreinblickten.
Dann war’s vorbei. Alles schwarz und dunkel. Außer, wenn mein damaliger Freund zu Besuch kam. Wenn er da war, hat sich alles wohlig warm angefühlt. Das kennt man eh aus diesen ganzen Koma-Geschichten und das ist echt so. Obwohl, ich war ja nicht im künstlichen Tiefschlaf, ich lag nur ziemlich weggetreten auf der Intensivstation. Mein Frontallappen war stark angeschwollen. Durch den heftigen Aufprall am Hinterkopf hat es mein Hirn vorne an die Schädeldecke geschleudert und das hat einen ordentlichen Bluterguss verursacht. Status: »Man muss das sehr gut überwachen, weil das sonst ziemlich ins Auge gehen könnte«.
Und es gab sie tatsächlich – diese Momente, in der alles, also mein Leben, an der Kippe stand. Das habe ich aber natürlich nicht wirklich mitbekommen in meinem Dämmerzustand. Also schon, aber nicht bewusst und ich konnte es auch nicht richtig einordnen. Einmal habe ich mich innerlich zum Beispiel furchtbar aufgeregt über das Scheißgerät neben mir, das irgendwann mal so irrsinnig laut gepiepst hat. »Nicht mal hier hat man seine Ruhe«, dachte ich mir, »wie soll man da gesund werden? Unmöglich!« Das Teil hat auf einmal losgeheult wie eine Sirene. In Wahrheit hätte ich für diesen penetranten Ton dankbar sein müssen, denn da hatte ich einen dieser »Vielleicht muss ich sterben«-Augenblicke.
Insgesamt war ich schließlich drei Wochen lang auf der Intensivstation. Da beobachtest du Sachen, die alles andere als schön sind, kann ich dir sagen. Die Zimmer sind ja alle gläsern, zwecks der Dauerüberwachung, und links und rechts von dir siehst du relativ leblose Körper, aus denen zig Schläuche hängen. Wenn du dann mal wieder einigermaßen gerade siehst, auch das dauert nach so einem Schädel-Hirn-Trauma. Die ganzen Sinne sind bei mir nur ganz, ganz langsam und nach und nach zurückgekommen.
Wo wir wieder bei der Sache mit der Geduld wären. Die habe ich nicht, wie wir eh schon wissen. So eine Verletzung ist echt nichts für rastlose und zappelige Gemüter. Mein Geruchssinn ist übrigens nach wie vor weg. Bitter, weil ich den Duft von frischem Gebäck, frischer Bettwäsche, frisch geschnittenem Gras und Schnee vermisse. Und weil ich nie weiß, ob mein Deo noch hält oder ob ich schon zu einer olfaktorischen Zumutung geworden bin.
Manchmal ist das Leben mit Anosmie aber gar nicht mal so übel. Nämlich immer dann, wenn’s wo stinkt. Im australischen Canberra wurde unlängst eine ganze Uni evakuiert. Hintergrund: Irgendjemand hatte eine Durian-Frucht, umgangssprachlich auch Stinkfrucht genannt, in einem Mülleimer entsorgt. Das wussten die Leute dort aber nicht und dachten, der beißende Geruch käme von Gas. Deshalb gab es riesige Aufregung und großes Drama. Schlussendlich war’s aber nichts Lebensgefährliches, sondern einfach nur ein bisschen ekelhaft. Ja, und solch geruchsintensive Erlebnisse bleiben mir eben erspart. Und wenn man im Sommer in der U-Bahn fährt, da stinkt es für alle, nur für mich nicht. So, jetzt aber genug davon und zurück ins Krankenhaus, das im Übrigen auch eine sehr unangenehme Geruchsaura umgibt…
Nach der Zeit auf der Intensivstation musste ich noch weitere zwei Monate im Spital bleiben. 91 lange Tage. 2184 üble Stunden. 131.040 mühsame Minuten.
Es gab aber auch viele lustige Momente, muss ich schon zugeben. Zum Beispiel hat mir Tinchen-Gerti, eine meiner Freundinnen, extragroße und extravagante Sonnenbrillen ins Spital gebracht, weil meine Augen plötzlich irrsinnig empfindlich waren und normales Tageslicht eine Zeit lang viel zu hell für mich war. Dazu hat sie mich auch gleich neu eingekleidet – mit einem überaus kitschigen rosa Seidennachthemd. »Damit du hübsch bist für die Ärzte hier«, hat sie gesagt. Ha ha ha.
Ich glaube, an diesem Punkt in meinem Leben bin ich ein anderer Mensch geworden, als ich hätte werden können. Manchmal glaube ich, ohne mein Schädel-Hirn-Trauma hätte ich mich zu einem kopflosen Überflieger entwickelt.
Ich habe mir im Leben nie schwergetan, war bei allen ziemlich beliebt und hatte diesen auffälligen, blonden Lockenmopp auf dem Kopf, der mich automatisch zu einer Erscheinung gemacht hat. Wenn ich wo zur Tür rein bin, war ich da und unübersehbar mit meinen Haaren, was mir bei Männern oft ziemlich viele Pluspunkte eingefahren hat. Und ich war jung. In dem Alter geht es relativ schnell, dass man glaubt, man ist etwas Besseres. Das Potential zum Arschlochtum war definitiv gegeben. Mein angeschwollenes Hirn hat mich gerettet, wenn man so will.
Und es hat mir neben viel Kopfweh den allerallerbesten Freund der Welt beschert – Alex. Und es hat mir gezeigt, wie viele andere großartige Menschen ich in meinem Leben habe. Sie waren alle dabei – in dem Moment, als ich da am Gehsteig lag und an jedem einzelnen Tag, an dem ich mich zurückgekämpft habe.
Jeden Abend nach ihrer Arbeit saßen sie bei mir im Spitalszimmer und wir haben zusammen gegessen. Ich aß das Zeug aus dem Krankenhaus, sie irgendwas vom Lieferservice. Wir alle haben über die Erlebnisse des Tages gesprochen und die Jungs untereinander über Autos und nackte Frauen. Manchmal haben wir gar nicht geredet.
Also, mal waren die einen da, dann die anderen. Wer immer, immer, immer da war: Alex. So unglaublich lieb, dabei waren wir zu dem Zeitpunkt nicht großartig miteinander verbandelt.
Mit 16 habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Im Volksgarten und damals fand ich: Puh, der geht gar nicht. Er war einer, der mit Sakko ausging. Mit Sakko. Zumindest an diesem Abend trug er eines. Sakko. Macht er heute nicht mehr. Ganz im Gegenteil, er ist einer von den Coolen geworden. Durch gemeinsame Freunde hat sich das anfänglich zwischen uns zu einem Ausgeh-Ding entwickelt. Wir haben uns freitags oder samstags sporadisch gesehen. Dieses »Ich ruf dich unter der Woche an und erzähl dir von meinen Problemen« hatten wir da noch nicht. Heute schon. Und zwar – seit damals – täglich. Aber dazwischen liegen ja auch ein paar verbindende Etappen.
Nach meinem Schädel-Hirn-Trauma haben wir ein halbes Jahr lang jeden Tag etwas miteinander unternommen. Ich durfte nicht Auto fahren und auch nicht arbeiten und damit mir nicht wieder irgendetwas auf den Kopf fiele, etwa die Decke, hat sich Alex meiner angenommen. Er hat mir täglich ein Unterhaltungsprogramm zusammengestellt.
Diese Nacht hat uns für immer zusammengeschweißt. Ein bisschen wie bei »Twilight«. Hast du’s gesehen? In der dritten und vierten Folge gibt es dieses… Ich weiß gerade nicht, wie genau sie es nennen… Prägung, glaube ich. Da geht es jedenfalls darum, dass ein Werwolf einmal im Leben seinen Seelenverwandten trifft. Irgendeine Art von Bonding, die da stattfindet. Und die gab es eben auch bei uns in dieser einen Nacht, in der ich fast mein Hirn und mein Leben verloren hätte.
Der kostenlose Auszug ist beendet.