Ich hab mit Ingwertee gegoogelt

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Susanne M. Riedel

ICH HAB MIT
INGWERTEE GEGOOGELT


Susanne M. Riedel

wurde 1971 in Berlin-Lichterfelde geboren und lebt mit ihrer Familie noch heute im geranienträchtigen Süden der Stadt.

Ihre Begeisterung für Menschen hat sie im ersten Leben in die soziale Arbeit geführt, ihrer Leidenschaft für das Schreiben ging sie zunächst im stillen Kämmerlein nach. 2015 machte sie die Tür auf, seither ist sie erfolgreich als Vorleserin unterwegs. Seit 2018 gehört sie der traditionsreichen Lesebühne Der Frühschoppen an, seit 2020 auch der legendären Reformbühne Heim & Welt.

Zu Beginn der Corona-Pandemie entstand unter krisenkalender.de ein herzerwärmender öffentlicher Briefwechsel mit Horst Evers. Im Juli 2020 feierte sie ihren ersten Fernsehauftritt bei der Ladies Night in der ARD. Der Rest ist Zukunft.

»Wie im richtigen Leben: Die kleinen Geschichten sind die wichtigsten! Die, an die wir uns noch lange erinnern – mit einem unvermeidlichen Grinsen.«

Gerburg Jahnke

»Susanne Riedel erzählt alles so, dass man die Menschen, von denen sie berichtet, immer richtig lieb hat, während man gerade über sie lacht. Das gilt vor allem auch, wenn sie von sich selbst erzählt.«

Kirsten Fuchs

E-Book-Ausgabe März 2021

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2021

www.satyr-verlag.de

Cover: Jussi Jääskeläinen, Berlin (www.kobaia-design.com)

Korrektorat: Jan Freunscht

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-73-8

Inhalt

Misunderstood

Das Perlhuhn

Shake Shake

Ein Sommerabend oder: Die Krux mit dem Kontext

Bericht von der Baustelle

Fransen und Flausen

Sehnsucht nach Rauchzeichen

So siehst du aus

Föhn

Marek

Concealer

Vergissmeinnicht

Süßer, die Glocken!

Von Heilmann und Hängemispeln

Sport und ich

Siri und Hilde

Check-out

Grüße aus dem Pumpensumpf

Auf der Piste

Abschweifen und Tee trinken

Taschentherapie

Altes Haus, krankes Haus

Logorrhoe

Partytime

Gassi mit dem Schweinehund

Kürbissuppenballade

Im Land des Lächelns

Touché

Mottowochen

Mirko

Taupe

März (oder: Alle Jahre Widder)

Wiedersehen

Musikalische Begleitung

Say my name, say my name

Last Christmas?

Zwischen den Jahren

Stimmen hören für Fortgeschrittene

Deine Mudda

Amigo

Bestanden!

Harmlos

Michael

Als gäb’s kein Morgen mehr

Alles zurück

Misunderstood

Cause I’m just a soul whose intensions are good O Lord, please don’t let me be misunderstood.

(The Animals, 1965)

Manchmal denke ich: Mein Leben ist eine lange Geschichte von Missverständnissen.

Folgt man meinem Bruder, ging es im Grunde mit meiner Geburt schon los. Er hatte eigentlich einen Schäferhund bestellt. Zum Trost und in einer Geste elterlicher Seltsamkeit haben meine Mutter und mein Vater mir dann übrigens den Namen des Mädchens aus seiner Klasse gegeben, in das mein Bruder zu der Zeit sehr verliebt war. Wenigstens heißt sie schön, mögen sie gedacht haben … und trugen das plärrende Bündel etwas schuldbewusst nach Hause.

Als ich mit drei Jahren in den Kindergarten kam, hatte mir niemand erklärt, dass ich am Nachmittag auch wieder abgeholt würde. Ich dachte, ich wäre ausgesetzt worden und müsste jetzt hier leben, in diesem diakonischen Muff von Bohnerwachs, Klebstoff und Eiernudeln mit Wurstsoße. Das waren bange Stunden in diesem jungen Leben. Die Kastanienmännchen, die ich an diesem Tag bastelte, hätte man keiner Psychologin zeigen dürfen.

Als ich dann in die Schule kam, hatte mir wiederum niemand erklärt, dass ich da in den Tagen nach der Einschulung noch mal hinmusste. Öfter sogar. Das war ein herber Schlag – früh aufstehen war noch nie so mein Ding –, ich tröstete mich mit der Aussicht auf tägliche Schultüten, doch auch die blieben aus.

Und so ist die Reihe im Grunde bis heute fortzusetzen.

Ich habe das alles mal meinen Kindern erzählt, sie konnten sich das überhaupt nicht vorstellen. Nachdem sie mich eine Weile aufgezogen hatten mit der Schulnummer, fielen ihnen dann aber auch Dinge ein, wo sie mal auf der Leitung gestanden hatten.

»Als ich bei WhatsApp neu war, dacht’ ich voll lange, ADHS wäre ’ne Abkürzung für ›Ach du heilige Scheiße‹«, erzählte der eine, und der andere: »Ey, und ich dachte jahrelang, Hartz IV ist eine Droge. Weil es immer so hieß: ›Der ist auf Hartz IV‹ …«

Heute Morgen, als ich mich etwas gestresst für einen wichtigen Termin im Büro aufgebrezelt habe in dem Versuch, möglichst businessmäßig auszusehen, klopfte mir der Kleine anerkennend auf die Schulter und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Mum, du siehst total aus wie ’ne Professionelle.«

Und so gibt es sie auch im Kleinerlei des Alltags, diese Missverständnisse, die mich begleiten.

Mein Smartphone ist natürlich ganz vorn mit dabei, von dem fühle ich mich auch oft nicht ernst genommen, von verstanden mal ganz zu schweigen. Ich habe ihm noch keinen Namen gegeben, aber langsam wäre es an der Zeit. Will ich »Spandau« eingeben, schreibt es »Spanien«. Bei »Kreuzberg« »Kreuzigung«. Und schreib ich »Frohnau«, korrigiert es auf – kein Scherz – »Frohnatur«. Was beweist: Mein Smartphone hat von Berlin echt keine Ahnung. Oder ist CDU-Wähler.

Ich krieg natürlich auch andersrum manchmal kryptische Nachrichten. Meine Freundin Moni schrieb vor ein paar Tagen: »Verdammt, ich habe Grips.« Gemeint war vermutlich »Grippe«. Denke ich jedenfalls. Solche Nachrichten ersetzen ja manchmal den Denksport, und ich finde das eher unterhaltsam. Aber – ganz ehrlich – wenn du eine Nachricht zum Geburtstag kriegst, die mit der Anrede »Letzte Sabine« statt »Liebe Susanne« beginnt – da kann man dir noch so viele Nachrichten hinterherschicken, da bleibt was hängen.

 

Meine liebste Geschichte zu diesem Thema ist Gott sei Dank nicht mir selbst passiert. Das war noch vor der Zeit der Smartphone-Daddelei, als man noch den Anzeigenteil von Zitty las, wenn man weggehen wollte. Und Anzeigen aufgab, wenn man was suchte. Oder jemanden.

Doro war damals nach vielen schrecklich kurzen und meist auch sehr schrecklichen Beziehungen lange in Therapie gewesen, hatte neue Kraft geschöpft und war nun bereit, ihrem Leben eine Wendung zu geben. Tschakka, mag sie gedacht haben und beschloss, dass es nun Zeit sei für einen Neuanfang, einen neuen Mann, eine neue Beziehung. Lange feilte sie an ihrer Kontaktanzeige und entschied sich am Ende nur für einen Satz:

»Ich wäre dann so weit«, dazu ihre Telefonnummer.

Ich fand das ziemlich cool.

Das Problem war dann letzten Endes auch nicht die Anzeige selbst. Sondern dass die Zitty sie unter der falschen Rubrik abdruckte: Statt unter »W sucht M« erschien sie in der Rubrik »Sadomaso«, was dem Text »Ich wäre dann so weit« eine ganz andere Note verlieh – und im Übrigen eine ganze Reihe verstörender, aber durchaus horizonterweiternder Telefonate nach sich zog.

Mein Smartphone piepst, Moni schreibt: »Mir geht es schon viel besser, hab mit Ingwertee gegoogelt.«

Schreibe zurück, dass ich das auch mal probieren werde. »Grips braucht schließlich keiner«, schreibe ich. »Aber jetzt muss ich schlafen, morgen ruft Spanien wieder.«

Na dann. Gute Nacht, Marie.

Das Perlhuhn

Es gibt ja so Sätze, bei denen man einen Moment braucht, bis man weiß, was man darauf erwidern soll. Manchmal fällt es einem auch erst ein, wenn der Betreffende längst schon wieder weg ist, so geht es mir jedenfalls oft.

Letzte Woche beispielsweise habe ich von einem Kollegen eine Blume geschenkt bekommen. Also – fast. Er sagte wörtlich: »Susanne, … ich wollte dir eine Blume zum Abschied schenken. Es wäre eine Calla gewesen, meine Lieblingsblume, … aber dann war es schon so spät.«

Was sagt man da? Danke?! Ich glaube, ich habe »Danke« gesagt.

Ein anderer Kollege erzählte mir ganz unvermittelt von den Vorbereitungen auf seine anstehende Darmspiegelung. Es war noch nicht mal 8 Uhr, ich hatte mir eigentlich nur einen Kaffee holen wollen, seine Tür stand auf, und nun stand ich da in diesem Türrahmen, erwiderte was in der Art von »Ja blöd, dieses ganze Zeug vorher trinken, das macht wirklich keinen Spaß« und wandte mich zum Weitergehen. Doch da hielt er mich zurück. Leise schloss er die Tür hinter uns, sah mir tief in die Augen und sagte nach einer bedeutungsvollen Pause: »Ich habe dann immer solche Schwierigkeiten mit dem Stuhlgang.«

Ich bin Sozialarbeiterin, ich kenne seltsame Gespräche, schon von Berufs wegen – aber Sätze wie dieser überfordern mich. Mein Fluchtinstinkt meldet sich dann, und mir fallen höchstens blödsinnige Antworten ein. In diesem Fall war es: »Na, dann … guten Rutsch!« Was soll man auch sagen?

Erfrischend ist es dann, wenn man statt verstörender Botschaften einfach mal unerwartete Antworten bekommt. Wenn man zum Beispiel eine Kollegin fragt, wie es ihr geht, und sie antwortet mit dem Satz:

»Ich habe ein Perlhuhn getöpfert!«

Meine Kollegin Christa ist aus der Reha zurück und heute den ersten Tag wieder da. Ich freue mich wie Bolle, denn wenn Christa nicht da ist, fehlt mir ihr Lachen, meine Mundwinkel hängen ganz von allein zwei Grad tiefer, auf den Fluren ist es gefühlt zwei Grad kälter und vor allem um einiges langweiliger. Mit niemand anderem berede ich Episoden und Eskapaden, Lokalpolitik und Lotterleben so gerne wie mit Christa. Mit ihr kann man Sorgen teilen, tief schürfen, über Flachwitze lachen und in Sitzungen Grissini rauchen, wenn die nächste Zigarettenpause noch zu lange hin ist.

Christa ist empathisch, bis der Arzt kommt, und die Güte in Person. Wäre die Firma Raumschiff Enterprise, Christa wäre Counselor Troi.

Empathinnen haben es gemeinhin nicht leicht im Leben, deshalb habe ich mich sehr gefreut, als Christa sich die Zeit für eine Reha genommen und sich zur Abwechslung mal ein bisschen um sich selbst gekümmert hat. Nun ist sie zurück, und ich frage:

»Hey Christa, wie geht es dir, hattest du eine gute Zeit?«

Und sie antwortet mit zusammengekniffenen Augen und fester Stimme: »Ich habe ein Perlhuhn getöpfert!«

»Du hast was?«

»Ich habe ein Perlhuhn getöpfert!«

»Du hast ein Perlhuhn getöpfert.«

»Ja. Aus Rache.«

An dieser Stelle ist meine Neugier endgültig geweckt.

Es war rund um den Muttertag, erzählt sie dann, dass sie im Freizeitprogramm der Reha-Klinik das Töpfern für sich entdeckt hat und die folgenden drei Wochen Tag um Tag und voller Freude töpferte, was das Zeug hielt.

»Meine Kinder sind endlich groß, Susanne, verstehst du?«, sagt sie eindringlich und legt eine Hand auf meinen Unterarm: »Es ist an der Zeit!«

Als ich immer noch verwirrt schaue, sagt sie:

»All die Jahre, die ich mich freuen musste über selbst gemalte Bilder und all das getöpferte Zeug, von dem man nicht mal wusste, was es darstellen soll! Und immer musstest du alles geben und dich freuen und sagen: ›O wie toll, das hast du aber ganz schön gemacht, Liebling!‹, und dachtest eigentlich nur: ›Wohin jetzt wieder mit dem Scheiß?‹«

Ich denke nach. Und ja, ich teile diese Erfahrung. In meinem Nachttisch habe ich eine extra Schublade für so was, ganz unten. Hier finden sich laminierte Tuschebilder aus der Kita, mit Autos bestickte Lesezeichen, mit Reis gefüllte Polyestertiere und Schlüsselanhänger aus neonfarbenen Bügelperlen … – die Muttertagsschublade.

»Ich habe für alle Kinder was getöpfert«, sagt Christa, »und sie dann dabei beobachtet, wie sie sich freuen mussten!« Ein Sohn habe einen Stiftebehälter bekommen mit einem modellierten Seestern darauf, der andere eine Art Schale, und Sohn Nr. 3 – da wisse sie auch nicht so genau, was es sein sollte. Während sie erzählt, blitzt es in ihren Augen. »Susanne«, sagt sie und nimmt meine Hand: »Ab heute wird zurückgetöpfert!«

Mich ergreift tiefe Ehrfurcht.

Nur das Perlhuhn – das hat sie behalten. Es steht auf dem Regal in ihrem Büro und soll ihr fortan eine Erinnerungsstütze sein. Und mir eine Mahnung, mich lieber nie, niemals mit Christa anzulegen.

Shake Shake

Oh Gott, das kann der Wecker doch nicht ernst meinen. Schwer liegt die Dunkelheit über der Stadt, schwer liegt mein Körper auf der Matratze, schwer liegt mein Kopf auf seinem Kissen und ist in keiner Weise bereit, sich von ihm zu trennen.

Das war aber auch eine blöde Idee reinzufeiern. Mitten in der Woche.

Nur noch mal kurz die Augen zumachen …

»Mum, aufstehen! Wir haben verschlafen!«, ist das nächste, was ich höre. Mist. Ich springe aus dem Bett, ziehe mir schnell irgendwas an, verabschiede Sohn 1 und Sohn 2 und wache eigentlich erst auf, als ich vor dem Kühlschrank stehe und die Zahnpasta suche. Kaffee. Gebt mir Kaffee.

Aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Hastig greife ich meinen Rucksack und stürze zur Tür hinaus.

Frische Luft ist ein Anfang. An der Bushaltestelle nutze ich die Wartezeit zum Schminken. Bei den Augenringen heute dauert das eine Weile, aber auf den 186er ist Verlass, der kommt nie, wann er soll, da hat man immer genug Zeit zum Schminken. Immer wenn ich den Slogan der BVG lese: »Weil wir Dich lieben«, denke ich: Ach ja, vielleicht kann sie es einfach nicht so zeigen? Und dann versuche ich, meine Antennen auf empfänglich zu polen, damit ich diese scheue Liebe nicht verpasse.

Gestern vor der Feier bin ich extra noch in der Drogerie gewesen, neue Wimperntusche besorgen. Das Betrachten der Regale dort ist für mich inzwischen wie das Stöbern in einem Satiremagazin. Die neuesten Trends: Unisex-Nude-Make-up. Also Schminke, die einen aussehen lässt, als wäre man einfach blass und ungeschminkt. Toll.

Und dann noch unisex, kann also auch bedenkenlos von Männern genutzt werden. Huh. Wenn da mal nicht ein Hauch von Revolution in der Luft liegt! Wenn das nicht explizit draufstünde, würde vermutlich nie ein Mann wagen, den Puder mal auszuprobieren, weil er Angst hätte, sich sofort in eine Frau zu verwandeln. Das ist wie mit diesen Einmalrasierern. Frauen kaufen lieber die doppelt so teuren mit dem rosa Griff, weil die extra für Frauen sind. Und weil das Unterbewusstsein irgendwie die Vorstellung hat, dass in dem Moment, wo man die blauen benutzt, sofort Bartwuchs einsetzt. Versteh, wer will.

In der Ecke mit der Wimperntusche stand gestern zudem ein riesiges Schild mit dem Schriftzug: »Jetzt neu: mit Shake-Shake-Technologie!« Ich war neugierig. Und im Ernst, es handelt sich um Wimperntusche, bei der man die Flasche schütteln kann, wenn die Farbe ein wenig eingetrocknet ist. Sensationell! Am Ende erfinden sie noch eine Zahnpasta mit Quetsch-Quetsch-Technologie. Aber dafür ist die Zeit vielleicht noch nicht reif.

Als der Bus endlich kommt und sich wenig später mit Schmackes in die Kurve von der Birkbuschstraße zum Wolfensteindamm legt, meldet sich mein Magen. Es war doch ein bisschen viel Sekt gestern. Man könnte sagen, mir steckt noch der Mumm in den Knochen.

Als ich vor einigen Jahren im Krankenhaussozialdienst gearbeitet habe, gehörte auch die Beratung alkoholkranker Patienten zu meinen täglichen Aufgaben. Ich bin froh, dass das heute nicht mehr so ist – mit dem Gesicht, das ich gerade habe, würde mich jeder Klient auslachen. Wir würden uns in stummer Eintracht auf die Schultern klopfen und zusammen ein Konterbier zischen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich voller Freude an die Szene, als die Tochter einer alkoholkranken Patientin mich anrief, damals in meinem Büro im Klinikum Martin Luther. Sie meldete sich am Telefon mit dem großartigen Satz: »Guten Tag, mein Name ist Schmitz, und meine Mutter liegt seit gestern bei Ihnen im Luther und Wegner.«

Manchmal braucht es gar nicht viele Worte.

Etwas später am selben Morgen stehe ich mit einem sehr bitteren Kaffee auf dem S-Bahnhof Zoo. Kurz denke ich darüber nach, den Becher zurückzutragen und dem freundlichen Herrn am Tresen zu erklären, dass »Coffee to go« übersetzt nicht »Kaffee zum Weglaufen« bedeutet. Aber dann kommt die S3, und jeder, der öfter S-Bahn fährt, weiß, da sollte man nicht zögern, die kommt vielleicht so schnell nicht wieder, man kann es nie wissen. Irgendeine Weiche ist ja immer gestört. Oder ein Signal. Oder es ist wieder Wetter. Das Wort »Zugempfindlichkeit« jedenfalls kriegt da noch mal eine ganz andere Dimension.

Und wofür das alles?

Als ich eine Stunde später an meinem Spandauer Schreibtisch sitze, stelle ich fest, dass ich heute leider nicht besonders leistungsfähig bin. Mein Kater schnurrt, mein Kopf möchte auf irgendwas Weiches, meine Augen möchten das Schild »Geschlossen« an ihre Ringe hängen. Ständig verlese und verspreche ich mich. In einer Sitzung warne ich in meinem Beitrag vor einer zickenden Zeitbombe, das ist mir schon ein bisschen peinlich. Andererseits – wenn ich mal ein Buch über meine Schwiegermutter schreibe: Der Titel würde mir schon gefallen.

In einer Mail möchte ich nun eine Wegbeschreibung an eine Frau versenden, die morgen zum Bewerbungsgespräch kommt. Glücklicherweise lese ich noch mal Korrektur. Manchmal spielt es schon eine Rolle für die Bedeutung eines Satzes, an welcher Stelle man das Leerzeichen setzt. Ich wollte schreiben: »Wenn Sie durch den Haupteingang kommen und geradeaus laufen …« Was ich stattdessen geschrieben habe, war: »Wenn Sie durch den Haupteingang kommen und gerade auslaufen …« Ich glaube, ich sollte heute ein bisschen früher Schluss machen.

Auf dem Heimweg hole ich im Supermarkt noch etwas Zwieback. Ich passiere das Regal mit Wein und Sekt sehr schnell und fast ohne hinzugucken. Im Vorbeigehen lese ich auf einem Etikett »Borderline«, bei nochmaligem Hinsehen ist es dann aber doch »Bardolino«. Ich muss ins Bett.

Zu Hause angekommen, fix und fertig mit Tee und Wärmflasche endlich wieder unter der weichen Decke, denke ich, ich könnte doch zum Einschlafen noch was lesen. Eine Freundin hat mir ein Buch geschenkt mit dem Titel »Weil Du es wert bin«. Seitlich aufgedruckt entdecke ich erst jetzt den Stempel »Preisreduziertes Mängelexemplar«. Das nenn ich mal stimmig.

 

Ich glaube, ich mache jetzt einfach mal die Augen zu.

Ein Sommerabend oder: Die Krux mit dem Kontext

Schon als ich zur Tür reinkomme, spüre ich seinen Blick auf mir. Kein Zweifel, der junge Mann sieht wirklich attraktiv aus.

Ein warmer Sommerabend, ein Hauch von Gewitter liegt über der Stadt, ein Luftzug trägt den Duft von Lindenblüten und heißem Asphalt in den Raum. Ich suche mir einen Platz und lächele in mich hinein, denn mein Gefühl hat mich nicht getrogen: Kaum dass ich sitze, kommt er rüber, schenkt mir einen freundlichen Blick aus seinen großen dunklen Augen und fragt mich nach meiner Telefonnummer. Ich zögere nur kurz, dann greife ich zum Stift.

Das ist mir wirklich lange nicht passiert, denke ich und genieße den Augenblick.

Für einen kleinen Moment blende ich aus, dass dies eine Pizzeria ist und er der Kellner, der aufgrund der geltenden Hygieneschutzregeln meine Daten erfassen muss, und stelle mir vor, es wäre der Beginn einer interessanteren Geschichte.

O tempora, o mores. Die Dinge sind im Wandel, die Pandemie bringt manche Seltsamkeit mit sich, und das Leben im Spannungsfeld zwischen flügge werdenden Kindern und abbauenden Eltern birgt so einige Herausforderungen.

Gestern habe ich meinen Vater im Pflegeheim besucht, wir saßen im Garten, eine Bewohnerin von seiner Etage kam mit ihrem Rollator vorbeigeschoben und sagte kokett: »Na, Herr Riedel, da haben Sie ja heute richtig adretten Damenbesuch!«

»Ist nur meine Tochter«, erwiderte er und winkte ab. Ich bemühte mich, das »nur« zu überhören und mich stattdessen mit dem Wort »adrett« als eine Art Kompliment anzufreunden, da fügte die Frau staunend hinzu: »Ach, Ihre Tochter? Na, das hätte ich Ihnen ja gar nicht zugetraut! Dass Sie eine sooo alte Tochter haben!«

Wie reagiert man angemessen auf so einen Satz?

Ich versuchte schlicht, die Fassung zu bewahren, mein Vater freute sich und fühlte sich geschmeichelt.

Weniger subtil ist da meine Schwiegermutter. »Lass dich mal ansehen!«, sagte sie beim letzten Besuch. »Hast du Zahnschmerzen? Oder hast du einfach nur so’n dickes Gesicht bekommen?«

Wenn ich auf meinem Handy ein Wort tippe, das mit »sch« beginnt, schlägt es mir ganz von alleine die Wörter »schwierig« und »Schwiegermutter« vor.

Mein Handy kennt mein Leben.

Manchmal sind es ja nur Kleinigkeiten.

Keiner duzt einen mehr zum Beispiel. Wenn mich mal jemand auf der Straße nach Feuer fragt, dann nur noch mit einem höflichen »Sie« davor.

Klar, dass mich die jungen Hüpfer siezen, gibt ja bestimmt auch Leute, die da Wert drauf legen. Vielleicht bin ich da etwas sonderbar. Als ich das neulich einer Freundin zu erklären versuchte, hörte sie mir sehr aufmerksam zu, schaute nachdenklich – und schlug mir dann fröhlich vor, ich könne ja einfach mal wieder zu IKEA gehen, wenn mir das Duzen fehle.

Manchmal ist geteiltes Leid nicht halbes Leid.

Manchmal macht geteiltes Leid auch sehr einsam.

Aber okay, vielleicht bin ich ja auch das Problem und einfach nicht aufgeschlossen genug für neue Lösungsansätze?

Geh ich halt zum Duzen zu IKEA.

Imaginiere ich halt den Flirt mit dem Kellner.

Und wenn ich will, dass mal wieder jemand »Ausziehen!« ruft, gehe ich an der Ostsee an den FKK-Strand. Mit Textil. Habt ihr das mal probiert? Das ist nichts für zarte Gemüter, da kann man sich ganz schön was anhören. Die nackte Wut, sozusagen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Da fällt mir ein Dialog ein, den ich neulich beim Stöbern in einer kleinen Boutique mit anhörte. Die Umkleidekabine war besetzt, der Vorhang zugezogen, plötzlich hörte ich eine Männerstimme flüstern: »O Gott, zieh das sofort aus …«

Waren da wirklich zwei Leute in der Kabine? Jetzt war ich ja doch neugierig. Ein Buch fiel mir ein, das ich irgendwann mal in der Hand hatte, also für einen Freund, es hieß »How to Have Sex in Public Without Being Noticed«. Doch meine Fantasien wurden jäh ausgebremst, als die Männerstimme nun etwas lauter und flehender sagte: »O Gott, bitte, zieh das bitte aus! Da drin siehst du aus wie deine Mutter.«

Dieser verflixte Kontext kann einem manchmal ganz schön den Spaß versauen.