Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume

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Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume
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1. Auflage April 2014

©2014 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:

OCM GmbH, Dortmund

Verlag:

OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

Printed in Germany

ISBN 978-3-942672-25-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Susanne Limbach

Tausend Träume

&

Tödliche Flaschenpost

© 2014


Die handelnden Personen und ihre Schicksale sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen sind nicht beabsichtigt.

1. Auflage Mai 2014

©2014 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:

OCM GmbH, Dortmund

Verlag:

OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-gmbh.de

Printed in Germany

ISBN 978-3-942672-20-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorwort Tausend Träume

Gefühl

Glück auf

Sternenbild

Loslassen

Stimmen im Wind

Das Mädchen auf der Treppe

Das geheime Leben der Worte

Erinnerungen zu Besuch

Tausend Träume

Winternostalgie

Die Schatzsucherin

Cosimo

Die geheime Linde

Vorwort Tödliche Flaschenpost

Die Fremde in mir

Die Todesbotschaft

Morgentau

Tödliche Flaschenpost

Der Duft der Kaffeebohne

Heimatlos

Die Geliebte des Blanken Hans

Frauenabend

Tausend Träume

Das sind leise, zarte Geschichten mitten aus dem Leben. Sie erzählen von Liebe, Familie, Neuanfängen und dem Vergessen.

Gefühl

Ich schlage ein Bein über das andere, streiche dabei den hellgrauen Baumwollstoff über dem Schoß glatt und warte. Die Aura einer gut gespielten Eleganz umgibt mich und vorsichtig nippe ich an einem Coffee to go. Es könnte auch der Eindruck entstehen, der Pappbecher wäre ein Glas Champagner.

Heute Morgen habe ich es mir angezogen, habe mich richtig aufgedonnert, mit dem guten Gefühl. Habe eine ganze Zeit vor dem Spiegel verbracht, mich gedreht und gewendet, bis ich zu dem Entschluss gekommen bin, dass es passt.

Es passt sogar richtig gut. Nichts rutscht oder kneift, es sitzt, als wäre es echt, als gehörte es immer zu mir.

Das gute Gefühl.

Charlotte, meine fast achtjährige Tochter, hat sich zum Mittagessen einen Möhreneintopf mit viiiel Butter gewünscht.

Ich habe noch genau dreieinhalb Stunden Zeit, dem Spiel seinen Lauf zu lassen, bevor sie aus der Schule kommt und ich das Essen fertig haben muss.

Dem Alltag will ich heute ein kleines Schnippchen schlagen.

Ich schüttle einen imaginären Lederbecher und lasse im Geiste die Würfel fallen, heute will ich einmal gewinnen, will eine taffe Frau sein. Eine, die sich nicht ständig fragt, warum gerade bei ihr die kostbaren Zeiten so schnell zu Ende gewesen waren. Die die unendlichen Konsequenzen nicht begreifen muss, und immer wieder versucht, ihnen an den Kragen zu gehen.

Die Atmosphäre des Flughafens hat mich sofort im Griff, sie drückt mich fest auf einen der Stühle in der Wartehalle. Hinter der großen Scheibe in meinem Rücken rangieren die Flugzeuge, heben ab und kommen wieder auf den Boden zurück. Die dröhnenden Motoren zaubern das Flair der Freiheit in die Luft. Ich möchte ein wenig abheben, denn auf den Boden der Tatsachen komme ich eh wieder zurück.

Die perfekte Location für das Spiel.

Ich blicke mich um und beobachte die wartenden Passagiere, die meine Mitspieler werden könnten. Sie sind noch nicht ganz in der Luft, aber bestimmt nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden.

Mit meinem hellgrauen Kostüm habe ich vorhin das Vakuum des Alltags schon mal durchstoßen, ein paar Blicke, die mir der ein oder andere heimlich zugeworfen hat, konnte ich mir bereits im Geiste notieren. Normalerweise trage ich Jeans und

T-Shirt mit buntem Druck, damit falle ich nicht besonders auf. Ich hole mir einen zweiten Kaffee und bleibe kurz am Last-Minute-Schalter stehen, studiere die Angebote.

Ein Wochenende für zwei in Paris, das wäre doch mal was. Romantik gibt’s sogar gratis.

Das, was ich suche, ist aber nicht dabei.

Ich drehe meine schlanke Silhouette in den Spiegel. Eine fleischfarbene Miederhose, die ich unterm Rock trage, kaschiert meinen untrainierten, etwas schwabbeligen Bauch.

Habe ich schon einmal im Mondschein getanzt?

Ich halte meine Handtasche, in der ich ein Handy, ein Filofax aus Leder, ein Schminktäschchen, einen MP3-Stick und stilles Evian habe, elegant fest.

Dann schwebe ich, wie auf Wolken, zurück zu einem freien Stuhl, lasse mich dort nieder und blicke in meinen Spiegel, um das Make-up zu überprüfen.

„Entschuldigung“, ruft plötzlich jemand neben mir.

Herablassend schaue ich auf einen braun gelockten Hinterkopf, der genau neben meinem linken Schuh liegt.

„Ach Jooonas, pass doch auf.“

Eine junge Frau versucht gerade, den kleinen Jungen wieder vom Boden hochzuziehen, er war wohl über meine Schuhspitze gestolpert.

Ich lächle affektiert, klappe den Spiegel zu, das Gefühl sitzt an der richtigen Stelle, und eröffne das Spiel.

„Das macht doch nichts, meinem Schuh ist ja nichts passiert“, füge ich süffisant hinzu.

Jonas hat sich längst aufgerappelt, nicht einen Klecks seines Cornetto Erdbeer dabei verloren, fasziniert starrt er durch die große Scheibe, den Flugzeugen hinterher.

Die missbilligenden Blicke einiger Passagiere treffen die beiden wie lange, spitze Speere.

Die Würfel sind in meine Richtung gefallen.

„Die meisten Menschen haben kein Verständnis für ihn“, sagt sie, blickt sich peinlich berührt um und lächelt mich an.

„Ich bin froh, einmal Kinder in meiner Nähe zu haben, sonst habe ich es nur mit Erwachsenen zu tun, das ist auch ziemlich anstrengend, glauben Sie mir.“

Ich hole, wie selbstverständlich, meinen Filofax aus der Handtasche, kritzle Termine hinein, wichtig und unaufschiebbar.

„Das stimmt. Darf ich fragen, ob Sie geschäftlich oder privat auf Reisen sind?“

Mir ist ihr bewundernder Blick nicht eine Sekunde lang entgangen, das Gefühl breitet sich bis in den großen Zeh aus. Bingo.

„Aber natürlich.“ Heimlich schiele ich auf die Anzeigentafel des nächsten Fluges.

Dortmund-London, elf Uhr dreißig.

„Ich treffe heute Abend meine Angestellte in London. Wir richten Häuser und Wohnungen in ganz Europa ein.“

Die junge Frau schaut schnell zu ihrem Sohn, dann setzt sie sich mir gegenüber. Neugier steht nun quer in ihrem Gesicht.

„Ich möchte schon mein ganzes Leben einmal nach England, die Landschaft muss einfach herrlich sein, nur einmal aus dem Alltag ausbrechen, hmm, ich beneide Sie.“

 

Eingebildet lächle ich, die Sechsen gehören mir.

„Ich komme sehr viel in der Welt herum, für mich ist das nichts Besonderes mehr. Aber für eine Familie bleibt da keine Zeit. Ich bin sowieso kein Familienmensch, ich könnte so ein langweiliges Leben nie führen. Ich muss mir stets den Wind um die Nase wehen lassen, daran habe ich schon als junges Mädchen gearbeitet, ich wusste schon immer, was ich aus meinem Leben machen wollte“, sage ich bestimmt und blicke ihr überlegen in die Augen, schlage selbstbewusst das andere Bein über, nippe an meinem Kaffee.

„Bevor Jonas geboren wurde, habe ich Schuhe verkauft. Mein Mann drängt mich förmlich dazu, wieder arbeiten zu gehen, Jonas in eine Kita zu bringen, aber ich möchte noch warten, bis er in den Kindergarten kommt.“

Sie blickt zu ihm hinüber, streift automatisch meine neuen Pumps, die sie sicher als den neuesten Trend erkennen wird. Dass diese mich wie verrückt an den großen Zehen drücken, sieht man ja nicht.

„Jonas hält mich ganz schön auf Trab, ich habe im Moment wirklich nur seine ganzen Termine im Kopf. Mein Mann hat gut reden, er ist SAP-Berater und fliegt ständig in der Welt herum. Ich habe das Kind, er die Karriere. Wir überraschen ihn heute, er müsste in der nächsten halben Stunde aus Berlin landen.“

Sie lächelt leise, der schöne Anblick trifft mich wie eine Keule mitten ins Gesicht, sie versucht ihren zerzausten Zopf zu richten, der Anblick wird katastrophal wunderbar, sie zupft an ihrem T-Shirt, ihr Gesicht schimmert perlmuttfarben, war das vorhin auch schon so?

Ich erstarre, weil ich das Glück erkenne, ich weiß sofort wieder, wie es aussieht. In echt aussieht.

Ich versuche es nicht so sehr anzustarren, mein gutes Gefühl lässt mich langsam im Stich, es wird unangenehm, drückt mir die Luft ab. Ich will noch schnell einen Joker würfeln und auch mal eine böse Miene zum guten Spiel machen.

„Tja, als Hausfrau und Mutter steht man eben am Rande der Gesellschaft. Pädagogisch wichtiges Spielzeug, das vitaminreichste Mittagessen, der beste Kindergarten und Secondhandshop. Dabei könnten Sie mir sicher Tipps geben.“

Ich sehe, wie ihr das Lächeln im Gesicht langsam einfriert und eine leichte Röte das Perlmutt verdrängt.

Der Joker grinst, die Würfel reihen sich wie ebenmäßige Zähne perfekt aneinander, bilden eine glänzende Gewinnerstraße. Wie eine Spritze, voll mit flüssigem Honig, kommt das Gefühl zurück, sie kann eben nicht mit mir mithalten.

„Jonas, Papa ist gerade gelandet, komm. Einen guten Flug wünsche ich Ihnen“, sagt sie trotzdem freundlich und zieht ihren, jetzt brüllenden Sohn, einfach hinter sich her.

Das Glück verschwindet, verzweifelt versuche ich mich an dem guten Gefühl von vorhin festzuhalten – vergeblich.

Heimliche Blicke streifen mich wieder, ich nippe an dem Rest Kaffee und fühle mich, als ob ich eine wichtige Rede halten müsste und vergessen hätte, mich zu schminken. Die Nähte der Verkleidung lösen sich unaufhaltsam auf, zerschleißen, fallen in kleinen Stücken an mir herab, ich friere, der Kaffee ist auch kalt geworden.

Das Spiel ist vorbei, ich habe keine Lust auf ein neues, dem Glück einer anderen möchte ich heute nicht noch einmal begegnen. Ich wende mich Richtung Ausgang, die Blicke perlen jetzt wie kühle Regentropfen von meiner Rüstung ab, denn mehr ist es ja nicht, nur eine Rüstung, um mich darunter zu verbergen.

Die Zeit wird knapp, trotzdem werde ich noch einen kleinen Umweg machen, bevor ich nach Hause fahre.

Die dunkelgrüne Vase steht, wie immer, an der gleichen Stelle.

Ich nehme die noch nicht verblühten Rosen heraus und bestücke sie mit vierzehn neuen.

Es sind immer die gleichen.

Vierzehn Rosen, für vierzehn Jahre Glück.

Eine lange Zeit starre ich auf das quadratische Fleckchen Erde, zupfe hier ein Büschel Unkraut heraus, streiche dort über den herzförmigen Stein.

„Charlotte lädt zehn Mädchen zu ihrem Geburtstag ein, obwohl ich nur mit acht einverstanden gewesen bin. Sie sagt, dass sie niemanden übergehen wolle, dass sie eben so viele Freundinnen habe. Kannst du dir das vorstellen, zehn Freundinnen ... unsere Kleine hat sich wirklich gemacht, sie verkriecht sich nicht mehr. Sie braucht keine Verkleidung, um einmal in ein anderes Gefühl zu schlüpfen, sie schafft das auch so, war immer die Stärkere von uns. Sieh doch mal, wie bescheuert ich aussehe.“

Eine Träne kitzelt meinen Mundwinkel, während ich mich einmal um die eigene Achse drehe.

„Dieses Mal war ich eine Innenarchitektin, die sich gerade auf den Weg nach England macht. Schatz, ich habe noch mal nachgesehen, ob es einen Last-minute-Flug zurück in unser gemeinsames Leben gibt ... wieder keiner dabei“, sage ich leise.

Ich küsse in Richtung des Grabsteines und gehe in mein altes Leben zurück.

Unterwegs ziehe ich die Pumps aus und laufe barfuß weiter.

Scheißspiel.

Glück auf

Am Ende des Tages wusste sie nicht einmal mehr, wie sie hierher gekommen war. Dunkle Schatten, Kälte, ein modriger Geruch umgaben sie. Auch wenn sie ihre abgetragene, längst um ein paar Nummern zu kleine Jacke bis zum Hals zuzog, wollte die Kälte mit eisigen Fingern nach ihr greifen.

Eine einsame Träne fiel auf ihre zerschlissene Jeans.

Paula wischte sich die nächste Träne energisch aus dem Auge, zog die Nase hoch und steckte den Kopf wieder zwischen ihre zitternden Knie. Wenn sich doch dieses blöde Leben auch einfach so wegwischen ließe!

Seit einer Stunde saß sie schon hier und fragte sich, wie sie aus alldem wieder herauskommen sollte.

Plötzlich hörte sie dieses schlurfende Geräusch in dem langen, schwarzen und unheimlichen Tunnel. Bestimmt eine fette Ratte, die hungrig durch die Gänge des stillgelegten Stollens kriecht, dachte sie. Vor diesen kleinen Tieren hatte sie keine Angst.

Warum suchst du dir keinen Job, verdammt noch mal? Du kannst dich nicht ewig besaufen und nur noch vor dem Fernseher hocken. Ich schufte mir hier die Hacken ab und nichts bleibt übrig. Mein Vater hat in der Zeche Minister Stein malocht, der hat sich nicht unterkriegen lassen, als sie dichtgemacht haben. Wir hatten auch nie viel, aber wir haben zusammengehalten. Wann habe ich mir zum letzten Mal ein paar Schuhe gekauft? Scheiße, warum willst du kein Malocher sein, warum nicht mal unter deiner Würde arbeiten, tu endlich was. Aber tu es, oder sollen wir ewig so weiter leben? Eine Führungsposition in der Chefetage muss es doch nicht sein, nicht für mich und schon gar nicht für Paula.

Immer wieder hörte Paula die Wörter, die ihre Mutter gesagt hatte. Sah den gequälten Ausdruck in den haselnussbraunen Augen ihres Vaters, die früher listig und unberechenbar gefunkelt hatten. Die eine Überlegenheit und Standhaftigkeit ausgestrahlt hatten, denen niemand etwas anhaben konnte. Bis zu dem Fehler, den er bei einem seiner Geschäfte gemacht und sich damit übernommen hatte.

Weswegen er ohne einen gewissen Alkoholpegel nicht mehr auskommen konnte.

Daraufhin hatte er angefangen mit anderen Dingen zu spielen. Im Casino Hohensyburg hatte er sein allerletztes Geld verspielt.

Davor hatte Paula Angst, vor der Hoffnungslosigkeit in den Augen ihrer Mutter und dem unausweichlichen und tödlichen Aufschlag ihres Vaters.

Wieder das gleiche Geräusch, Paula sprang auf und starrte in das schwarze Loch. Am liebsten wäre sie hinausgelaufen, aber wo sollte sie hingehen? Kein Mädchen in ihrer Klasse wollte etwas mit ihr zu tun haben. Paula besaß keine Markenjacken, kein Handy und erst recht keinen iPod. Sie konnte mit den anderen Kindern nicht mithalten. Wohnte seit einem Jahr in einem schäbigen Hochhaus in der Nordstadt, einem Hochhaus, das Paula wie ein stinkendes Ungeheuer vorkam. Überall roch es nach Essensresten, Zigaretten, leeren Bierflaschen, altem Urin und Trostlosigkeit. Wenn sie nichts unternehmen würde, würde das Ungeheuer sie langsam, aber sicher auffressen.

Da wohnen nur die Opfer, du Opfer, hatte Lea eines Tages zu ihr gesagt. Ein gemeines Mädchen aus ihrer Klasse, die im privilegierten Kreuzviertel wohnte. Sie war wirklich zu einem Opfer geworden, zu einem Hartz-IV-Opfer, wie ihre Mutter einmal geschluchzt hatte.

Paula erinnerte sich noch an die glückliche Zeit, als ihr Vater immer in Anzug und Krawatte aus dem Haus gegangen war. Das war ein ganz anderes Leben gewesen.

Sie hatten in einem Einfamilienhaus in Brackel gewohnt. Einem lustigen Haus, denn ihre Eltern hatten viel gelacht.

Paula beschlich eine schreckliche Angst, denn sie konnte ihre beste Freundin Lotti nicht mehr besuchen, konnte mit ihrer Lieblingslehrerin nicht mehr sprechen. Sie besaßen auch kein Auto mehr. Ihr Leben war Paula fremd geworden. Selbst in diesem Zwielicht hier unten war es heller als in ihrem Kinderzimmer.

„Hallo, ist da jemand?“, rief Paula zögernd in den schwarzen Schlund, sie schlich ein paar Schritte vorwärts und starrte einen festen Punkt am Ende des Ganges an. Plötzlich huschte ein Lichtkegel an der hinteren Wand vorbei, sie schrie auf und wollte schon panisch ins Freie stürzen, als auf einmal ein schwarzes Gesicht mit leuchtenden Augen aus dem Tunnel auftauchte. Die Gestalt trug einen Schutzhelm auf dem Kopf und war von oben bis unten voll schwarzem Dreck. Eine Lampe, die auf seinem Kopf saß, blendete sie. Um den Hals trug er ein Tuch von undefinierbarer Farbe.

„Glück auf, Mädchen“, sagte die Gestalt und ihre weißen Zähne blitzten aus dem schmutzigen Gesicht hervor.

Wollte dieser komische Typ sie etwa auch noch verspotten, so wie Lea es jeden Tag machte?

„Wo ist das Glück?“, fragte sie trotzig und ging vorsichtshalber einen Schritt rückwärts. Der Mann musste ein Bergarbeiter sein, das hatte sie mal in einem Bildband gesehen. Komisch, dachte sie, diese Zeche wurde doch schon lange dichtgemacht. Ihr Opa hatte auch als Bergarbeiter gearbeitet.

„Watt machse denn nu hier, gibz keine Spielplätze mehr im Pott, odda warum bisse hier im Dunkeln am rumsitzen?“

Paula starrte ihn mit offenem Mund an und überlegte immer noch, ob sie lieber das Weite suchen sollte.

„Mach die Klappe zu, deine Milchzähne werden sauer“, sagte er und begann die Felswand abzuklopfen. Den Spruch hatte sie schon einmal gehört, der war auf jeden Fall uralt. Paula hockte sich wieder in ihre Ecke und griff heimlich in ihre Jackentasche, die bereits ein Loch hatte. Sie krallte sich an dem dünnen Heft fest, so als ob er durch den fadenscheinigen Stoff blicken könnte. Aber der schwarze Mann war so sehr mit seinem Abklopfen beschäftigt, dass er es gar nicht bemerkte.

„Willze ein Büttaken mit Leebawuast oder lieber ne Käsekniffte?“, fragte er über die Schulter hinweg. Erst jetzt fiel ihr auf, wie hungrig sie eigentlich war. Ein Leberwurstbrot hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen, es gab zu Hause oft Schmalzbrote. Ab und zu war auch mal die abgepackte Mortadella aus dem Angebot dabei. Paula schüttelte es bei dem Gedanken an ihr morgiges Frühstück. Ihre Mutter schlief immer lange, weil sie neben ihrer Putzstelle beim Stadtplanungsamt auch noch bei Saturn putzen ging. Paula machte sich allein ihr Frühstück, aber meistens ging sie nüchtern aus dem Haus. Wollte sie noch nach Hause gehen? Vielleicht könnte sie mit zu ihm? Wenn es dort Leberwurstbrote gab, dann war er bestimmt ein glücklicher Mensch. Sie wünschte sich auf einmal, dass er ihr Großvater wäre, der urplötzlich aufgetaucht war, um ihr zu helfen. Der vermeintliche Großvater klopfte noch ein paar Mal die Wand ab und drehte sich wieder zu ihr. Schlich sich an ihre Seite, rutschte an der Wand hinab und schaute sie an.

„Du hass doch nich etwa getz Angst, odda? Ich bin der Kallheinz, abba meine Kumpels sagen Kalle zu mir“, damit streckte er ihr seine tiefschwarze Hand entgegen und Paula ergriff sie mit einem Urvertrauen, das sie gar nicht an sich kannte. Normalerweise war sie Fremden gegenüber immer distanziert und vorsichtig.

Aber dieser Kalle hatte etwas so Vertrauliches an sich. „Hasse was mitgehen lassen, odda warum versteckse dich auf Minister Stein, in meinem Schacht?“

Paula erschrak, deshalb kam er ihr so vertraut vor, er sprach genauso wie ihr Opa.

Der, wie ihre Mutter immer lächelnd gesagt hatte, vom alten Schlag gewesen war. Der einen kleinen Schrebergarten in Eving und ein verstimmtes Klavier besessen hatte.

Sie zog ihr Notenheft aus der Tasche.

„Es ist nur die günstige Version, die für Fortgeschrittene. Ich habe mal gespielt“, sehnsüchtig dachte Paula an ihren wunderbaren Klavierunterricht.

 

„Wenn ich nur spielen könnte!“, fast hätte sie wieder geweint. Aber das war ihr vor Kalle zu peinlich. Sie klammerte sich an dem Heft fest wie an einem Rettungsanker. Schlug es dann ehrfürchtig auf und fuhr mit schmuddeligen Fingerkuppen und abgenagten Fingernägeln darüber.

Augenblicklich formten sich die Noten zu einem Klang und vollendeten in einer schönen Melodie. Paula lächelte und begann zu erzählen, sie konnte die Worte einfach nicht mehr aufhalten. Sie schlüpften ihr von der Zunge über die Lippen und tanzten wie eine Sonette in der modrigen Luft. Sie erzählte von früher, von ihrem Zuhause, von den Freundinnen und den pingeligen, aber gutmütigen Nachbarn. Von Erdbeereis im Hörnchen, Urlaub an der Ostsee, Omas Biersuppe und Brausebonbons mit Himbeergeschmack.

Die leeren Bierflaschen im Schlafzimmer, den ewig laufenden Fernseher, den Geruch nach abgestandenem Zigarettenqualm und die abgelaufenen Joghurts im Kühlschrank ihres jetzigen Lebens, erwähnte sie nicht.

Und auch Kalle fing zu erzählen an.

„Ich war schon imma aufm Pütt, hab ständig schwarzen Ruß unterm Auge. Ich wohne in Bochum, inne Zechensiedlung, wo alle Häuser grau und gleich aussehen. Es brodelt ständig hier im Revier, mal im Hochofen, mal im Erbsensuppenpott, odda auch ma inne Kneipe. Wenn der Himmel glutrot iss, sagen wir widda, Christkind backt Plätzcken.“

Paula versank in seinen Geschichten, die sie wesentlich spannender als die acht Bände von Harry Potter fand. Die hatte sie sich in der Schulbibliothek einmal ausgeliehen.

Er erzählte mit seinem Ruhrpottdialekt. Von der Früh- und Nachtschicht, von seinen Kumpels, mit denen er die Hälfte seines Lebens verbrachte. Den aufgehängten Broten in ihren fest zugeschnürten Stoffbeuteln, damit sich keine Ratten darüber hermachen konnten. Dem sturen Steiger, der immer nur herummotzte und den sie alle heimlich Karlarsch nannten. Von der Waschkaue, in denen sie laut die aktuellen Hitparadenlieder sangen, von dem Bienenstich, den nur Willis Frau so vorzüglich backen konnte und dem Stielmus, deren vordersten Platz nun unangefochten die Frau von Jupp hielt. Von der monatlichen Lohntüte, die so manch einer schon nach acht Tagen wieder leer gemacht hatte und sich hier und da mal einen Heiermann leihen musste.

Was war denn ein Heiermann?, dachte Paula. Kalle erzählte auch von der Hitze unter Tage und dem Dreck, der wie eine zweite Haut zu ihm gehörte und seinem Alltag den nötigen Bestand und Halt lieferte. Der ihm den nötigen Respekt für seine Zeit unter Tage zollte, ihn wachsam sein ließ und ihn zu einem Teil des Ganzen machte.

Nach einer weiteren Stunde musste Paula sich wirklich auf den verhassten Heimweg machen, mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder herzukommen.

Was sie auch tat.

So wurden sie zu einem Team. Sie hatte endlich jemanden, mit dem sie reden konnte, der ihre Ängste verstand und ihr Mut für die Zukunft machte.

Der ihr befahl, niemals aufzugeben und die Kumpels nie im Stich zu lassen. Manchmal fragte sie sich, von welchen Kumpels er denn redete. Sie sah jedenfalls nie einen, der ihm nur im Entferntesten ähnlich sah. Sie wollte ihn auch nicht fragen, in welcher Sohle seine Kumpels gerade waren. Das war ihr egal, sie schöpfte wieder neuen Lebensmut und besuchte bald eine Klavier-AG in der Schule, die vom Förderverein unterstützt wurde. Auch wenn Lea spottete, lachte Paula nun umso lauter und ließ sie verwirrt hinter sich stehen. Sie bekam neues Selbstvertrauen. Wenn ihre Mutter wieder zu jammern anfing, dass sie eine neue Hose brauche, sagte Paula nur: „Du hast doch mich“, legte die Arme um ihren Hals und küsste sie auf die Wange.

Ab und zu blitzte wieder die alte, die couragierte Mutter hinter ihren traurigen Augen hervor und applaudierte Paula.

Und plötzlich wusste sie, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Familie wieder Halt finden würde, auch wenn der Abgrund immer noch mit schlüpfrigen Stellen lockte.

Ihre Mutter und sie würden sich festhalten können.

Jeden, den sie auf der Straße traf, begrüßte sie mit „Glück auf!“

Die Leute, die zu Anfang nur kopfschüttelnd an ihr vorübergingen, lächelten und grüßten sie bald zurück.

Einer muss immer den Anfang machen, dachte Paula.

Deshalb rief sie schon von Weitem laut „Glück auf“ in den verlassenen Schacht und wartete auf Kalle, auf ihren Freund, ihren Kumpel.

„Keine Kohle, nee datt gaabes bei uns nich, höchstens zu wenig Mettwurst im Eintopf. Man muss mit dem auskommen, watt man hatt und nich, watt man haben will. Watt man sich nich erlauben kann. Kär, watt haben wir imma malocht inne Schicht.“

Kalle hatte dieses Mal einen besonders prall gefüllten Stoffbeutel bei sich und breitete seine Schätze direkt vor Paulas Füßen aus. Sie aßen Fleischwurstbrote mit Gürkchen, Mettbrötchen mit Zwiebeln und Käsestullen mit Butter.

Zwischen lautem Geschmatze und leisen Rülpsern erzählte Kalle wieder von einer Schicht, die ihm fast seinen besten Kumpel gekostet hätte.

„Datt war eigentlich ein ganz normaler Tach, einer, an dene widda an Gott glaubs. Ein Tach, der ne schnelle Schicht und ein frisch Gezapftes am Abend versprach. Es ging widda im Heidentempo inne achte Sohle, ich hatte gleich sonn flaues Gefühl inne Magengegend, als ich meinen Riecher so inne Luft gehalten hab. Datt riecht nach Ärger, hab ich so bei mir gedacht und schon gabs einen Rumms sach ich dir, da wären dir vor lauter Angst die Zwiebeln aussm Mett gesprungen. Ich renn in den Schacht und brülle los, Karlarsch brüllt hinter mir her, abba ich renn weiter, huste, spucke, weil ich nur noch den verdammten Staub einatme. Renn weiter, nur noch nach Gefühl. Eine Decke iss eingestürzt, wie Streichhölzer sind die Holzbalken eingeknickt. Verdammich, denke ich bei mir und brülle nur noch Jupp, wo bisse, sach watt, gib mir Zeichen! Karlarsch war der Erste am Aufzug, der Erste, der mit ein paar Kumpels widda hochgefahren iss. Da iss keiner mehr, höre ich die anderen. Ich abba weiter, Jupp musste hier irgendwo sein. Ich kriech getz, meine Knie spüre ich schon nich mehr, so wund sind die. Noch immer knackt und kracht es über mir und ehrlich gesacht, hätt ich mir beinah inne Hose geschissen, abba ich robbe weiter, huste, spucke, blinzle den Staub ausse Augen. Da seh ich watt und höre ein Stöhnen, Jupp. Der liecht unter einem Haufen Schutt und kann sich nicht selbst befreien.

Ich brülle ihn an und schaufle mit bloßen Händen den Berch Schutt weg. Dann ziehe ich meinen Kumpel ausse Gefahrenzone und wir stolpern zurück, hinter uns rummst es wieder ohrenbetäubend.“

Paula kaute mit offenem Mund und angezogenen Knien, Kalle schilderte weiter in spannenden Tönen die Flucht aus der achten Sohle und die Rettung seines Freundes Jupp.

„Der wär glatt krepiert, wenn ich, wie Karlarsch, die Fliege gemacht hätte“, sagte er stolz und Paula bewunderte ihn noch mehr dafür.

„Ich habe auch etwas zu berichten“, sagte Paula mit leuchtenden Augen.

„Mein Vater hat eine Stelle im Museum der Zeche Zollern bekommen, er hat sich wieder im Griff, will seine Chance nutzen und aus dem Kreis ausbrechen. Er hat mich in den letzten Monaten beobachtet und erkannt, wie schwach er gegen seine kleine Tochter geworden war. Und hat meine gute Laune als Ansporn für sich genommen. Meine Mutter durfte ihm sogar die Haare schneiden. Sie haben das alte Klavier meines Opas stimmen lassen und mir geschenkt. Mein Vater sagte, dass unsere Eltern alle aus dem Pütt stammten und wir jetzt die Metropole Ruhr sind. Wir sind moderner geworden und können stolz auf unsere Region sein, auch in unserem Leben können und müssen wir ständig sanieren.“

„Glück auf“, antwortete Kalle lächelnd und wurde plötzlich still.

Abrupt, unheimlich und fremd.

Paula gefror das Lächeln im Gesicht, aber sie konnte nicht mal genau sagen, warum.

„Ab morgen bin ich nich mehr hier, muss widda ganz tief runter“, flüsterte er leise und blickte zu Boden: „Du komms auch getz ohne mich klar, da bin ich sicha. Du hass deine Familie gerettet, hast sie auch ausse achte Sohle widda hochgeholt. Familie ist das Wichtigste im Leben, du bissn echta Kumpel.“

Paula starrte ihm hinterher, als er in den dunklen Schacht ging, unfähig, ihn aufzuhalten. Immer kleiner wurde seine Gestalt und die Grubenlampe verblasste, bis nur noch ein blassgelber Schimmer an den Wänden tanzte und schließlich einen dunklen Schacht hinterließ.

Sie ging langsam zurück und trat in die helle Julisonne. Atmete tief ein und hätte fast eine Gruppe Rentner übersehen, die direkt auf den Eingang zuhielt.

Noch nie war sie hier einer Menschenseele begegnet.

„Glück auf“, grüßte sie und sah erst jetzt, dass alle Kerzen in den Händen hielten und sich vor dem Eingang platzierten. Sie blieb stehen und beobachtete die Gruppe, trat näher an sie heran. Sie steckten die roten Grablichter nacheinander an.

Paula stellte sich neben eine der Frauen und flüsterte, um die feierliche Zeremonie nicht zu stören.

„Was ist denn hier los, ist jemand gestorben?“

Aber niemand schien ihre Anwesenheit wahrzunehmen, so sehr war die Rentnergruppe in ihre Zeremonie versunken. Ein kleiner, untersetzter Mann fing laut zu reden an.

„Auf einmal hieß es Schicht am Schacht, keine Arbeit mehr im Stollen, die Zeche wird morgen dichtgemacht. Wir fragten uns, was wir nun tun sollen.

Wir haben unseren Weg mit deiner Hilfe gemacht und wünschen dir, wie jedes Jahr, Glück auf, Kalle, und gute Nacht.“

Plötzlich fing Paula laut an zu schreien, die Rentnergruppe drehte sich erschrocken zu ihr um.