Selbstmitgefühl für Eltern

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Reflexion: Wann hast du eine Rettungsinsel gebraucht?

Elternschaft ist ein schwieriges Geschäft und wir alle hegen negative Gefühle gegenüber unseren Kindern; wir alle hatten schon Zeiten, in denen wir uns überfordert und unzulänglich gefühlt, die Beherrschung verloren und uns nicht wie Mutter Theresa verhalten haben. Damit bist du nicht allein. Wie oft bist du bei all den kleinen Katastrophen explodiert?

 Hast du jemals die Beherrschung verloren, wenn sich dein Kind auf deine Kleidung übergeben hat?

 Hast du je einen Wutanfall bekommen, wenn deine Kinder Traubensaft auf einem schönen neuen Kleid verschüttet haben, als du dich auf den Weg zu einer Hochzeitsfeier machen wolltest?

 Bist du jemals ausgeflippt, wenn dein Kind einen Trotzanfall hatte und im Restaurant mit Essen um sich warf, oder im Haus der Oma oder im Wohnzimmer deiner Freundin (wo immer alles picobello ist) und alle sich nach dir umdrehten und dich anstarrten?

 Bist du jemals ausgerastet, wenn dein Kind sich nicht anziehen wollte?

 Bist du je wütend geworden, wenn dein Kind ein Geschwisterkind gekratzt oder gebissen hat? Oder das Kind einer Freundin?

 Hast du jemals gedacht, du würdest verrückt, weil dein von Koliken geplagtes Kind drei Monate lang gefühlt Tag und Nacht geschrien hat?

 Hattest du je das Gefühl, in der Falle zu sitzen, wenn die Kinder an Weihnachten Windpocken bekamen und du deine Pläne für die Feiertage aufgeben musstest aber dringend eine Pause brauchtest?

 Hast du dich jemals geschämt, wenn dein Kind nach einem unentschiedenen Fußballspiel andere Kinder geschlagen hat? Oder Beim Basketball den entscheidenden Wurf vermasselt hat?

 Hattest du je das Gefühl, das falsche Kind zu haben oder im falschen Leben zu stecken?

 Hast du jemals daran gedacht, die Kinder zur Adoption freizugeben und auf eine idyllische griechische Insel zu flüchten?

Füge jene Momente hinzu, in denen DU wirklich eine Rettungsinsel gebraucht hast.

Ja, natürlich regen wir uns auf. Und wir alle verlieren die Beherrschung! Beim Selbstmitgefühl geht es darum, sich selbst eine Pause und einen Neustart zu gönnen. Denk daran: Elternschaft ist ein »unmöglicher Beruf«.

Chrissie nickte wissend und sagte: »Ich glaube, am schlimmsten ist für mich, dass ich anfange, auf mir herumzuhacken und mich zu kritisieren. Wäre ich nur Jennys biologische Mutter – dann würde ich sie nicht anschreien, dann wäre ich eine bessere Mutter. Ich könnte sie lieben. An schlechten Tagen komme ich mir vor wie eine Miesmacherin und habe das Gefühl, dass mein Herz ein paar Nummern zu klein ist.«

Ich fragte Chrissie, was sie an Jenny mochte.

»Da muss ich nachdenken,« erwiderte Chrissie. »Sie hat ihren eigenen Willen. Niemand kann sie herumschubsen. Sie hat eine gewisse Entschlossenheit und ist eine Kämpfernatur. Sie tut mir leid – wirklich. Wenn du mit vier Jahren deine Mutter verlierst, ist das ganz furchtbar. Und ihre Mutter war schon jahrelang krank, bevor sie starb. Und für Johann war es auch sehr schwer«.

Wie schnell wir doch bereit sind, anderen das Mitgefühl entgegen zu bringen, das wir uns selbst vorenthalten.

Reflexion: Wann hast du andere freundlich behandelt?

 Nimm dir einen Moment Zeit und erinnere dich an Situationen, in denen du anderen Kindern oder Eltern, denen es schlecht ging, Mitgefühl entgegen gebracht hast.

 Denk nach: Wähle eine aus und schreibe sie auf.

 Was war die Situation?

 Wie hast du reagiert?

 Was hast du gesagt?

 Was hast du getan?

 Wie hat die andere Person reagiert?

 Was für ein Gefühl hattest du zu dir selbst?

 Lass zu, dass die Situation bei dir »ankommt«. Gib dir einen Moment Zeit, um sie zu verinnerlichen, damit du dich daran erinnerst. Bleib eine Weile dabei.

Uns selbst gegenüber sind wir oft sehr hart und vergessen die Zeiten, in denen wir freundlich, hilfsbereit und liebevoll waren. Oder jemandem weitergeholfen haben.

Eine einfache Methode, in einen achtsamen Zustand zu gelangen, ist, sich an das Gute zu erinnern. Tatsächlich ist Erinnern eine Definition von Achtsamkeit. Erinnere dich an das Gute, das du getan hast, und freue dich daran. Nimm dir einen Augenblick Zeit und versuche das jetzt. Ja. Und dann im nächsten Augenblick und im nächsten.

Das ABC des Selbstmitgefühls

Chrissie ist mit ihrem Problem nicht allein. Fast alle von uns haben das Gefühl, unzulängliche Eltern zu sein. Und deshalb ist Selbstmitgefühl gerade für Eltern so wichtig. Es kann helfen, den inneren Dialog von den ständigen Selbstvorwürfen und der Selbstkritik hin zu Akzeptanz, Freundlichkeit und Verständnis zu verschieben. Es kann uns helfen, zu erkennen, dass wir genauso viel Freundlichkeit und Verständnis verdient haben wie unsere Kinder, Freundinnen und andere geliebte Menschen.

Selbstmitgefühl ist eine gesunde Art, mit sich selbst in Kontakt zu treten, wenn es schwierig wird. Und wenn du Mutter oder Vater bist, kann es sich anfühlen, als wäre es die meiste Zeit über schwierig. Auch wenn es vielleicht Mut erfordert, auf sich selbst zu schauen, die eigenen Unvollkommenheiten einzuräumen und sich selbst so zu akzeptieren wie man ist, kann es auch unser Leben und das unserer Familie verändern.

Kristin Neff, eine führende Expertin auf diesem Gebiet und Vorreiterin in der Selbstmitgefühlsforschung, war die Erste, die Selbstmitgefühl definierte und eine Skala entwickelte, um es zu messen. Der MSC-Kurs ruht auf einem soliden empirischen Fundament. Doch bald nachdem ihr kleiner Sohn eine Autismus-Diagnose bekam, musste sie ihre gesamte Forschung auf den Prüfstand stellen. Im Schock nach der Erstdiagnose erlaubte sie sich, zu fühlen, was sie fühlte: Trauer, Enttäuschung und andere Emotionen, die sie ihrer Meinung nach nicht fühlen »sollte«. Sie kämpfte nicht gegen ihre Gefühle an und lernte, sich selbst zu trösten, wenn es ihr schlecht ging.

Nach dem Schock entschied sie sich dafür, ihren Sohn bedingungslos zu akzeptieren und unter allen Umständen zu lieben. Was sie entdeckte, hat große Bedeutung für alle Eltern: Wenn sie sich selbst Liebe geben konnte, konnte sie auch ihrem Kind Liebe geben. Und das gab ihr die Kraft und die Ressourcen, die beste Mutter zu sein, die sie eben sein konnte – auch in sehr herausfordernden Situationen.

Hast du etwas Ähnliches erlebt? Oder eine gute Freundin? Oder ein Familienmitglied? Die meisten von uns kennen viele Leute, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Vielleicht eine Nachbarin, deren Teenager ein Suchtproblem hat. Oder ein psychisches Problem. Kennst du jemanden, der oder die einen Verlust zu verkraften hat? Mit einer Behinderung klarkommen muss? Einer schweren Krankheit?

Und es sind gar nicht nur die großen Herausforderungen des Lebens, die uns niederdrücken. Die tägliche, profane Plackerei genügt, um uns meschugge (kein klinischer Begriff) zu machen: die hormonalen Schwankungen eines Kindes in der Vorpubertät, das emotional höchst sensible Kleinkind, das einen Anfall bekommt, wenn nicht alles nach seinem Willen geht, die Tragödie in der Mittelschule, wenn die Tochter nicht die Hauptrolle in der Schulaufführung bekommt, oder das emotionale Tief des Sohnes in der Oberstufe, der nicht für die Schulmannschaft ausgewählt wurde, und so weiter. Mit Kindern gibt es immer etwas, das einen in den Wahnsinn treiben kann.

Glücklicherweise kann jede und jeder Selbstmitgefühl lernen. Auch weil wir ja schon wissen, was wir zu anderen sagen müssen und wie wir diejenigen zu behandeln haben, die wir lieben und die uns am Herzen liegen. Wir müssen uns einfach nur die Erlaubnis geben, diese Gefühle auch uns selbst gegenüber zuzulassen. Selbstmitgefühl schließt grundsätzlich drei Aspekte ein:

1 Freundlichkeit gegenüber uns selbst, ohne harsche Kritik, verbunden mit der Motivation, uns selbst zu unterstützen und herauszufinden, was wir brauchen.

2 Die Erkenntnis, dass wir alle unvollkommen sind und alle ein unvollkommenes Leben führen. Dieses Anerkennen unserer gemeinsamen Erfahrung des Menschseins kann uns helfen, uns weniger isoliert und allein zu fühlen und uns tiefer mit anderen, auch anderen Eltern, zu verbinden, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie wir.

3 Selbstmitgefühl ruht auf dem Fundament der Achtsamkeit. Wir lernen, mit allem präsent zu sein, was geschieht, anstatt es zu verleugnen oder den Kopf in den Sand zu stecken. Das erfordert oft Mut und Kraft. Doch Achtsamkeit gibt uns den Raum, aus unseren unmittelbaren Reaktionsmustern auszuscheren und etwas Abstand zu gewinnen.

Schauen wir, wie Chrissie lernte, Selbstmitgefühl im Hinblick auf ihre Stieftochter anzuwenden.

»Wir alle schreien herum«, erinnerte ich Chrissie. »Wir alle haben unsere Anfälle – Kinder und Erwachsene. Worauf es ankommt, ist doch, dass wir in einen Raum der Freundlichkeit zurückkehren und daran arbeiten, den in der Beziehung angerichteten Schaden zu reparieren. Das ist eine schwierige Situation, und es geht auch nicht jedes Mal schnell vorbei. Darf ich dir etwas zeigen, das helfen könnte, wenn harte Zeiten kommen? Ich nenne es den Selbstmitgefühls-Lebensretter für Eltern. Es geht dabei darum, wie man lernt, freundlich zu reagieren, wenn es sehr schwierig wird.«

 

»Nein, tut mir leid. Das klingt für mich albern und viel zu nachgiebig und – egoistisch. Ich muss einfach härter werden. Mehr Rückgrat bekommen, eine strengere Stiefmutter sein, die nicht lange fackelt. Null Toleranz für schlechtes Benehmen.«

»Einen Moment. Viele Leute missverstehen das. Selbstmitgefühl hat nichts damit zu tun, zur Memme zu werden, Ausflüchte zu suchen oder sich aus der Verantwortung zu stehlen. Es geht darum, zu lernen, freundlich zu sich selbst zu sein, wenn es problematisch wird.«

Chrissie verdrehte die Augen. »Ja, ja; als ob ich Zeit für so etwas hätte. Ich bin jetzt für drei Leute verantwortlich.«

»Lass es mich noch einmal aus einer anderen Perspektive erklären. Was tust du, wenn du für Jenny Spaghetti kochst und dich dabei verbrennst?«

»Na, zuerst fluche ich wie ein Kesselflicker, dann nenne ich mich eine Idiotin und dann kühle ich die Stelle mit Eis, reibe sie mit Salbe ein und klebe ein Pflaster drauf.«

»Genau. Wir wissen, wie wir freundlich mit unserem Körper umgehen können aber es ist schwieriger, freundlich zu reagieren, wenn wir vom Leben verbrannt werden.«

»Okay, da hast du recht. Ich werde es versuchen, aber ich werde mich keiner «Persönlichkeitstransplantation» unterziehen. Soll ich etwa sagen ›Du armes, armes Kind. Das Leben war so grausam zu dir. Hier, iss ein Stück Schokoladenkuchen und etwas Eiscreme zum Frühstück! Und dann kaufe ich dir noch ein neues Spielzeug! Willst du heute zu Hause bleiben, anstatt in die Schule zu gehen und ein bisschen Fernsehen?‹«

»Mitfühlend zu sein, bedeutet nicht, sich als Fußabtreter anzubieten Natürlich kannst du weiterhin Grenzen setzen, Regeln aufstellen und unangemessenes Verhalten in die Schranken weisen. Kinder brauchen eine Struktur.

Versuchen wir das doch einmal gemeinsam», sagte ich. «Es geht wirklich ganz schnell. Und du kannst eine Hand aufs Herz legen. Die Berührung ist beruhigend und tröstlich.«

Selbstmitgefühls-Lebensretter für Eltern
Aufnahme 2

 Das ist ein Moment des Leidens. Oder: Autsch, das ist wirklich sehr hart.

 Erkenne deine Gefühle an. Die Worte sollen sich ganz natürlich anfühlen.

 Das Elterndasein ist voller schwieriger Momente. Viele Eltern fühlen sich so. Ich bin damit nicht allein. Das gehört zum Leben.

 Füge freundliche Worte hinzu: Möge ich freundlich zu mir sein. Chrissie, ich bin für dich da.

 Du kannst eine Hand auf dein Herz legen.

»So einfach ist das. Probiere es in der Hitze des Gefechts aus, Chrissie. Wenn du das Gefühl hast, dass dir alles zu viel wird. Ich verspreche keine Wunder, aber es hilft. Ich möchte dir helfen, zu lernen, eher auf ihr Verhalten zu antworten als bloß zu reagieren.«

Reflexion: Selbstmitgefühl im
eigenen Leben aktivieren

Schau, ob dir auf der Grundlage der Liste, die du in der Übung »Wann hast du eine Rettungsinsel gebraucht?« erstellt hast, Situationen einfallen, in denen dir alles zu viel wird und diese Übung hilfreich sein könnte. Den meisten Leuten fällt etwas ein, das heute passiert ist (oder jetzt gerade passiert?) – ein Streit vor dem Frühstück, ein Vorfall auf dem Weg zur Schule, Geschwisterrivalität, böse Worte, die beim Abendessen gefallen sind.

 Frage dich, was heute schwierig für dich war.

 Was brauchst du jetzt?

 Gab es Momente, in denen du dich allein gefühlt hast? Nicht gewürdigt? Nicht gesehen? Wie eine Angestellte oder Dienstmagd?

 Nimm dir ein paar Minuten Zeit und versuche, die Übung Selbstmitgefühls-Lebensretter für Eltern zu machen.

 Mach dir ein paar Notizen. Wie war das für dich? Wie war es, gut und freundlich zu sich selbst zu sein?

In der folgenden Woche kam Chrissie mit einem Bericht zurück.

»Dieses Selbstmitgefühlszeug hat geholfen. Aber die Worte haben für mich nicht besonders gut gepasst. Also habe ich die Übung ein bisschen umgeschrieben.«

»Prima. Ich möchte, dass sie zu deiner eigenen wird.«

»Jenny hat diese Woche versucht, mich zu provozieren, aber ich bin ruhig geblieben. Ich bin nicht total ausgerastet. Ich glaube, du hast recht. Sie versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen, eine Reaktion zu provozieren, Sand ins Getriebe zu werfen. Sie nimmt also Boo-Boo, Steffens Lieblingsteddybär, der, mit dem er schläft, und versteckt ihn. Er ist außer sich. Und Johann macht natürlich Überstunden. Sie fangen an zu streiten, schubsen, schlagen, beißen einander, ziehen einander an den Haaren, die volle Katastrophe. Ich trenne sie. Eine weitere, entspannte Zeit beim Zubettgehen,« sagt Chrissie sarkastisch.

»Also sage ich, HÖRT AUF, auseinander. Jetzt. Auszeit. Geht in eure Zimmer.

Wir gehen alle in unsere Zimmer und ich merke, dass ich wieder ausflippe, ich kann es richtig im Körper spüren. Und ich fange an, auf meine Gedanken zu achten. Ich fange an, Jenny zu hassen, dann hasse ich mich selbst, fühle mich unzulänglich, gebe mir die Schuld und sehe die Scheidung als einzigen Ausweg.

Ich war verzweifelt, also probierte ich dieses Lebensretter-Ding aus. Aber ich habe die Worte geändert, damit es realistischer klingt.

Ich habe den Zuckerguss weggelassen.

 Das ist ein totaler Scheiß-Moment.

 Mutter zu sein kann wirklich nerven. Stiefmutter zu sein, nervt tierisch. Exponentiell. Das ist, verdammt nochmal, unmöglich.

 Möge ich freundlich zu mir sein. Das wird vorbeigehen. Vielleicht noch in diesem Jahrhundert.

Und ich habe eine Hand auf mein Herz gelegt. Es fühlte sich fast an, als würde ich mich selbst umarmen. Es fühlte sich gut an. Ich wurde ein bisschen ruhiger.

Als es vorbei war, sagte ich, ›Okay ihr beiden, wir müssen Boo-Boo finden. Lasst uns zusammen arbeiten. Wir sind jetzt Detektive‹ und ich gab jedem eine Taschenlampe. ›Schnitzeljagd. Ich höre Boo-Boo rufen. Er ruft »Hilfe! Hilfe!« Also los. Er braucht uns.‹

Ich habe sie also dazu gebracht, mitzumachen, anstatt in das übliche sinnlose Streiten zu verfallen. Und rate mal. Boo-Boo war hinter der Toilette versteckt. Ekelhaft. Dort hätten wir nie gesucht. Sie fand ihn natürlich.

Wir haben ihn dann abgewaschen, sauber gemacht und Steffen schlief ein, obwohl der Bär feucht war.

Als ich Jenny ins Bett brachte, gab ich ihr einen Kuss, und statt sie erwürgen zu wollen, dachte ich an alles, was ich an ihr mag. Ich bewunderte ihren Humor, ihren Grips. Und ich sagte zu ihr ›Manchmal ist es schwer, aber wir schaffen das. Ich hab dich lieb.‹

Sie lächelte, umarmte ihr Stofftier und schlief ein.

Die Übung hat mir geholfen, die Sache in den Griff zu bekommen und sie kann mich vielleicht davon abhalten, völlig durchzudrehen und Johann in einem Wutanfall zu verlassen. Ich will nicht noch eine kaputte Ehe. Eine hat mir gereicht.» Sie schüttelte den Kopf. «Er ist nicht objektiv in Bezug auf Jenny. Er fühlt sich so schuldig dafür, dass Karen starb. Er kann kein negatives Wort über sein kostbares Kind hören, ohne total wütend auf mich zu werden.« Sie seufzte. »Ich denke, das wird ein langwieriger Prozess. Und ich werde dabei alle Hilfe und Unterstützung brauchen, die ich kriegen kann.«

Geschickt mit unseren Emotionen arbeiten

Wir alle durchleben die unterschiedlichsten Emotionen, aber vielen von uns wurde nicht gezeigt, wie man kompetent damit umgehen kann. Oft verleugnen wir unsere Gefühle, werden gefühlskalt oder tun so, als würden wir gar keine Traurigkeit oder Wut spüren, insbesondere, wenn wir in einer Familie aufgewachsen sind, in der diese Gefühle tabu waren.

Wie Chrissie suchte auch David nach einem Weg, schwierige Gefühle auszuhalten.

»Standardeinstellungen« vermeiden

Als Jan die Chance bekam, einen neuen, interessanten Job anzutreten, beschlossen sie und David, dass sie nun an der Reihe sei, sich auf ihre Karriere zu konzentrieren. Also arbeitet David zu Hause, während sie außer Haus ist. Aber er fühlt sich einsam – und empfindet es als große Herausforderung, die Hauptbezugsperson zu sein. Das ältere Kind war schon immer »wild und raubeinig«, wie David es ausdrückte, aber der Drittklässler Nathan ist ein »stilles, sensibles Kind«, und David ist unsicher, wie er selbst mit Sensibilität auf ihn reagieren kann.

Das jährliche Schulkonzert steht an und alle Kinder sind deswegen aufgeregt. »Nathan ist nicht wirklich musikalisch«, erzählt sein Papa, »aber er singt gerne für sich selbst beim Spielen und in der Dusche. Und es scheint ihm egal zu sein, dass er keinen Ton halten kann. Unglücklicherweise ist es der Musiklehrerin wohl nicht egal und irgendwann unterbrach sie die Probe und sagte vor allen anderen Schülern: ›Nathan Johnson, ich glaube, es wäre besser, wenn du nur still die Lippen bewegen würdest.‹

Es dauerte eine Weile, bis Nathan mit der Geschichte herausrückte, aber er war völlig am Boden zerstört und beschämt. Zuerst schmollte er nur und wollte nicht darüber sprechen. Als das Problem dann auf dem Tisch war«, erinnert sich David »versuchte ich ihn aufzumuntern und sagte zu ihm, das sei doch keine große Sache und er solle es einfach vergessen. Aber das konnte er nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Versuch, ihn etwas aufzumuntern hatte die Sache noch schlimmer gemacht. Ich fühlte mich nicht nur völlig außerstande, meinem Sohn zu helfen, ich hatte auch wirklich keine Ahnung, was er fühlte. Mein Vater hätte einfach zu mir gesagt, ich solle nicht so ein trübsinniges Gesicht machen und damit wäre die Sache erledigt gewesen. Ich wurde dazu erzogen, nichts Unangenehmes zu fühlen. Meine Mutter war von der Sorte, die nach einer Krebsoperation auf die Frage, wie es ihr ging, antwortete ›es ging mir nie besser‹ – Ich fühle mich nicht darauf vorbereitet, ­Nathan ein guter Vater zu sein.

Ich hasse es, dass ihn die Lehrerin aufforderte still zu sein. Und ich hasse es, mich so nutzlos zu fühlen. Ich glaube, er vermisst seine Mutter.

Ich fühlte mich immer schlechter, grübelte darüber nach, dass meine Frau der bessere Elternteil ist und dass ich inkompetent bin. Auf dem Spielplatz sind keine anderen Väter, sie haben wichtige Jobs; sie arbeiten nicht zu Hause. Und dann wurde ich wütend auf die Lehrerin, weil sie ihn zum Schweigen gebracht und beschämt hatte; und dann fing ich an, mich selbst dafür zu hassen, dass ich als Vater so ein Versager bin.

Meine Gedanken machten sich selbstständig und ich wurde zu einem wütenden, bitteren Durcheinander. Und als ich dann am Abend, nachdem die Kinder im Bett waren, allein dasaß – Jan war noch bei der Arbeit – holte ich die Flasche Gin heraus und schenkte mit ein paar Drinks ein.« Jammernd sagte er: »Außer einem Kater brachte mir das nichts.«

Wir alle haben innere »Standardeinstellungen«, die einrasten, wenn wir mit unangenehmen Gefühlen konfrontiert werden: Wir laufen weg, flüchten uns ins Fernsehprogramm oder Smartphone, Trinken oder Süßigkeiten.