Die Kunst des Krieges

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4. Kapitel

Die Gestaltung52 einer möglichst günstigen militärischen Ausgangslage

4.1. Meister Sun sagt: Wer sich früher gut auf Kriegführung verstand, schuf sich zunächst eine Ausgangslage, in der er nicht besiegt werden konnte, um auf eine Konstellation, in der der Feind besiegt werden konnte, zu warten. Die Schaffung einer Ausgangslage, in der man vom Feind nicht besiegt werden kann, hängt von einem selbst ab. Die Entstehung einer Konstellation, in welcher der Feind besiegt werden kann, hängt von Entwicklungen auf Seiten des Feindes ab. Wer sich daher gut in der Kriegführung versteht, vermag sich zwar eine Ausgangslage zu sichern, in der er nicht besiegt werden kann, aber er vermag es nicht, allein gestützt auf eigene Vorkehrungen den Feind in eine Konstellation zu versetzen, in welcher dieser mit Sicherheit besiegt werden kann. Daher sagt man: Man kann im Voraus wissen, dass ein Sieg möglich ist, aber man kann ihn nicht allein gestützt auf eigene Vorkehrungen, koste es, was es wolle, herbeiführen. Wer nicht besiegt werden kann, hält seine Stellung. Wer siegen kann, der greift an. Hält man die Stellung, dann deshalb, weil die Kräfte für einen Angriff nicht ausreichen. Greift man an, dann deshalb, weil man über ausreichende Kräfte verfügt. Wer sich gut im Halten der Stellung versteht, verbirgt sich gleichsam tief unter der Erde53, so dass er unangreifbar ist. Wer sich gut auf einen Angriff versteht, tritt gleichsam wie vom höchsten Punkt des Himmels aus, mit unwiderstehlicher Wucht, plötzlich in Aktion, so dass der Feind ihm wehrlos ausgeliefert ist. Daher kann er einen umfassenden Sieg erringen und dabei sich selbst unversehrt bewahren.

4.2. Übertrifft man, wenn man den Sieg voraussieht, nicht das Wissen, das auch schon die Menge über den künftigen Sieg besitzt, dann ist das nicht das Gute vom Guten, denn man sollte die Siegchancen bereits in einem viel früheren Stadium erkennen beziehungsweise dann, wenn in den Augen der Menge alles auf einen sicheren Sieg hindeutet, sich abzeichnende Tendenzen, die auf eine Niederlage hinweisen, rechtzeitig wahrnehmen und Maßnahmen gegen diese ergreifen. In einem spektakulären Waffengang einen Sieg zu erringen und dann deswegen von den Leuten unter dem Himmel für gut befunden zu werden, ist nicht das Gute vom Guten, optimal ist es vielmehr, eine Auseinandersetzung mittels Strategemen oder diplomatischen Mitteln ohne Waffengang zu gewinnen, so dass die Menschen einen solchen Sieg ohne Waffeneinsatz gar nicht wahrnehmen und natürlich auch kein Lob spenden.

Hebt man ein im Herbst neu gewachsenes winziges Flaumhaar eines Wildtiers empor, so ist das nicht ein Zeichen von viel Kraft. Erblickt man Sonne und Mond, so ist das nicht ein Zeichen besonders scharfsichtiger Augen. Vernimmt man einen Donnerschlag, dann ist das nicht ein Zeichen besonders hellhöriger Ohren. Wer im Altertum als jemand, der sich gut in der Kriegführung verstand, bezeichnet wurde, war einer, der über einen infolge der erfolgreichen Gestaltung der eigenen Ausgangslage und des Abpassens oder der Gestaltung einer günstigen Konstellation leicht zu besiegenden Feind siegte. Wenn daher einer, der sich wirklich gut auf einen Waffengang versteht, einen Sieg erringt, dann benötigt er gar keinen Waffengang. Daher erregt der Sieg, den er erringt, weil er nicht wahrgenommen wird, kein Aufsehen, daher glänzt er nicht infolge außergewöhnlicher militärischer Siege, daher verfügt er nicht über den Ruf eines Weisen, und daher erwirbt er, da er sich in einem Keimstadium der Auseinandersetzung mit Weisheit im Verborgenen durchgesetzt und nicht mit Streitmacht vor aller Augen gesiegt hat, keine auf Kühnheit gründenden Verdienste. Erringt er daher den Sieg, ohne eine Fehlleistung zu begehen, und führen, da er keine Fehlleistung begeht, die von ihm ergriffenen Maßnahmen den sicheren Sieg herbei, dann deshalb, weil er infolge seiner Gestaltung der Ausgangslage für die Erringung des Sieges und des Wartens auf eine oder der Herbeiführung einer günstige(n) Konstellation einen bereits der sicheren Niederlage geweihten Feind besiegt. Wer sich daher gut in der Kriegführung versteht, versetzt sich zunächst in eine Lage, in der ihm keine Niederlage beigebracht werden kann, und danach verpasst er keine sich ihm bietende Gelegenheit, dem Feind eine Niederlage beizubringen. Daher schafft eine siegreiche Streitmacht zunächst die Bedingungen für einen Sieg und sucht erst dann den Waffengang mit dem Feind. Eine der Niederlage geweihte Streitmacht beginnt zuerst einen Waffengang und sucht erst dann auf gut Glück nach Bedingungen für die Herbeiführung eines Sieges. Wer sich gut in einem Armeeeinsatz versteht, pflegt den Weg zur Gewährleistung einer guten Ordnung im eigenen Land und hegt die Mittel zum Aufbau einer schlagkräftigen Armee. So kann er zum Herrn über Sieg und Niederlage werden.

4.3. Im Buch Kriegskanon54 heißt es: Man benutzt fünf Schritte, um die Möglichkeit eines Sieges zu ermessen. Erstens: Einschätzung; zweitens: Bemessung; drittens: Zahlen, viertens: Gleichgewicht, fünftens: Sieg. Aus der Größe des eigenen Landesgebiets ergibt sich eine Einschätzung der verfügbaren Ressourcen. Aus der Einschätzung der verfügbaren Ressourcen ergibt sich eine Bemessung der eigenen militärischen Kapazitäten. Aus der Bemessung der eigenen Kapazitäten ergeben sich Zahlen betreffend die eigene militärische Stärke. Aus diesen Zahlen ergibt sich ein Gleichgewicht zwischen der militärischen Stärke und der konkreten Lage des Landes. Aus diesem Gleichgewicht ergibt sich die Grundlage für einen Sieg in einem Krieg.55

Wenn somit die Gestaltung der Ausgangslage für einen Sieg bestmöglich durchgeführt worden ist, dann gleicht die siegreiche Streitmacht dank ihrer Übermacht einer Yi-Gewichtseinheit, gegen die eine Zhu-Gewichtseinheit56 abgewogen wird. Die der Niederlage geweihte Streitmacht gleicht einer Zhu-Gewichtseinheit, gegen die eine Yi-Gewichtseinheit abgewogen wird.

4.4. Setzt ein siegreicher Feldherr seine Leute für einen Waffengang ein, der mit der Wucht von aufgestautem Wasser verglichen werden kann, das nach der Öffnung einer Durchflussstelle von einer Höhe von achttausend Fuß57 eine Schlucht hinunterstürzt und alles niederwalzt, dann liegt eine erfolgreiche Gestaltung der Ausgangslage für die Erringung eines Sieges vor.

5. Kapitel

Das Herbeiführen und Ausnutzen einer siegbegünstigenden Kräftekonstellation

5.1. Meister Sun sagt: Die erfolgreiche Führung von vielen Soldaten ebenso wie die Führung von wenigen Soldaten ist gemeinhin abhängig von der Beschaffenheit der Truppenordnung58. Der Kampfeinsatz von vielen Soldaten ebenso wie der Kampfeinsatz von wenigen Soldaten – das ist abhängig vom Kommando mittels Signaltrommeln und Kriegsflaggen. Dass ein Feldherr die vielen Soldaten der drei Armeen instandzusetzen vermag, in einem Waffengang dem Feind voll ausgesetzt zu sein und doch keine Niederlage zu erleiden – das ist abhängig vom geschickten Einsatz von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem.59 Dass der Schlag, den eine Streitmacht dem Feind versetzt, gleich wirkt wie der Wurf eines Steins auf ein Ei – das ist abhängig vom geschickten Umgang mit der Leere und der Fülle60.

5.2. Bei jedem Waffengang tritt man dem Feind im gewöhnlichen Rahmen wie beispielsweise mit konventionellen Truppen oder frontal entgegen, aber mittels aus dem Rahmen fallender außergewöhnlicher Maßnahmen wie etwa eines Flankenangriffs oder mittels überraschender sonstiger Aktionen wie des Angriffs auf vitale feindliche Leerstellen erringt man den Sieg. Die Behelfe dessen, der sich gut darauf versteht, Außergewöhnliches zu erzeugen und einzusetzen, sind so unabsehbar wie die Änderungen am Himmel und die Wandlungen auf der Erde, und so unerschöpflich wie die endlos dahingleitenden Ströme und Flüsse. Es verhält sich so wie mit dem, was verschwindet und dann wieder zu strahlen beginnt – das sind Sonne und Mond –, und wie mit dem, was an ein Ende gelangt und dann wieder ersteht – das sind die vier Jahreszeiten. An Tönen gibt es nicht mehr als deren fünf, aber was die zahllosen Variationen der fünf Töne61 betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle anzuhören. An Farben gibt es nicht mehr als deren fünf, aber was die zahllosen Variationen der fünf Farben62 betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle zu betrachten. An Geschmäcken gibt es nicht mehr als deren fünf, aber was die zahllosen Variationen der fünf Geschmäcke63 betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle zu kosten. An Kriegskonstellationen gibt es nicht mehr als das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche, aber was die zahllosen Variationen von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle auszuloten. Außergewöhnliches und Gewöhnliches entstehen wechselseitig aus einander, vergleichbar mit der Endlosigkeit eines Kreises – wer vermag an sein Ende zu gelangen!

5.3. Dass das ungestüme Heranbrausen von reißendem Wasser es dahin bringt, einen Stein wegzuschwemmen, ist die Auswirkung der Entfaltung einer bestimmten Kräftekonstellation. Dass das blitzschnelle Herabstürzen eines Greifvogels es dahin bringt, einem Beutetier die Knochen zu brechen, ist das Ergebnis des Angriffs in der angesichts der Entfernung zum Ziel genau richtigen Zeitspanne. Von jemandem, der sich gut auf die Kriegführung versteht, gilt daher, dass die von ihm herbeigeführten Kräftekonstellationen für den Feind gefährlich und die von ihm für punktgenaue Aktionen beherrschten Zeitspannen kurz bemessen sind. Die Herbeiführung einer Kräftekonstellation gleicht dem Spannen einer Armbrust64, die Beherrschung einer Zeitspanne für eine punktgenaue Aktion gleicht dem Augenblick der Betätigung des Abzuges.

 

5.4. Inmitten ungeordnet wirkender Kriegsflaggen und eines wirr anmutenden Schlachtgetümmels wird der Eindruck eines chaotischen Ringens vermittelt, aber die eigene Truppe kann dank einer guten Führung nicht in ein Chaos versetzt werden. Inmitten eines wilden Durcheinanders hält die Armee eine kreisförmige Formation aufrecht, so dass alle Verbände der Armee schlagkräftig interagieren können, weshalb ihr keine Niederlage beigebracht werden kann. Vorgespiegelte Unordnung kann nur aus einer in Wirklichkeit gut geleiteten Armee heraus erzeugt werden. Vorgespiegelte Furcht kann nur aus einer in Wirklichkeit mutigen Armee heraus erzeugt werden. Vorgespiegelte Schwäche kann nur aus einer in Wirklichkeit starken Armee heraus erzeugt werden. Gibt sich eine gut geleitete Armee den Anschein von Chaos, dann ist das ein Truggebilde bezüglich der Truppenordnung. Gibt sich Mut den Anschein von Furcht, dann ist das ein Truggebilde bezüglich der Kräftekonstellation. Gibt sich Stärke den Anschein von Schwäche, dann ist das ein Truggebilde bezüglich des Erscheinungsbildes.65

5.5. Wer sich gut darauf versteht, den Feind in Bewegung zu setzen, zeigt ihm Truggebilde, denen der Feind mit Sicherheit entsprechende Handlungen folgen lässt. Man bietet ihm einen Köder dar, nach dem der Feind mit Sicherheit greifen wird. Man setzt ihn durch vorgespiegelte kleine Vorteile in Bewegung und erwartet ihn in einem Hinterhalt. Wer sich daher gut in der Kriegführung versteht, erstrebt den Sieg gestützt auf eine günstige Kräftekonstellation und nicht, indem er größte Anstrengungen von seinen Männern abverlangt. So kann er auf den Einsatz vieler Männer verzichten66 und stattdessen die Konstellation ausnutzen. Setzt ein Feldherr, der eine günstige Konstellation ausnutzt, seine Männer für einen Waffengang ein, dann ist das so einfach wie das Rollen eines runden Steins. Die Natur von Holzklötzen und Felsblöcken ist so, dass sie dann, wenn man sie auf einen sicheren Boden legt, in Ruhe verharren, und dann, wenn man sie auf einen schrägen Boden legt, in Bewegung geraten. Nimmt man viereckige Holzklötze und Felsbrocken, dann verharren sie auch auf abschüssigem Grund in Ruhe. Nimmt man runde Holzklötze und Felsbrocken und legt sie auf abschüssigen Boden, dann rollen sie davon.

5.6. Darum ist die Kräftekonstellation, die ein Feldherr herbeiführt67, der sich gut darauf versteht, seine Männer zu einem Waffengang einzusetzen, vergleichbar mit der Wucht von Geröll, das man von einem achttausend Fuß hohen Berg hinunterrollen lässt 68 – das ist die Wirkung infolge der Entfesselung des in einer unwiderstehlichen, aktiv herbeigeführten oder geistesgegenwärtig ausgenutzten69 Kräftekonstellation schlummernden Potentials.

6. Kapitel

Leere und Fülle70

6.1. Meister Sun sagt: Wer immer zuerst den Ort eines Waffengangs besetzt und dort den Feind erwartet, ist ausgeruht. Wer danach den Ort des Waffengangs besetzen will und auf das Schlachtfeld eilt, ist ausgezehrt. Wer sich daher gut auf Kriegführung versteht, lenkt die feindlichen Männer herbei und lässt sich nicht von den feindlichen Männern fortlenken. Man kann es zustande bringen, dass sich die feindlichen Männer aus eigenem Antrieb an einen Ort begeben, von dem man wünscht, dass sie sich dorthin begeben, indem man sie mit einem in Aussicht gestellten Vorteil dorthin lockt. Man kann es zustande bringen, dass die feindlichen Männer unfähig sind, sich an einen Ort zu begeben, von dem man wünscht, dass sie sich nicht dorthin begeben, indem man sie durch eine angedrohte Schädigung von dort fernhält. Daher gilt: Ist der Feind erholt, dann kann man ihn ermüden. Ist der Feind gesättigt, dann kann man ihn aushungern. Verharrt der Feind in Ruhe, dann kann man ihn in Bewegung versetzen. Man taucht an einem Ort auf, zu dem er unweigerlich herbeieilen muss, und man eilt an einen Ort, von dem er nicht erwartet, dass man dort auftaucht.

6.2. Wenn eine Armee tausend Meilen marschiert und dabei nicht ermüdet, dann deshalb, weil sie durch Gebiete marschiert, in denen keine feindlichen Männer anwesend sind, die also leer sind. Wenn der Feldherr eine feindliche Stelle angreift und mit Sicherheit erobert, dann deshalb, weil die von ihm angegriffene Stelle vom Feind nicht verteidigt wird, also leer ist. Verteidigt der Feldherr eine Stellung und hält diese mit Sicherheit stand, dann deshalb, weil er all diejenigen Stellen verteidigt, die mit Sicherheit vom Feind angegriffen werden, so dass dieser nirgends eine von der feindlichen Abwehr entblößte Leere zu entdecken vermag. Daher gilt: In der Auseinandersetzung mit einem Feldherrn, der sich gut auf einen Angriff versteht, weiß der Feind nicht, welche Stellen er verteidigen sollte. In der Auseinandersetzung mit einem Feldherrn, der sich gut darauf versteht, eine Stellung zu verteidigen, weiß der Feind nicht, an welcher Stelle er angreifen könnte. Greift der Feldherr an und kann der Feind ihn nicht abwehren, dann deshalb, weil der Feldherr gegen eine feindliche Leere anstürmt. Zieht er sich zurück und kann ihn der Feind nicht einholen, dann deshalb, weil er den Rückzug derart schnell vornimmt, dass ihn der Feind nicht zu erreichen vermag. Daher gilt: Will ich einen Waffengang durchführen und kann der Feind, obwohl er hinter hohen Schutzwällen und tiefen Wassergräben verschanzt ist, gar nicht anders, als hervorzukommen, um mit mir einen Waffengang durchzuführen, so deshalb, weil ich eine feindliche Stelle angreife, die er unbedingt retten muss. Wünsche ich nicht, einen Waffengang durchzuführen, und ist der Feind, obwohl ich den Landstrich, den ich verteidige, lediglich durch mit einem Messer in den Boden geritzte Markierungslinien abgesteckt habe71 und nicht mittels Schutzwällen und Wassergräben schütze, nicht in der Lage, mit mir einen Waffengang durchzuführen, dann deshalb, weil ich ihm Truggebilde zeige und ihn so dazu verleite, sich an einen falschen Ort zu begeben. Geheimnisvoll, geheimnisvoll, wie man es fertigbringt, unsichtbar zu sein, indem man keine über die eigene Seite Aufschluss gebenden Spuren ins Blickfeld des Gegners geraten lässt! Wunderbar, wunderbar, wie man es fertigbringt, unhörbar zu bleiben, indem man keinen über die eigene Seite Aufschluss gebenden Laut an das Ohr des Feindes dringen lässt! So kann man zum Gebieter über das Schicksal72 des Feindes werden. Führe ich somit die feindlichen Männer durch Truggebilde in die Irre, wobei ich keine Spuren hinterlasse, dann kann ich Soldaten zusammenziehen, wohingegen sich der Feind infolge der vielen ihm vorgegaukelten Truggebilde zersplittert. Ziehe ich meine Soldaten auf eine Stelle zusammen und ist der Feind mit seinen Soldaten auf zehn Stellen zersplittert und führt das dazu, dass ich die zehn zersplitterten feindlichen Heeresteile je in einem Kräfteverhältnis von zehn zu eins angreifen kann, dann bin ich an dem betreffenden Punkt in der Mehrzahl und ist der Feind in der Minderzahl. Kann ich mit vielen wenige angreifen, dann ist die Stärke des mit mir einen Waffengang austragenden Feindes begrenzt. Den Ort, an dem ich mit dem Feind einen Waffengang auszutragen gedenke, darf der Feind nicht kennen. Ist der Feind nicht in der Lage, den Ort des von mir geplanten Angriffs zu kennen, dann sind der Orte, an denen der Feind sich gegen einen Angriff meinerseits wappnen muss, viele. Sind der Orte, an denen der Feind sich gegen einen Angriff wappnen muss, viele, dann ist die Streitmacht des Feindes an dem Ort, an dem ich einen Waffengang gegen ihn durchführe, reduziert. Wappnet er sich gegen einen Angriff vorne, dann wird die Streitmacht hinten reduziert sein. Wappnet er sich gegen einen Angriff hinten, dann wird die Streitmacht vorne reduziert sein. Wappnet er sich gegen einen Angriff links, dann wird die Streitmacht rechts reduziert sein. Wappnet er sich gegen einen Angriff rechts, dann wird die Streitmacht links reduziert sein. Wappnet er sich gegen einen Angriff überall, dann wird die Streitmacht überall reduziert sein. Die Streitmacht des Feindes ist an jedem einzelnen Punkt reduziert und geschwächt, weil er seine Soldaten zur allseitigen Wappnung gegen die feindlichen Männer aufgeteilt hat. Meine Streitmacht verfügt im Vergleich zu jener des Feindes an bestimmten Punkten über eine Mehrheit an Soldaten, weil ich ihn veranlasse, sich überall gegen mich zu wappnen. Weiß man daher vorher Bescheid über den Ort des Waffenganges, und weiß man vorher Bescheid über den Tag des Waffenganges, weil man beides selbst vorausgeplant hat, ohne dass der Feind davon Kenntnis hat, dann kann man selbst von tausend Meilen herbeimarschiert sein und doch mit dem Feind siegreich einen Waffengang austragen. Weiß man vorher nicht Bescheid über den Ort des Waffenganges und weiß man vorher nicht Bescheid über den Tag des Waffenganges, dann vermag während des Waffenganges der linke Flügel nicht dem rechten Flügel zu Hilfe zu eilen, und der rechte Flügel vermag nicht dem linken Flügel zu Hilfe zu eilen, der vordere Teil der Armee vermag nicht dem hinteren Teil der Armee zu Hilfe zu eilen, und der hintere Teil der Armee vermag nicht dem vorderen Teil der Armee zu Hilfe zu eilen. Wie tritt doch diese Hilflosigkeit der feindlichen Armee erst recht dann zutage, wenn ihre weit weg voneinander agierenden Truppenteile einige zehn Meilen und ihre nahe beieinander agierenden Truppenteile mehrere Meilen voneinander entfernt sind!

6.3. So wie ich es einschätze, verfügt der feindliche Mann in Yue73 zwar über viele Soldaten, wie sollte dies aber auch angesichts der oben geschilderten Möglichkeiten, eine große feindliche Streitmacht zu zersplittern, für einen Sieg von Nutzen sein?

6.4. Darum heißt es: Ein Sieg ist mittels der Herbeiführung von den Feind aufspaltenden Kräftekonstellationen gestützt beispielsweise auf die oben geschilderten Maßnahmen machbar. Der Feind mag zwar über eine Menge Soldaten verfügen, aber man kann ihn in eine Konstellation versetzen, in der er keine Kampfkraft mehr hat. Daher gilt: Man versetzt ihm mit kleinen Truppen einzelne Schläge, um aufgrund seiner Reaktionen das Wissen darüber zu erlangen, welche feindlichen Planungen gekonnt und welche fehlerhaft sind. Man kundschaftet ihn aus, um das Wissen darüber zu erlangen, nach welchen Regelmäßigkeiten er agiert. Man zeigt ihm Truggebilde, um aufgrund seiner Reaktionen das Wissen darüber zu erlangen, wo seine Schwachstellen liegen und ihm daher der Todesstoß versetzt werden kann, und wo seine starken Stellen liegen und daher bei einem Angriff sein Überleben gesichert wäre. Man nimmt ihn links und rechts in einem Testangriff in die Zange, um aufgrund seines Widerstandes das Wissen über seine reichlich und seine ungenügend geschützten Stellen zu erlangen. Erreicht man im Vorgaukeln von Truggebilden, die den Feind in die Irre führen, den Gipfelpunkt, dann bringt man es fertig, selbst keine Spuren zu hinterlassen. Hinterlässt man keine Spuren, dann vermögen selbst Meisterspione nichts auszukundschaften, und selbst ein weiser Feind vermag keine listigen Planungen auszuhecken. Habe ich, gestützt auf die Kenntnis der die Leere und Fülle beim Feind offenlegenden Spuren, Maßnahmen ergriffen und vor den Augen der vielen Soldaten den Sieg errungen, dann sind die vielen Soldaten doch nicht imstande, das Geheimnis meines Erfolges zu wissen. Die Männer wissen zwar alle Bescheid über die Situation74, in der ich gesiegt habe, aber sie wissen nicht, wie ich die siegbringende Situation herbeigeführt habe. Man kann die auf eine bestimmte Situation abgestimmten Maßnahmen, dank denen man den Sieg in einem Waffengang errungen hat, nicht wiederholen, sondern man sollte sie entsprechend den Veränderungen der Situationen endlos variieren.

6.5. Die Formen der Kriegführung gleichen jenen des Wassers. Was das Fließen des Wassers anbelangt, so meidet es die Höhe und stürzt nach unten. Was die Formen der Kriegführung anbelangt, so meidet sie die Fülle und stößt gegen die Leere vor. Das Wasser formt die Geschwindigkeit und die Richtung seines Fließens entsprechend der Beschaffenheit des Bodens. Im Krieg formt der Feldherr die Maßnahmen zur Erringung des Sieges entsprechend den sich verändernden Situationen beim Feind. Daher gibt es für die Kriegführung keine ewig unveränderliche Konstellation, so wie es für das Wasser keine ewig unveränderliche Fließform gibt. Wer entsprechend den Veränderungen beim Feind unterschiedliche Maßnahmen zu ergreifen und so den Sieg zu erringen vermag, den bezeichnet man als Genius. Was die fünf Wandlungszustände75 anbelangt, so gibt es für keinen von ihnen den ewigen Sieg. Was die vier Jahreszeiten anbelangt, so gibt es für keine von ihnen einen ewigen Stillstand. Was die Sonne angeht, so scheint sie manchmal kurz und manchmal lang. Was den Mond angeht, so nimmt er bald ab, bald nimmt er zu. So wie diese Naturerscheinungen in einem ständigen Fluss sind, verändern sich auch die Stellen feindlicher Fülle und feindlicher Leere in einem Krieg unaufhörlich, was einen Genius in den Stand versetzt, immer eine Durchbruchsstelle für einen Sieg zu finden.

 
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