Ideologie, Kultur, Rassismus

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Dieser Punkt spielt zum Beispiel bei der Bestimmung der neuen Mittelklassen eine große Rolle, die nicht alle, aber einige Funktionen sowohl des »weltweiten Kapitals« als auch »des Gesamtarbeiters« (um Carchedis Begriffe einmal zur Illustration zu benutzen, Carchedi 1975) ausüben. In der tatsächlichen, konkreten Funktionsweise einer spezifischen Produktionsweise in einer historisch konkreten Gesellschaft oder Gesellschaftsformation und in jeder spezifischen Phase ihrer Entwicklung ist also die Konstituierung von Klassen bereits auf dieser »ökonomischen« Ebene ein komplexer und in einigen, zum Teil entscheidenden Aspekten widersprüchlicher Vorgang. Die Vorstellung, wir könnten irgendwie durch die Verwendung des Begriffes der »Produktionsweise« empirisch konstituierte, »einheitliche Klassen« auf der Ebene des Ökonomischen zu Tage fördern, ist unhaltbar.

Es gibt noch zwei weitere Gründe, warum das so sein muss. Erstens erscheinen in realen, konkret-historischen Gesellschaftsformationen die Produktionsweisen nicht selbständig und in »reiner Form«. Sie sind stets mit vorangegangenen und untergeordneten Produktionsweisen – und deren korrespondierenden politischen und ideologischen Verhältnissen – auf komplexe Weise verknüpft, womit jede Tendenz einer »reinen« Produktionsweise, eine Reihe von »reinen« Klassen zu produzieren, durchkreuzt und überdeterminiert wird.

Der zweite Grund wurde bereits angesprochen. Gesellschaftsformationen bestehen nicht ausschließlich aus miteinander verknüpften Produktionsweisen, sie enthalten immer auch Überbauverhältnisse – das Politische, das Juristische, das Ideologische. Und da diese nicht bloße Blüten der »Basis« sind, haben sie auch eigene Auswirkungen – sie komplizieren die Konstituierung der Klassen zusätzlich. Sie haben in zweierlei Hinsicht einen überdeterminierenden Effekt: Zum einen haben das Politische, das Juristische und das Ideologische Auswirkungen innerhalb dessen, was wir grob »das Ökonomische« nennen. In bestimmten Phasen der kapitalistischen Entwicklung fallen das reale und das rechtliche Eigentum an den Produktionsmitteln zusammen. Aber im Monopolkapitalismus fallen die beiden Funktionen zum Beispiel nicht zusammen. Das Körperschaftseigentum kann juristisch gesehen gesellschaftlichen Gruppen »gehören«, die aber nicht die »reale« Macht besitzen, die Instrumente dieses Eigentums in der Produktion einzusetzen. Zum anderen aber haben das Politische, Juristische und Ideologische auch ihre eigenen Auswirkungen, wie sie auch ihre eigenen bestimmten Existenzbedingungen haben, die nicht auf »das Ökonomische« reduzierbar sind. Wie wir zu zeigen versucht haben, sind sie zwar aufeinander bezogene, aber »relativ autonome« Praxen, und damit die Orte bestimmter Formen des Klassenkampfes mit ihren eigenen Kampfzielen, die selbst wiederum relativ unabhängig auf die »Basis« zurückwirken. Deshalb haben die Formen, in denen Klasse, Klasseninteresse und Klassenkräfte auf jeder dieser Ebene auftreten, keineswegs notwendig ein und dieselbe Bedeutung oder entsprechen einander. Das Beispiel der Bauernschaft, Napoleons, der Pattsituation zwischen den Hauptklassen, der Expansion von Staat und Kapital im Achtzehnten Brumaire sollte uns genügend von der Nicht-Unmittelbarkeit, der Nicht-Transferierbarkeit zwischen beiden Ebenen überzeugt haben. Die Verallgemeinerbarkeit der Theorie über Klassen und Klassenkampf in ihren verschiedenen Aspekten wird von unserer Fähigkeit abhängen, die globale Auswirkung dieser komplexen, widersprüchlichen Auswirkungen zu erfassen. Das impliziert die These von der Nicht-Homogenität der Klassen, einschließlich etwa der Nicht-Homogenität des Kapitals, einem Kürzel für die verschiedenen Kapitalformen. Seine innere Zusammensetzung und jeweils unterschiedliche Stellung im Kreislauf führt dazu, dass es selbst auf der ökonomischen Ebene kein einheitliches, eindeutiges »Interesse« verfolgt. Von daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass es auf der politischen Bühne als einheitliche Kraft auftritt, ganz zu schweigen davon, dass es auf der ideologischen Ebene erscheinen könnte, wenn es sich sozusagen »selbst dazu entschlossen hat«.

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich versucht nachzuzeichnen, wie Marx bei den Bestimmungen dieser »Nicht-Homogenität« anlangte und dann, wie er sie begrifflich ausfüllte. Um die praktische Relevanz dessen zu sehen, brauchen wir nur an die Zeiten in der jüngeren europäischen Geschichte zu denken, in denen »das Kapital« auftrat und seine unwiderstehliche ideologische Gewalt ausübte, indem es (um zwei Bilder aus dem Achtzehnten Brumaire zu benutzen) sich die Maske des Kleinbürgertums aufsetzte bzw. sich in das Gewand des Kleinbürgertums kleidete (der Klasse, die, frei nach Marx, nichts zu verlieren hatte als ihre moralische Rechtschaffenheit).

Diese ideologischen Verschiebungen und Maskierungen sind keineswegs auf die Vergangenheit beschränkt. Man könnte die ökonomische und politische Situation in Großbritannien seit den frühen 60er Jahren als eine sich vertiefende Krise der ökonomischen Strukturen begreifen, die auf der politischen Ebene ihren »natürlichsten« Ausdruck in der Form einer Labour-Regierung annimmt – eine paradoxe Situation, in der die in Krisenzeiten vom Kapital am meisten favorisierte Partei die »Partei der Arbeiterklasse« ist. Das mag aber auch mit dem zu tun haben, was diese Partei tut, wenn sie an der Macht ist: Sie hält sich fast wörtlich an die Beschreibung, die Marx im Achtzehnten Brumaire von der historischen Rolle der Sozialdemokratie gegeben hat: Sie verlangt »demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel (…), nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln« (MEW 8, 141). Wenn die Sozialdemokratie versucht, sowohl dem Kapital zu dienen als auch die Arbeiterklasse zu vertreten, dann geschieht das oft dadurch, dass sie das »Allgemeininteresse« zum Prinzip ihrer Macht erhebt: In der Rhetorik der Sozialdemokratie erscheint dieses Interesse dann in der ideologischen Personifikation »des Konsumenten«. Auf der anderen Seite der parlamentarischen Szene sehen wir die Thatcher-Führung, wie sie sich auf die Macht vorbereitet und einen autoritativen Massenkonsens konstituiert, indem sie versucht, das Kapital in der »ehrwürdigen Verkleidung und mit der erborgten Sprache«, mit den »Namen, Parolen und Kostümen« einer verschwindenden Klassenfraktion zu »vertreten« – denen der kleinen »Ladenbesitzer«. Das mag zwar anachronistisch anmuten, ist aber nichtsdestoweniger effektiv. Für jeden, der versucht, den roten Faden zu finden, der diese widerstreitenden Erscheinungen im Klassenkampf verbindet, kann es wohl kein zwingenderes Argument für die Entwicklung einer Theorie des Klassenkampfes geben. Und zwar einer Theorie, der »Einheit« dieser widersprüchlichen und verschobenen Repräsentationen der Klassenverhältnisse auf verschiedenen Ebenen oder in verschiedenen Instanzen: des Ökonomischen, des Politischen, des Ideologischen. Kurz, es geht um die Notwendigkeit einer marxistischen Theorie der Repräsentation, der Darstellung.

In dem Bemühen, auch den letzten Funken von Reduktionismus aus dem Marxismus zu verbannen, scheint Hirst die These der Nicht-Übertragbarkeit, der Nicht-Homogenität zwischen den ökonomischen und politischen Ebenen des Klassenkampfes in ihr extremes Gegenteil zu verkehren. Daraus folgt Hirsts verwegene Formulierung der »notwendigen Nicht-Entsprechung« – ein Begriff, der sich erheblich von dem der »nicht notwendigen Entsprechung« unterscheidet. Und mir scheint, der Unterschied zwischen beiden ist der zwischen Autonomie und relativer Autonomie. »Relative Autonomie« scheint – im Hinblick auf die von uns untersuchten Texte – die Richtung auszugeben, in der Marx die komplexe Einheit einer Gesellschaftsformation denkt (wobei Komplexität und Einheit gleichermaßen wichtig sind). »Autonomie« oder die »notwendige Nicht-Entsprechung« dagegen, scheint mir aus dem theoretischen Rahmen des Marxismus vollständig herauszufallen. Marx gelangte – so haben die von mir untersuchten Passagen gezeigt – nicht auf irgendeine einfache, reduktionistische oder vereinheitlichende Weise zur Vorstellung der Nicht-Entsprechung. Er entwickelte die Begriffe, mit deren Hilfe wir in den historisch spezifischen Konstellationen die Verschiebungen denken können. Ebenso klar ist, dass Marx – wie auch Althusser (1975) offen anerkannt hat – nach wie vor die ökonomische Struktur als »determinierend« denkt, wenn auch nicht im reduktionistischen Sinne, und dass damit das – neue und originelle – Problem einer »Einheit« aufgeworfen wurde, die sich nicht als eine einfache oder reduktionistische fassen lässt. Diese doppelte Bewegung ist das Thema des Achtzehnten Brumaire.

Dieses Theorem braucht die marxistische »Topographie« von Basis und Überbau. Ohne sie verliert der Marxismus seine Spezifik und wird zu etwas anderem – zu einer Theorie der absoluten Autonomie von allem und jedem. Im Lichte dieser fortdauernden Debatten schien es sinnvoll zu untersuchen, wie Marx selbst das Feld des Essentialismus und der Vereinfachung verlassen hat und wie er gezwungen wurde, Begriffe zu entwickeln, die es ihm – und im Gefolge uns – ermöglichten, die notwendig komplexe Praxis des Klassenkampfes zu begreifen.

Übersetzung: Gabriela Mischkowski

Antonio Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von »Rasse« und Ethnizität

Teil I

Im Folgenden möchte ich näher bestimmen, was ein Studium Gramscis zur Erforschung des Rassismus und zur Entwicklung von neuen Begriffen und Paradigmen auf diesem Feld beitragen kann. In meinen Augen ist Gramscis Werk keine universelle Sozialwissenschaft, mit der man die sozialen Phänomene in Gesellschaften unterschiedlichster historischer Epochen analysieren kann. Sein möglicher Nutzen ist beschränkter, dennoch bleibt sein Beitrag fruchtbar und wichtig. Er bewegt sich im marxistischen Paradigma, aber er hat viele Aspekte dieses theoretischen Gedankengebäudes erneuert, weiterentwickelt und überarbeitet, um es für die gesellschaftlichen Realitäten des 20. Jahrhunderts nutzbarer zu machen. Bevor wir ein inhaltliches Resümee ziehen und die theoretischen Leistungen Gramscis einschätzen können, müssen wir die Frage nach dem Status seines Werkes noch weiter klären.

 

Gramsci war nie ausschließlich ein Theoretiker. Er hat nie berufsmäßig als Wissenschaftler oder Gelehrter gearbeitet. Von Anfang bis Ende blieb er ein politischer Intellektueller und sozialistischer Aktivist in der politischen Szene Italiens. Seine theoretischen Arbeiten hat er aus diesem organischen Engagement für die Gesellschaft seiner Zeit entwickelt. Er wollte nicht einem abstrakten akademischen Zweck dienen, sondern theoretisches Wissen für die Fundierung der politischen Praxis bereitstellen. Alles kommt darauf an, die Ebene, auf der die Begriffe Gramscis operieren, nicht misszuverstehen. Zuallererst sah er sich als jemanden, der im weit gesteckten Rahmen des historischen Materialismus arbeitet, wie er in der Tradition der marxistischen Schule von Marx und Engels und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Leuten wie Lenin, Luxemburg, Trotzki, Togliatti etc. ausgearbeitet wurde. (Ich führe diese Namen an, um Gramscis Bezugsrahmen innerhalb des marxistischen Denkens aufzuzeigen, und nicht etwa, um seine Position zu diesen Personen zu bestimmen. Das wäre ein weit komplexeres Unterfangen.) Das heißt, alle theoretischen Weiterentwicklungen, Verfeinerungen, Überarbeitungen, Fortschritte, weitergehenden Gedanken, neuen Begriffe und eigenen Formulierungen Gramscis operieren innerhalb der weit gefassten Grenzen des Marxismus und müssen so gelesen und verstanden werden. Dennoch war Gramsci nie ein Marxist im doktrinären, orthodoxen oder »religiösen« Sinn. Er wusste, dass der allgemeine Bezugsrahmen der marxschen Theorie ständig erweitert und den von Marx und Engels nicht vorhersehbaren neuen historischen Bedingungen und gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst werden musste.

Gramscis Werk ist also weder eine »Fußnote« zu dem schon fertigen Gebäude des orthodoxen Marxismus noch eine zirkuläre, rituelle Beschwörung längst bekannter »Wahrheiten«. Er praktiziert einen »offenen« Marxismus, der viele Einsichten der marxistischen Theorie auf die neuen Fragen und Entwicklungen hin weiterentwickelt. Er bringt vor allem neue Begriffe ins Spiel, die im klassischen Marxismus nicht enthalten waren, ohne die aber die komplexen gesellschaftlichen Phänomene unserer modernen Welt nicht verstanden werden können.

Gramscis Werk hat nicht den Status einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorie, wie etwa die Arbeiten solcher Gründungsväter, wie Max Weber oder Emile Durkheim. Es existiert auch nirgends in einer solchen erkennbaren, allgemeinen, zusammenhängenden Form. Der Hauptteil seiner theoretischen Ideen findet sich verstreut in Essays und in seinen polemischen Schriften (er war aktiver und produktiver politischer Journalist) und natürlich in der großen Sammlung von Heften, die er, ohne Zugang zu Bibliotheken oder anderen Quellen, während seiner erzwungenen Freizeit in Mussolinis Gefängnis in Turin (1928–33) oder, nach seiner Entlassung (allerdings schon todkrank), in der Formia-Klinik (1934–35) geschrieben hat.1

Gramscis Gedanken sind nicht nur in verschiedenen Schriften verstreut, auch die Texte sind häufig eher fragmentarisch als durchgearbeitet und »fertig«. Er schrieb oft unter den schlechtesten Bedingungen, z.B. unter dem wachsamen Auge des Gefängniszensors, ohne Bücher, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Unter diesen Umständen stellen die Kerkerhefte eine bemerkenswerte intellektuelle Großtat dar. Trotzdem waren die »Kosten« dieser Produktionsweise, bei der er niemals die Möglichkeit hatte, zu den Texten zurückzugehen, um sie nach kritischer Reflexion abzurunden, beträchtlich. Die Hefte bestehen aus Notizen – kürzeren oder längeren –, die aber nicht zu einem ausgearbeiteten Diskurs oder einem kohärenten Text verwoben sind. Manche seiner Hauptargumente finden sich außerhalb des Haupttextes in langen Fußnoten. Einige Passagen sind neu formuliert worden, aber ohne dass es Anhaltspunkte dafür gäbe, welche der vorhandenen Versionen Gramsci für den »definitiven« Text hielt.

Als ob dieser »Fragmentcharakter« uns nicht mit genügend Schwierigkeiten konfrontieren würde, erscheint Gramscis Arbeit noch in einem tieferen Sinn fragmentarisch. Er hat die Theorie immer benutzt, um konkrete, historische Fälle oder politische Fragen zu beleuchten; er hat über umfangreiche Konzepte unter dem Gesichtspunkt nachgedacht, wie sie für konkrete, spezifische Situationen nutzbar gemacht werden könnten. Infolgedessen erscheint Gramscis Werk manchmal zu konkret, zu historischspezifisch, zu »beschreibend« analytisch, zu zeit- und kontextgebunden, sein Bezugsrahmen zu eng begrenzt. Gerade seine inspirierendsten Ideen und Formulierungen sind in dieser typischen Weise kontextgebunden. Um allgemeineren Nutzen daraus zu ziehen, müssen sie vorsichtig aus ihrem spezifischen, historischen Zusammenhang herausgenommen und mit besonderer Sorgfalt und Geduld in neuen Boden verpflanzt werden.

Einige Kritiker haben behauptet, Gramscis Begriffe operierten auf dieser Konkretionsebene, weil er weder die Zeit noch die Lust gehabt hätte, sie auf ein höheres Niveau begrifflicher Allgemeinheit zu heben – auf das erhabene Niveau, auf dem »theoretische Ideen« vermeintlich zu wirken haben. Daher haben Althusser und Poulantzas unabhängig voneinander vorgeschlagen, die nicht ausreichend theoretisierten Texte Gramscis zu »theoretisieren«. Diese Sichtweise scheint mir verfehlt. Wir müssen hier aus epistemologischer Sicht argumentieren, um zu verstehen, dass theoretische Konzeptionen auf sehr verschiedenen Abstraktionsebenen operieren und dass dies oft beabsichtigt ist. Es kommt darauf an, die eine Abstraktionsebene nicht mit der anderen zu verwechseln. Wir setzen uns schwerwiegenden Fehleinschätzungen aus, wenn wir versuchen, Konzepte, die für ein höheres Abstraktionsniveau entwickelt wurden, auf eine niedrige Konkretionsebene zu übertragen, als würden sie dort automatisch dasselbe theoretische Resultat produzieren. Im Allgemeinen waren Gramscis Begriffe explizit für die »unteren« historischen Konkretionsebenen konzipiert. Er zielte nicht auf das »Höhere« und verfehlte sein Ziel. Im Gegenteil: wir müssen diese historisch-konkrete Beschreibungsebene als Form verstehen, in der Gramsci sich auf den Marxismus bezog.

Wie wir eingangs gesagt haben, blieb Gramsci in dem Sinne Marxist, dass er seine Ideen innerhalb der marxistischen Theorie entwickelte. Konzepte wie »kapitalistische Produktionsweise«, »Produktivkräfte« und »Produktionsverhältnisse« waren sein Ausgangspunkt. Diese Begriffe waren von Marx auf der allgemeinsten Abstraktionsebene entwickelt worden. Das heißt, sie erlauben uns, die allgemeinen Prozesse zu begreifen, die die kapitalistische Produktionsweise – reduziert auf ihre grundlegendsten Merkmale – auf jeder Stufe und in jedem Augenblick ihrer Entwicklung organisieren und strukturieren.

Diese Begriffe sind »epochal«, was ihre Reichweite und ihr Bezugssystem angeht. Aber Gramsci wusste, dass ein Theoretiker gezwungen ist, von der Ebene der »Produktionsweise« auf konkretere Bedeutungsebenen herabzusteigen, sobald er diese Begriffe auf spezifische historische Gesellschaftsformationen, auf konkrete Gesellschaften, die sich in einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus befinden, anwenden will. Dieser »Abstieg« erfordert nicht lediglich detailliertere historische Spezifikationen, sondern, wie Marx selbst gesagt hat, die Entwicklung neuer Begriffe und weiterer Determinationsebenen, zusätzlich zu denen, die bloß das Ausbeutungsverhältnis von Kapital und Arbeit betreffen. Denn dieses dient nur dazu, die Besonderheit der »kapitalistischen Produktionsweise« auf ihrem höchsten Abstraktionsniveau zu bestimmen. In der »Einleitung in die Grundrisse« von 1857, in der Marx seine Methode am genauesten ausgearbeitet hat, stellte er sich die »Produktion des Gedankenkonkretums« als eine Schrittfolge analytischer Annäherungen vor, bei der in jedem Schritt zusätzliche Bestimmungen zu den zwangsläufig skelettartigen und abstrakten Begriffen hinzugefügt werden. Er war der Meinung, dass wir das Konkrete nur in solchen aufeinander aufbauenden Abstraktionsebenen denken können. Den Grund sah er darin, dass die konkrete Realität aus vielen »Bestimmungen und Beziehungen« (MEW 13, 631) besteht, denen sich die Abstraktionsebenen, in denen wir zu denken pflegen, nur schrittweise gedanklich annähern können (vgl. zu diesen Fragen Hall 1977).

Wenn Gramsci das allgemeine Feld der entwickelten marxschen Begrifflichkeit (wie es zum Beispiel im »Kapital« vorliegt) verlässt und zu spezifischen historischen Zusammenhängen übergeht, kann er daher nach wie vor innerhalb ihres Bezugssystems arbeiten. Aber wenn er beginnt, im einzelnen, sagen wir die italienische politische Situation der 30er Jahre oder die sich verändernden, komplexer werdenden, demokratischen Klassengesellschaften des »Westens« nach dem Imperialismus und dem Entstehen der Massendemokratie zu untersuchen, oder wenn er die spezifischen Unterschiede zwischen »Östlichen« und »westlichen« Gesellschaftsformationen in Europa, oder den Politiktyp, der den aufkommenden faschistischen Kräften etwas entgegensetzen kann, untersucht, oder wenn er die neuen Politikformen zeigt, die der moderne kapitalistische Staat entwickelt, dann sieht er die Notwendigkeit, die marxschen Begriffe anzupassen, weiter zu entwickeln und sie durch neue, eigenständige zu ergänzen. Erstens, weil Marx seine Anstrengungen darauf konzentrierte, seine Begriffe auf der höchsten Abstraktionsebene (vgl. das »Kapital«) und nicht auf der konkreten historischen Ebene zu entwickeln. (So gibt es z.B. keine wirkliche Analyse der besonderen Strukturen des englischen Staates im 19. Jahrhundert, obwohl es anregende Hinweise gibt.) Zweitens, weil die historischen Bedingungen, unter denen Gramsci schrieb, nicht dieselben waren, wie die, unter denen und für die Marx und Engels geschrieben haben. (Gramsci hatte einen scharfen Sinn für die historischen Bedingungen theoretischer Produktion.) Drittens, weil Gramsci spürte, wie notwendig theoretische Konzepte auf genau der Ebene waren, auf der die theoretische Arbeit von Marx am unvollständigsten und skizzenhaftesten war, z.B was die Analyse spezifischer, historischer Wendepunkte oder die politischen und ideologischen Aspekte angeht – Dimensionen, die der klassische Marxismus bei der Analyse von Gesellschaftsformationen stark vernachlässigt hat.

Diese Gesichtspunkte helfen uns nicht nur, Gramsci innerhalb der marxistischen Tradition zu verorten, sondern sie machen auch deutlich, auf welcher Ebene das Werk Gramscis positiv anzusiedeln ist. In ihm werden vor allem neue theoretische Entwürfe, Ideen und Paradigmen entwickelt, die die politischen und ideologischen Aspekte von Gesellschaftsformationen in der Periode nach 1820 betreffen. Gramsci hat niemals die entscheidenden ökonomischen Verhältnisse, die Grundlage der Gesellschaft, vergessen oder vernachlässigt. Aber zu dieser Analyseebene hat er relativ wenig Eigenständiges beigetragen. Er hat jedoch enorm viel beizutragen zu den darauf aufbauenden, häufig vernachlässigten Bereichen wie Politik, Ideologie und Staat: der Charakter verschiedener Typen politischer Herrschaft, die Bedeutung der Kultur und national populärer Fragen sowie die Rolle der Zivilgesellschaft in dem sich verschiebenden Gleichgewicht unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte waren Gegenstand seiner Untersuchung. Er ist einer der ersten schöpferischen, unabhängigen, marxistischen Theoretiker der historischen Bedingungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend geworden sind.

Dennoch kann Gramscis eigenständiger Beitrag, insbesondere was den Rassismus betrifft, nicht ohne weiteres als Ganzes aus dem Kontext seiner Arbeit herausgerissen und übertragen werden. Gramsci hat nicht darüber geschrieben, was Rassismus, Ethnizität und »Rasse« heute bedeuten und wie sie sich heute darstellen. Genauso wenig hat er eine tiefgreifende Analyse der kolonialen Erfahrungen mit dem Imperialismus vorgelegt, aus denen sich so viele Erfahrungen und Verhältnisse entwickelt haben, die für den Rassismus in der modernen Welt charakteristisch sind. Er beschäftigt sich vor allem mit seinem Heimatland Italien und darüber hinaus mit den Problemen des Aufbaus des Sozialismus im westlichen und östlichen Europa, mit dem Scheitern der Revolution in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Westeuropas, mit der Bedrohung durch das Aufkommen des Faschismus in der Periode zwischen den Kriegen und mit der Rolle der Partei bei der Gewinnung von Hegemonie. Oberflächlich gesehen mag dies so erscheinen, als gehöre Gramsci zur erlesenen Zunft der sogenannten »westlichen Marxisten«, wie Perry Anderson sie definiert hat, die zu den großen Problemen in der nicht-europäischen Welt oder zur »ungleichen Entwicklung« zwischen den imperialistischen, herrschenden Nationen des kapitalistischen »Zentrums« und den weltweit kolonisierten Ländern der Peripherie nichts Wesentliches zu sagen haben, weil sie befangen sind in ihrer Beschäftigung mit den »entwickelteren« Gesellschaften.

 

Liest man Gramsci in dieser Weise, macht man den Fehler, ihn zu buchstabengetreu zu lesen. Doch genau so liest ihn – mit einigen Abstrichen – Anderson. Wenn Gramsci auch nicht direkt über Rassismus schreibt, können uns seine theoretischen Entwürfe bei unseren Versuchen, die Adäquatheit bestehender theoretischer Paradigmen in diesem Bereich zu durchdenken, doch nützlich sein. Auch hatten seine eigenen Erfahrungen und seine persönliche Entwicklung ebenso wie seine Arbeitsschwerpunkte viel mehr mit diesen Fragen zu tun, als es auf den ersten, oberflächlichen Blick scheinen mag. Gramsci wurde 1891 in Sardinien geboren. Sardinien stand in einer »kolonialen« Beziehung zum italienischen Festland. Seinen ersten Kontakt mit radikalen, sozialistischen Ideen hatte er im Zusammenhang mit dem wachsenden sardischen Nationalismus, der von den Truppen des italienischen Festlandes brutal unterdrückt wurde. Obwohl er nach seinem Umzug nach Turin und durch sein Engagement in der Turiner Arbeiterklasse seinen frühen »Nationalismus« ablegte, verlor er doch niemals seine in den ersten Jahren gewonnene Anteilnahme an den Problemen der Landarbeiter und sein Interesse für die komplexe Dialektik von Klassenlage und regionalem Faktor (vgl. Nowell-Smith/Hoare 1971).

Gramsci war sich der scharfen Trennungslinie bewusst, die den sich industrialisierenden und modernisierenden »Norden« Italiens vom ländlichen, unterentwickelten und abhängigen Süden trennte. Er trug sehr viel zu der als »Süditalienische Frage« bekannt gewordenen Debatte bei. Es ist ziemlich sicher, dass er bei seiner Ankunft in Turin die sogenannte »Südländer-Position« einnahm. Zeit seines Lebens blieb er an den Beziehungen der Ungleichheit und Abhängigkeit zwischen »Norden« und »Süden« interessiert. Er beobachtete die komplexen Beziehungen zwischen Stadt und Land, Bauern und Proletariat, Klientelsystem und offenem Arbeitsmarkt, feudalen und industriellen gesellschaftlichen Strukturen. Er kannte das Ausmaß, in dem die von den Klassenverhältnissen diktierten Spaltungen mit den quer dazu liegenden Beziehungen regionaler, kultureller und nationaler Unterschiede durchsetzt waren.

Als Gramsci, einer der Gründer der italienischen kommunistischen Partei, 1923 den Titel Unita für die offizielle Parteizeitung vorschlug, war sein Argument: »Weil wir der Frage des Südens besondere Aufmerksamkeit schenken müssen.« In den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg vertiefte er sich in jeden Aspekt des politischen Lebens der Turiner Arbeiterklasse. Dadurch erwarb er intime Kenntnisse über eine der am weitesten entwickelten Formationen des industriellen »Fabrik«-Proletariats in Europa. Er war ununterbrochen innerhalb dieses fortgeschrittenen Sektors der modernen Arbeiterklasse aktiv: zuerst als politischer Journalist in der Redaktion der Wochenzeitung der sozialistischen Partei »Il Grido Del Popolo« (Der Schrei des Volkes), dann als Aktivist während der Welle von Unruhen (den sogenannten »roten Jahren«) in Turin bei den Fabrikbesetzungen und der Organisierung von Arbeiterräten, schließlich, bis zur Gründung der Kommunistischen Partei Italiens, als Herausgeber der Zeitschrift »Ordine Nuovo« (Die neue Ordnung). Darüber hinaus dachte er weiterhin über Strategien und Formen politischer Aktion und Organisation nach, die die verschiedenen Kämpfe vereinheitlichen könnten. Er verfolgte die Frage, welche Basis sich in den vielfältigen Bündnissen und Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten finden ließe, auf der ein spezifisch italienischer, moderner Staat aufgebaut werden könnte. Die Beschäftigung mit Fragen der regionalen Besonderheiten, der sozialen Bündnisse und der sozialen Fundamente des Staates sind unmittelbare Anknüpfungspunkte für Problemstellungen, die wir heute mit dem Stichwort »Nord-Süd«- oder »Ost-West«-Beziehung bezeichnen würden.

Die frühen 20er Jahre begannen für Gramsci mit der schwierigen Aufgabe, eine Theorie neuer Parteiformen zu entwickeln und einen Entwicklungsweg für die besonderen nationalen Bedingungen Italiens zu finden, in Opposition zu dem Druck, der von der sowjetisch dominierten Komintern ausging. Daraus ergab sich schließlich der wichtige Beitrag, den die italienische KP zur Theoretisierung der »nationalen Besonderheiten« geleistet hat. Diese Besonderheiten bestanden in den sehr unterschiedlichen Bedingungen, unter denen sich die westlichen und östlichen Gesellschaften historisch entwickelt hatten. Bis zu seiner Verhaftung und Einkerkerung durch die Schergen Mussolinis 1929 richtete sich Gramscis Augenmerk vorrangig auf die wachsende faschistische Bedrohung, und sie bestimmte daher auch den Inhalt seiner Arbeiten. (Diese und andere biographische Einzelheiten sind in der ausgezeichneten Einführung in die Prison Notebooks von Nowell-Smith/Hoare 1971 nachzulesen.) Obwohl Gramsci also nicht direkt über das Problem des Rassismus geschrieben hat, gibt es bedeutsamere Verbindungslinien zwischen den zentralen Themen seines Werkes und zeitgenössischen Fragestellungen als ein erster, flüchtiger Blick auf seine Schriften nahelegen würde. Diesen Verbindungslinien und ihrer Produktivität bei der Suche nach angemesseneren Begriffsbildungen in unserem Forschungsfeld wenden wir uns jetzt zu. Ich werde versuchen, einige der zentralen Konzeptionen Gramscis, die in diese Richtung weisen, zu erläutern.

Teil II

Ich beginne mit einem Thema, das in gewisser Weise, wenn man chronologisch an Gramscis Werk herangeht, mehr gegen Ende seines Lebens auftaucht: Mit seinem unerbittlichen Angriff auf jede Spur von Ökonomismus und Reduktionismus im klassischen Marxismus. Wenn ich von Ökonomismus spreche, meine ich nicht – wie ich hoffentlich schon deutlich gemacht habe –, dass man die wichtige Rolle vernachlässigen soll, die die ökonomische Grundlage einer Gesellschaftsordnung spielt, oder dass die Bedeutung, die den ökonomischen Verhältnissen bei der Formung und Strukturierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens zukommt, unterschätzt werden sollte. Ich meine einen bestimmten theoretischen Ansatz, der dazu neigt, in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft den einzigen determinierenden Faktor zu sehen. Alle anderen Dimensionen der Gesellschaftsformation werden als reine Spiegelbilder des »Ökonomischen« auf einer anderen Artikulationsebene gesehen, die selbst keine strukturierende Kraft hat. Um es vereinfacht zu sagen, reduziert dieser Ansatz alle Phänomene einer Gesellschaftsformation auf die ökonomische Ebene und denkt alle Typen sozialer Beziehungen als direkte und unmittelbare Entsprechungen des Ökonomischen. Das lässt die in mancher Hinsicht problematische Engels’sche Formulierung, das Ökonomische sei »in letzter Instanz bestimmend«, auf das reduktionistische Prinzip zusammenschrumpfen, das Ökonomische bestimme unmittelbar in der ersten, mittleren und letzten Instanz. In diesem Sinne ist der »Ökonomismus« theoretischer Reduktionismus. Er simplifiziert die Strukturen einer Gesellschaftsformation, indem er ihre komplexen, horizontalen und vertikalen Beziehungen auf einen einzigen Determinationszusammenhang reduziert. Das Konzept der »Determiniertheit« selbst (das bei Marx eine sehr komplexe Idee ist) wird auf eine bloß mechanische Funktion reduziert. Sämtliche Vermittlungsstufen zwischen den verschiedenen Ebenen einer Gesellschaft werden eingeebnet. Gesellschaftsformationen werden als einfache »expressive Totalität« (um mit Althusser zu reden) gedacht, in der jede Artikulationsebene der anderen entspricht und deren Struktur von Anfang bis Ende transparent ist. Ich zögere nicht zu sagen, dass dies eine gigantische Banalisierung und Simplifizierung des marxschen Werks ist – genau die Art von Simplifizierung, die einst Marx dazu verzweifelt sagen ließ: »Wenn das Marxismus ist, bin ich kein Marxist.« Dennoch finden sich in den marxschen Schriften sicherlich Anhaltspunkte, die in diese Richtung weisen. Der ökonomistische Ansatz ist der orthodoxen Version des Marxismus sehr nahe, die zur Zeit der Zweiten Internationale kanonisiert wurde und die sogar oft noch heute für die reine Lehre des klassischen Marxismus gehalten wird. Eine solche Theorie der Gesellschaftsformation und der Beziehungen zwischen den verschiedenen Artikulationsebenen lässt (das sollte klar sein) wenig oder gar keinen Raum, um politische Dimensionen zu denken, geschweige denn, dass damit andere Formen gesellschaftlicher Differenzierung oder Widersprüche gedacht werden könnten, wie sie im Zusammenhang mit »Rasse«, Ethnizität, Nationalität und Geschlecht entstehen.

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