Steuerlose Städte: Der Club

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Steuerlose Städte: Der Club
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Inhaltsverzeichnis

  VORWORT von Joachim Sartorius: »So viele Essenzen wie möglich« Zu Stratis Tsirkas und seiner Trilogie Steuerlose Städte

  ERSTES KAPITEL

  ZWEITES KAPITEL

  DRITTES KAPITEL

  VIERTES KAPITEL

  FÜNFTES KAPITEL

  SECHSTES KAPITEL

  SIEBTES KAPITEL

  ACHTES KAPITEL

  NEUNTES KAPITEL

  ZEHNTES KAPITEL

  ELFTES KAPITEL

  ZWÖLFTES KAPITEL

  DREIZEHNTES KAPITEL

  VIERZEHNTES KAPITEL

  FÜNFZEHNTES KAPITEL

  SECHZEHNTES KAPITEL

  SIEBZEHNTES KAPITEL

  ACHTZEHNTES KAPITEL

  NEUNZEHNTES KAPITEL

  ZWANZIGSTES KAPITEL

  ANHANG: Der historische Hintergrund der Trilogie von Stratis Tsirkas

  ANHANG: Anmerkungen/Glossar

Stratis Tsirkas

Steuerlose Städte 1

Der Club

Roman

Übersetzung aus dem Griechischen von Gerhard Blümlein

Mit einem Vorwort von Joachim Sartorius

und einem Anhang mit historischen Erläuterungen,

Anmerkungen und Glossar


Die Übersetzung der Trilogie wurde gefördert durch die A und A Kulturstiftung.

Foto: Mario Pontero

Originaltitel: Ακυβέρνητες Πολιτείες: Η λέσχη (2005 [1961]) Kedros-Verlag, Athen

Aus dem Griechischen übersetzt von Gerhard Blümlein

Lektorat: Andrea Schellinger

© 2015 Edition Romiosini/CeMoG, Freie Universität Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

Vertrieb und Gesamtherstellung: Epubli (www.epubli.de)

Satz und E-Book-Umsetzung: Kostas Kosmas, Bart Soethaert, Nikos Kaissas

Umschlaggestaltung: Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme

E-Book ISBN 978-3-946142-04-1

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978-3-946142-01-0

Made in Germany

Online-Bibliothek der Edition Romiosini:

www.edition-romiosini.de

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort von Joachim Sartorius

Steuerlose Städte 1 - Der Club

Historischer Hintergrund

Anmerkungen/Glossar


Stratis Tsirkas

(eigentlicher Name: Jannis Chatziandreas) studierte Wirtschaft in Kairo und arbeitete ab 1929 als Buchhalter in Baumwollfabriken in Oberägypten, später als Chef einer Fabrik für Lederverarbeitung in Alexandria, wo er Konstantinos Kavafis kennenlernte. Er gehörte der kommunistischen Bewegung an und nahm aktiv teil am antifaschistischen Widerstand der griechischen Linken von Ägypten. 1963 ließ er sich in Athen nieder und starb dort 1980. Sein Hauptwerk, die Trilogie Steuerlose Städte, verfasste er teils in Alexandria, teils in Athen und beendete sie im August 1965.

»So viele Essenzen wie möglich« Zu Stratis Tsirkas und seiner Trilogie Steuerlose Städte

Ein Vorwort von Joachim Sartorius

1

Die griechische Gemeinde Ägyptens hat im 20. Jahrhundert zwei große Schriftsteller hervorgebracht, den Dichter Konstantinos Kavafis und den Romanautor Stratis Tsirkas. Tsirkas war neunzehn Jahre alt, ein junger Mann von gewinnendem Aussehen, wenn man den Fotografien traut, als er Kavafis in Alexandria kennenlernte. Geboren 1911, aufgewachsen in Kairo, verbrachte Tsirkas mit seiner Familie die Sommer in Alexandria, bis er 1939 ganz nach Alexandria zog, um die Geschäfte der Gerberei »Halkousis« zu führen. 1930, in dem Jahr, in dem er Kavafis zum ersten Mal traf, war dieser schon ein alter Dichter, unter den literati der Hafenstadt berühmt, ansonsten eher ein Geheimtipp. Seine Gedichte zirkulierten auf losen Blättern bei seinen Freunden und Bewunderern. Erst 1935 erschien in Athen die erste gebundene Ausgabe seiner Gedichte, und es sollte noch einmal drei Jahrzehnte dauern, bis seine Poesie einen Siegeszug rund um die Welt antrat. Stratis Tsirkas hatte 1930 erste Gedichte veröffentlicht und bewunderte Kavafis. Er versuchte, so oft wie möglich von Kairo nach Alexandria zu kommen, um ihn zu sehen. Zwischen beiden Männern entstand eine Freundschaft, die bis zum Tod des Meisters im Jahre 1933 anhalten sollte. Im Kavafis-Museum in Alexandria, der ehemaligen Wohnung des Dichters in der Sharm-el-Sheikh-Straße 4, ist eines der fünf Zimmer Stratis Tsirkas gewidmet, mit Fotografien, Autographen und den Erstausgaben seiner Bücher, darunter dem großen Essay »Kavafis und seine Zeit« (1958) und seinem Hauptwerk, der Romantrilogie Steuerlose Städte, die zwischen 1960 und 1965 in Athen erschien und vor dem Hintergrund griechischer Bedrängnisse im Nahen Osten während des zweiten Weltkriegs die großen Fragen nach der Verantwortung und der Freiheit des Intellektuellen in Zeiten ideologischer Umbrüche stellt.

1971 erhielt diese Trilogie in Frankreich den »Prix du meilleur livre étranger«. 1974 erschien sie bei Alfred A. Knopf, einem der angesehensten literarischen Verlage der USA, unter begeistertem Zuspruch der Kritik. In Griechenland gehört das Werk inzwischen zum Literaturkanon der Moderne. Bei uns hat es aus unerfindlichen Gründen ein halbes Jahrhundert gedauert, bis dieser gewaltige Roman nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt.

2

Die steuerlosen Städte dieser mitreißenden Trilogie sind Jerusalem, Kairo und Alexandria. Sie bilden jeweils den Hintergrund der drei Romane Der Club (Jerusalem), Ariagni (Kairo) und Die Fledermaus (Alexandria). Das in der Trilogie entfesselte Drama umfasst die Menschen und die Politik, die Leidenschaften und die Intrigen eines Nahen Ostens, der durch den Zweiten Weltkrieg in Flammen steht – vom Sommer 1942, knapp ein Jahr nach der Kapitulation Griechenlands und der Besetzung Athens durch die deutsche Wehrmacht, bis zur Vernichtung der griechischen antifaschistischen Brigaden und Marineeinheiten auf Geheiß der Briten im April 1944.

Es ist die Saga von drei Städten, die steuerlos dem Chaos entgegentreiben, ihrer historischen Bestimmung. Es ist die Geschichte von Griechen, Engländern, Flüchtlingen aus Mittel- und Osteuropa, palästinensischen Juden und ägyptischen Arabern, die zu Verschwörern, Helden, Feiglingen, Spitzeln, Idealisten werden, oder sich auch nur über Wasser halten, während ihr Leben durch die politischen und kriegerischen Umstürze total umgekrempelt wird.

Die zentrale Figur ist Manos Simonidis – ein Dichter und Intellektueller, Held des griechischen Widerstandes gegen die italienische Invasion, dann Deserteur, der sich nach der Kapitulation der illegal operierenden linken Bewegung im Ausland anschließt und an Einsätzen gegen griechische Faschisten und Royalisten teilnimmt. Dieses Engagement führt ihn von Stadt zu Stadt, in geheime Unterschlüpfe, in endlose Debatten mit seinen Genossen um den ›richtigen‹ politischen Kurs und gleichzeitig in ein Wechselbad gefährlicher, schwankender, auch erotischer Beziehungen: mit Anna Feldmann, einer deutschen Jüdin, die in Jerusalem eine schäbige Pension betreibt, in der die Geschichte beginnt (und in der Manos unter falschem Namen in einer Dachmansarde lebt); mit Emmy Bobretzberg, der Frau eines früheren österreichischen Ministers, die schön, lüstern, ihren Trieben unterworfen und zugleich von Angst erfüllt ist, dass ihr Gatte als Strohmann benutzt und beschädigt wird; mit Robby, einem homosexuellen Gelehrten und hellenophilen britischen Agenten; mit Fanis, dem Sekretär der kommunistischen Partei Griechenlands in Ägypten, Humanist und Untergrundkämpfer; mit Michelle Rapescu, der Witwe eines von der faschistischen »Eisernen Garde« getöteten Rumänen, einer ehemaligen Prostituierten und nun Geheimagentin im Dienste der »Freien »Franzosen«; mit dem ›Wicht‹, einem selbstgerechten und zynischen Dogmatiker − zugleich Vorgesetzter von Manos in der Parteihierarchie und dessen Feind und Widersacher. Wie ein Hexenmeister führt Stratis Tsirkas mehr als vierzig Einzelschicksale zusammen, von der Griechin Ariagni mitten im Labyrinth der Altstadt von Kairo zu dem arabischen Knaben Naboulion, von der liebeshungrigen Jüdin Allegra zu Nancy, Lady Campbell, die Manos liebt und für die Untergrundzeitung der griechischen Kommunisten zu arbeiten beginnt. Tsirkas mischt Zeiten und Perspektiven und wechselt meisterhaft die Erzählform, mal Ich-Erzählung, mal innerer Monolog, mal Bericht in der dritten Person. Viele seiner Figuren halten der Gewalt, dem Krieg, dem Verhängnis stand, andere sind nur noch Überlebende oder Untergehende.

 

Dem dritten Buch Die Fledermaus stellt Tsirkas ein Zitat von Friedrich Engels als Motto voran: »es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer als Ganzes bewusstlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder Einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.« Diese Stelle aus einem Brief von Engels an J. Bloch vom 21. September 1890 liest sich wie ein abstraktes Résumé der Trilogie. Trotz allem heroischen Engagement, trotz dem glühenden Glauben an ein freies Griechenland und eine bessere Zukunft regiert letztlich blindes Schicksal. Das Ende des Buches ist trostlos. Fanis wird ermordet, Manos Simonidis von einer Handgranate zerfetzt, der ›Wicht‹ nach Gefangenschaft erschossen. Die griechischen Kämpfer werden von den Briten in ›Käfige‹ eingesperrt und interniert. Aber vor diesem bitteren Ende liegt eine unendliche Geschichte – die vielen klandestinen Missionen von Manos, seine schwere Kopfverwundung an der Front bei Bengasi während der Verfolgung des Afrika-Corps von Rommel durch die 8. Britische Armee, Krankenhausaufenthalte in Tobruk und Alexandria, Unterschlupf in Kairo bei Ariagni, schließlich der historische Marsch der griechischen Brigaden von Aleppo durch die syrische Wüste bis an die Ufer des Euphrat. Immer wenn sich das Netz von Intrige und Verschwörung enger zusammenzieht – wenn Griechen Griechen bekämpfen, rivalisierende linke Gruppierungen sich gegenseitig unterminieren, wenn die Briten versuchen, alles zu manipulieren und alle gegen alle auszuspielen – befindet sich Manos im Zentrum des klassischen Dilemmas des Intellektuellen im 20. Jahrhundert: zu wählen zwischen den Impulsen des Humanismus und dem brutalen Diktat der ideologischen Orthodoxie. Manos ist nicht im Reinen mit sich selbst. Der ›Wicht‹ wirft ihm »Schwankungen im Kampfgeist, Intellektuellensehnsüchte, kleinbürgerliche Vorurteile, Subjektivismus« vor. Von den vielen in der Trilogie verstreuten Porträts von Manos ist vielleicht das eindringlichste und treffendste das von Anna, der Betreiberin der Pension in Jerusalem, erzählt als Bewusstseinsstrom: »Er hat einige der acht Gaben die unserem Freund Mister Eliot zufolge den Humanisten ausmachen. Er zieht den gesunden Menschenverstand der Logik vor. Tolerant keineswegs fanatisch auch nicht bigott oder borniert. (...) Und noch etwas was Mister Eliot vielleicht vergessen hat. Gerechtigkeitssinn in schönster Ausprägung. Barmherzigkeit Mitleid.« Manos ist, wie der Autor, ein unorthodoxer Kommunist. Verzweifelt versucht er, in den ideologischen Richtungskämpfen und den kriegerischen Auseinandersetzungen Verantwortung zu übernehmen und doch er selbst zu bleiben.

Es ist eine der großen Künste von Tsirkas, zu zeigen, was Krieg und Gewalt in den Menschen anrichten. Beschattet, denunziert, von den jeweiligen Gegnern als Pfand oder Spielball benutzt, ändern sich die Menschen. Tsirkas zeigt, dass Zeiten des Krieges alles freisetzen können – Instinkte, doppelte Loyalitäten, Fintenreichtum, Hang zum Denunzieren. Auch die privatesten Beziehungen werden vom Kampf beeinflusst, Umgangsformen nur noch mühsam aufrechterhalten. So ist fast jede der Figuren von Tsirkas in komplizierte Loyalitätsverhältnisse verstrickt, befindet sich in einem Schlamassel. »Und die Welt ist bisweilen ein Korb voll lebender Krabben. Wir beißen unseren Nächsten, der beißt uns auch, und in diesem Durcheinander beißen wir uns selbst.«, sagt Anna, die Wirtin, zu Manos und will ihm damit ein Bild von ihrer Pension und ihren Gästen vermitteln, es ist zugleich ein Bild von dem, was in Jerusalem 1942 vor sich geht. In einem Gespräch mit der von ihm angebeteten Emmy Bobretzberg vergleicht Manos Jerusalem und das Spiel der Geheimdienste mit dem Turm von Babel: »[…] so ein Wirrwarr. Alle spionieren. Alle verraten.« Und an anderer Stelle heißt es: »So viele Menschen, Wracks des Sturms, der über die Welt hinwegfegt; statt dass die Not sie vereint, wirkt sie trennend.«


3

Wenn Stratis Tsirkas dem dritten Teil seiner Trilogie den ›Hinweis‹ vorausstellt, sie sei »kein historischer Roman im engeren Sinn«, so stimmt dies insofern, als sein Werk weit mehr ist als ein großer historischer oder politischer Roman. Das gewiss auch, aber die Trilogie besticht ebenso sehr durch die dichte Beschreibung des Nahen Ostens, durch die genaue Erfassung und Vergegenwärtigung von Städten und Landschaften und ihrer Bewohner. Ganz im Gegensatz zu Lawrence Durrell und auch zu E. M. Forster schreibt Tsirkas ohne jeden ›Orientalismus‹. Er hat ein hoch entwickeltes Sensorium für die Ägypter und einen akuten Sinn für all das, was das östliche Mittelmeer ausmacht: Licht, Farben, Gerüche, die Architektur der alten Städte, die selbstverständliche Gastfreundschaft in den Cafés, auch arabisches Laisser-faire, Bedächtigkeit im Vergleich zur ›griechischen Hektik‹. Als Manos sich mit zwei Genossen zu einem geheimen Unterschlupf am Rande von Alexandria begibt, nimmt er, während die beiden sich mit dem verrosteten Schloss abmühen, die Umgebung wahr: »Der Wind brachte von der nassen Erde den Geruch von Zuckerrohr und Zimt, süßlich und aufreizend. Weit entfernt brannten Lichter, Lux-Lampen, und waren Stimmen und Instrumente zu hören. Irgendeine Feier, Hochzeit oder ein Beschneidungsfest. Wir waren am Ufer zu einer anderen Welt. Jenseits der Bahnlinie lag das ländliche Ägypten, das unerschütterliche, das sich herzlich wenig um unseren Krieg kümmerte.« Tsirkas dreht hier die Perspektive um, der Betrachter wird zum Fluchtpunkt. Ein anderes, uraltes, stoisches Ägypten, das mit europäischen Wahrnehmungsmustern nicht zu verstehen ist, taucht vor uns auf und zugleich erahnen wir bei Manos eine Freigebigkeit des Geistes, welche die Selbstaufopferung als unerheblich erkennen wird und die Vergeblichkeit aller militärischen Aktionen voraussieht. An anderer Stelle spricht ein alter griechischer Fischer von den Beduinen: »Sie sagen, ihr Griechen, Engländer, Juden, Fellachen und Syrer seid alle nur vorübergehend hier. Uns bekümmert nicht, was in euren Besitzurkunden steht. Wir sind das Land, und wir haben es seit Urzeiten auf unsere Sippschaften verteilt.« Und Ariagni, nach einem Gespräch mit ihrem Mann über die Spaltung von Einheimischen und Europäern in den Gewerkschaften, warnt davor, die Ägypter schlecht zu behandeln, und spricht die prophetischen Worte: »Warum grabt ihr einen Graben und sondert euch ab? Wohin wird euch so eine Denkweise noch bringen? [...] Meine Augen sollen das nicht sehen. Der Tag wird kommen. Ich sehe, wie sich Leute an den Kais drängen, um sie herum bergehoch die Koffer und die Bündel und die Matratzen.«

Ariagni ahnt im Jahre 1942 den Exodus der Europäer voraus, der ab 1961 – im Gefolge der Nationalisierung der Industrie durch Nasser – massiv einsetzt. Tsirkas legt in den Mund der Griechin Ariagni die eigenen späteren Erfahrungen. Nach der Verstaatlichung der Gerberei wird er 1963 zur Emigration gezwungen, muss Alexandria, die Stadt, in der er vierundzwanzig Jahre ohne Unterbrechung gelebt hatte, verlassen und verbringt die letzten sechzehn Jahre seines Lebens in Athen. Athen ist für ihn Exil, er vermisst Ägypten. Er beschwört meisterhaft in den Redewendungen seiner Protagonisten die Mehrsprachigkeit der Levante. Durch kleine sprachliche Besonderheiten lässt er den Kosmopolitismus ›seiner‹ Stadt aufscheinen, ja aufklingen. Und er schiebt in die Handlungskapitel des dritten Bandes, also des Romans, der in Alexandria spielt, immer wieder Rückblenden, funkelnde Erinnerungskapitel, in denen Manos seine Kindheit am Meer, vor den Toren Alexandrias, bei seinem Großvater heraufholt. Es sind die unbeschwertesten Passagen der ganzen Trilogie, durchtränkt von Lichtern, Gerüchen, Sonnen, ersten Liebschaften, erstem Kummer. Eindringlich sind auch die Porträts der anderen Städte seiner Trilogie, zum Beispiel Jerusalem 1942 nach dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge aus Ägypten: »Leute jeden Schlages: Männer in Samtanzügen, gepudert tänzelnd, Mädchen mit grellen Halstüchern und eng anliegenden Hosen oder alte Frauen mit Pelzen im Hochsommer, um den Hals bunte Terrakottaketten, besetzten von morgens bis spät abends die kleinen Tische im Alaska und Astoria […]. Später konnte man sie in der großen Halle des King David Hotels finden, wo sie Whisky tranken und tanzten, auf Tuchfühlung mit den höheren Offizieren der Alliierten. Reiche Levantinerinnen fuhren in riesigen Limousinen vor und hatten dafür Sorge getragen, dass ihr Liebhaber am Steuer saß statt eines Fahrers. Paare, die ihre Verbindung lange verborgen gehalten hatten, zeigten diese nun offen vor, Freundeskreise tauschten endgültig und offiziell ihre Frauen oder Männer untereinander, [...]. Niemals hätte man geglaubt, dass so viele und so exaltierte Menschen eine Rechnung mit Hitler zu begleichen hatten.«

Diese Passage rückt Tsirkas in die Nähe der farbenreichen, zugleich opulenten und knappen Schilderungen Odessas in den Erzählungen Isaak Babels, der Porträts persischer Städte in den Reisebüchern Nicolas Bouviers und natürlich der immer leicht aufgeregten Schilderung Alexandrias in Lawrence Durrells gleichnamigen »Quartett«. Als Justine, der erste Band der Tetralogie, 1957 in London erschien, hatte Tsirkas sein Romanprojekt schon im Kopf und die Menschen in der Jerusalemer Pension skizziert. Er besorgte sich die griechische Ausgabe der Justine und machte nach Lektüre die folgende Notiz: »Das sind meine Themen. Durrell hat sie mir geklaut. Ich muss sofort mit meinem Roman beginnen. Werde es ihm zeigen.«

Das Spezifische der Annäherung Tsirkas’ an seine drei Städte ist, dass er diese nahöstliche Welt nicht, wie Durrell, mit den ästhetischen Kriterien des Westens beschreibt. Das mag ganz einfach damit zusammenhängen, dass er ein ägyptischer Grieche ist, ein später Nachfahre der Ptolemäer, und in Kairo und Alexandria den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Mit dieser Erfahrung schafft er eine bis in Sprache und Syntax hineinwirkende kulturelle, geographische und zeitliche Vertrautheit, die für den Leser fast physisch nachvollziehbar ist. Beispiele dafür finden sich überall in der Trilogie. In der Mitte von Ariagni, dem zweiten der drei Bücher und damit an zentraler Stelle der gesamten Trilogie, verirrt sich Manos Simonidis in einem Elendsviertel in der Altstadt von Kairo, wo sich das heruntergekommene Haus befindet, in dem Ariagni mit ihrem Mann wohnt und in dem sie den am Kopf schwer verletzten Manos aufgenommen hat. Nach einem Rendezvous mit Michelle Rapescu verirrt sich Manos auf der Suche nach diesem Haus in den engen Pfaden und Sackgassen des Viertels: »Ich kam zu einem runden »Platz«, nicht größer als ein geöffneter Fallschirm. In der Mitte stand, unerwartet, ein kurzer Stumpf einer Palme, kopflos. Aber die Häuser drum herum drängten sich eng aneinander und ließen keine Passage. [...]. Die Sackgasse. Ich kehrte um. [...]. Begab mich nach Westen und ramponierte meine Jacke an den Wänden. Um durch den Spalt zu kommen. Richtig. Der kleine Weg verlief gerade und bog später ab, später wieder.[...]. Ich drehte mich um und nahm die anschließende Passage. Ich kam bei derselben Wand heraus. Wieder zurück. Die Gasse war kaum drei Finger breiter als die anderen, der Erdboden ebenso uneben, nur sorgfältiger gekehrt. So lange war ich umhergeirrt, aber jetzt hatte ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.« Aber Manos täuscht sich, er ist nicht auf dem richtigen Weg, und er findet aus dem Labyrinth nicht heraus, unfähig, dessen Anlage und Struktur zu erkennen. Doch nur für den Fremden ist »das Labyrinth« ein Labyrinth, für die europäische Imagination, nicht für die Araber, die darin wohnen, und auch nicht für diejenigen wie Ariagni, die in Kairo leben und in diesem Viertel ihr Zuhause haben. So ist es schließlich auch Ariagni, die Reinste aus Naxos, auch Ariadne genannt, jene mit dem Faden, oder die Shakespearesche Ariachne, die Manos herausführen wird: »An jenem Nachmittag holte mich Ariagni aus dem Labyrinth. Der akustische Telegraf des Viertels war wie das Tam-tam des afrikanischen Dschungels und informierte sie, dass ihr Gast, der mit der Narbe, seit Stunden versucht, sich durch die Gassen zu kämpfen.« Durch die Kunst von Stratis Tsirkas entfaltet das Labyrinth eine beklemmende physische Präsenz und wird zugleich zum Sinnbild für die Irrungen und Wirrungen von Manos, für seine emotionalen und politischen Unzulänglichkeiten.

 

4

Tsirkas war selbst politischer Kämpfer und Aktivist. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen hat er einen großen politischen Roman geschrieben. Intimer Kenner der Schauplätze, breitet er vor uns das östliche Mittelmeer »mit so vielen erregenden Essenzen wie möglich« (Kavafis) aus. Zugleich war Tsirkas ein Intellektueller, bewandert in Literatur und Dichtung, wie sein Held Manos. Auf Dichter, besonders auf Hölderlin, Gongora, Baudelaire, Kavafis, T.S. Eliot (jenen Mr. Eliot in Annas Porträt von Manos), wird immer wieder angespielt, Manos zitiert sie. Zu »den vielen erregenden Essenzen« gehört die Liebe in allen ihren Formen und der Furor der Begierde. Tsirkas’ politischer, historischer, levantinischer Roman ist auch ein großer erotischer Roman. Ein langer Zug von Frauen – Ehefrauen und Ehebrecherinnen, Müßiggängerinnen, Agentinnen, Prostituierte – gibt dem griechischen Kampf im Untergrund, den britischen Militäraktionen und den diplomatischen Winkelzügen das Geleit. Manos ist − neben allem anderen − ›un homme couvert de femmes‹. »War es der Krieg oder war es mein Schicksal, immer auf Frauen zu stoßen, die keinen Widerstand leisteten. Michelle, Nina, Allegra. Und Emmy. Ach, Emmy«, spricht Manos zu sich selbst, am Ufer des Nils, auf dem Weg zu dem Restaurant »Die Tauben«, wo er Fanis und den Genossen Garelas treffen wird. Ihre politischen Gespräche werden unterbrochen. Ein Boot legt an, Musiker, eine Tänzerin und die Leute vom Boot, »gut gekleidet, mit Stehkragen, Fezen, Kneifern«, begeben sich ans Ufer. Einer zieht seinen Schlips aus und gibt ihn der Künstlerin. Sie bindet ihn fest um ihr Becken und beginnt zu tanzen: »Eine Wellenbewegung ging durch ihren Körper von den Fersen bis zum Kopf; als die Bewegung nach unten ging, ließ sie sie an der Hüfte anhalten; ihre Hinterbacken gingen wie die Kruppe der Stute hin und her und blieben dann schräg stehen. ›Ja amar!‹ keuchten die Männer.« Manos denkt an die »Judennutte« Allegra, die ihm Ariagni zugeführt hat, während ihm Garelas erzählt, dass Emmy einen Sohn geboren hat. Tsirkas lässt Manos das ungerührt zu Kenntnis nehmen. Es scheint, als fielen Manos die Frauen zu und lösten sich auch wieder. Er will sich nicht binden, er unterdrückt seine Eifersucht, er ist zerrissen zwischen den Erfordernissen der politischen Aktion – Untergrund, Versteck, Anonymität – und der Suche, seine Einsamkeit aufzubrechen, Gefühl und Verlangen zur Deckung zu bringen, und sei es in der Wollust. Es gibt wenige Schriftsteller, die über die physische Liebe so schreiben können wie Tsirkas. Nach einer Liebesnacht mit Nancy: »und auf dem Boden die nächtliche, zappelnde Ernte: Gold, Rubine. An Nans Händen, Brüsten, den Ohren haben sie Spuren hinterlassen. Der Bauchnabel und der Schoß, abgrundtief: eherne Eileitern; fünfarmige Seesterne; kristallklare Springbrunnen. [...] Nan sieht ihren Schenkel angewinkelt, glatt, fest, und wohlgeformt. An seinem oberen Ende etwas Farbe, vielleicht das Rosa der Scham? Die Knie haben sich aufgeschunden, als sich am Ende die Welt verdrehte und sie sich in stürmischem Rhythmus auf dem rauen Baumwollstoff abmühten, und er eingeklemmt hin- und hergeworfen wurde und zwischen dem Dunkel und dem Licht schrie.« Tsirkas findet immer wieder unerhörte, so noch nicht vernommene Bilder für Begierde, körperliche Umklammerung oder komplizierte Eifersucht. Die Paradoxa der Liebe sind eines seiner Hauptthemen. »Bald begannen Halbmonde auf meinen Rücken zu fallen. Schlitzten mich auf vom Scheitel bis zur Sohle«, erinnert sich Manos an die erste Liebesnacht mit Allegra in Kairo, während vor ihrem Zimmer ein Straßenfest tobt: »Sie hatte ihren Rhythmus von der entfesselten Handtrommel übernommen, und ihr Atem keuchte jetzt zusammen mit dem sich wiegenden Gekeuche der Straße. Wir begannen zu schreien. ›Weiter, weiter, weiter‹ klagte sie. ›Emmy, Emmy‹, stöhnte ich und tauchte noch tiefer ein.« Auch wenn der Taumel, das nackte Verlangen in den Liebesbeziehungen oft im Vordergrund stehen, ist Tsirkas auch Meister der erotischen Zwischentöne.

In einer Szene im dritten Band bringt Nancy Fanis zum Aufzug, kommt zurück, knipst das Licht aus und umarmt Manos: »Den Kimono zog sie ein wenig beiseite und entblößte mein Schlüsselbein, heftete ihre Lippen darauf und war wie ein Vogel, der seinen Durst in einer Pfütze löscht. ›Ich weiß‹, sagte sie, ›dass du mir eines Tages sehr weh tun wirst. Du bist strohtrocken wie alle Fanatiker.‹«

Nancy durchschaut Manos, seine Skrupel, seine Labilität. Tsirkas lässt uns an keiner Stelle seiner Trilogie vergessen: Es ist Krieg, und alle Beziehungen werden von seinen Schatten überlagert.

5

Ein Jahr nach Erscheinen von Der Club (1960), dem ersten Roman der Trilogie, wird Tsirkas aus der Ortsgruppe Alexandria der Kommunistischen Partei Griechenlands ausgeschlossen. Schon früh, schon zu der Zeit, als er Kavafis kennen lernte, war Tsirkas von den politischen Zielen der Linken angezogen. Wenig später trat er der KP bei. Das hinderte ihn nicht daran, stalinistische Auswüchse zu kritisieren, wofür er von der Partei immer wieder gemaßregelt wurde. Die Ausbreitung ideologischer Debatten in dem Roman Der Club war den Genossen dann zu viel. Sie vermissten Linientreue, und der Roman war ihnen ein weiterer Beweis dafür. Tsirkas wurde zur Persona non grata erklärt. Viel von diesem Konflikt zwischen Parteidisziplin und freier eigener Entscheidung, zwischen dem ›Kreuzzug‹ für ein abstraktes Ideal und konkreter Menschlichkeit blitzt in den die Trilogie durchziehenden Debatten der griechischen Untergrundkämpfer auf. Dabei umgeht Tsirkas die alte, fatale Alternative von Ästhetik und Engagement. Sein Held Manos ist Ästhet und ist engagiert, woher seine Gewissensbisse herrühren, seine Verlassenheit, seine Scheu vor Bindungen und auch die sehr unterschiedliche Wahrnehmung durch seine Weggefährten und Geliebten.Gerade in seinem Dilemma ist Manos – wie übrigens auch Ariagni − ein Beispiel für die Würde menschlicher Existenz. Damit steht die Trilogie in einer bestimmten Tradition großer politischer Romane. Wir denken sofort an Jean-Paul Sartre und seine Trilogie Wege der Freiheit (1946-1949), an Roger Vaillands Seltsames Spiel (1945), an Ernest Hemingways Roman aus dem Spanischen Bürgerkrieg Wem die Stunde schlägt (1940) oder André Malraux‹ So lebt der Mensch (1933) und Die Hoffnung (1937). Die Nähe zu Malraux fällt besonders auf. Dessen Helden werden von Hoffnung und Angst zu gemeinsamen Aktionen getrieben. Aber sie haben Verantwortung nur sich selbst gegenüber, und nicht gegenüber einer Sache. Malraux, wie nach ihm auch Sartre und Tsirkas, sieht einen scharfen Widerspruch zwischen Moral und Politik, in dem Sinne, dass es keine ›gerechte‹ Politik und auch keine ›gerechte‹ Partei gibt. Man kann vielleicht so weit gehen zu sagen, dass Stratis Tsirkas, ganz wie André Malraux, von der Energie und der Aktionsbereitschaft der Kommunistischen Partei fasziniert war, er aber den internen Zwang und die ideologische Disziplin ablehnte. Für Manos sind militärische Gefechte, revolutionäre Aktionen und erotische Abenteuer letztlich nur Ersatzlösungen, um aus seinen tragischen Daseinsstrukturen herauszukommen. Immer wieder will er sich von allem ›befreien‹, von der Politik, von seiner Vergangenheit, von den Frauen. Obwohl er wegen seiner Verwundung vom militärischen Einsatz ›freigestellt‹ ist, beschließt er, sich dem Marsch der griechischen Brigaden durch die syrische Wüste nach Rakka, am anderen Ufer des Euphrat, anzuschließen. Das ist seine letzte große Befreiungsaktion. Dieser Marsch wird zum Trauermarsch, zum Todesmarsch. Er überlebt die unsäglichen Strapazen, um wenig später von einer explodierenden Handgranate getötet zu werden.

6

Tsirkas’ Hauptwerk erschien vor einem halben Jahrhundert. Ist das Buch gut gealtert? Nach einer so langen Periode des Friedens und der Sattheit in Europa mag es für den deutschen Leser schwierig sein, sich mit den Problemen der griechischen Widerstandsgruppen im Nahen Osten während des zweiten Weltkrieges zu identifizieren. Aber wenn wir an den Kosovo denken, an Syrien, Irak oder den Sudan, dann haben sich die Widerstandsbewegungen und das außerordentlich komplizierte Leben im Untergrund nicht grundsätzlich verändert, sind vielmehr strukturell bis heute gleich geblieben. Zum historischen Hintergrund des Romans genügt es zu wissen, dass Griechenland im April 1941 vor der deutschen Wehrmacht kapitulierte und der griechische König und sein Kabinett − nach einer Zwischenstation auf Kreta − nach Ägypten flüchteten. Der Hafen von Alexandria wird zur Zufluchtsstätte für flüchtende griechische Marineeinheiten und Handelsschiffe. Parallel zu den wechselnden Exilregierungen in Kairo bilden sich antifaschistische und demokratische Splittergruppen innerhalb der griechischen Bodentruppen und auch innerhalb der griechischen Zivilisten heraus, die in Ägypten leben. Alle diese Fraktionen kämpfen mit den Briten gegen Rommel und gegen die von den Briten unterstützten griechischen reaktionären Politiker, befehden sich aber auch untereinander. Der Sieg der Briten in El Alamein am 24. Oktober 1942 und die deutsche Niederlage in Stalingrad drei Monate später bringen den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Churchill hält zu dem griechischen König, bezeichnet den griechischen Widerstand als »einen Haufen Banditen« und wirft den griechischen Brigaden Feigheit vor dem Feind vor. Im Juni 1943 werden die beiden Brigaden zu einem Marsch durch die syrische Wüste gezwungen, den viele Kämpfer nicht überleben. Nach einer Revolte im Hafen von Alexandria und ihrer Niederschlagung mit britischer Hilfe ergibt sich im April 1944 die griechische Flotte mit der Erklärung: »Wir sind im Krieg gegen Hitler, nicht gegen unsere Alliierten.« Auch die erste griechische Brigade, festgehalten in der libyschen Wüste, ergibt sich den britischen Truppen. In Moskau beschließen Churchill und Stalin, dass Griechenland britische Einflusszone auch nach Kriegsende bleiben soll. Nach der Befreiung Athens und Piräus’ bricht zwischen Royalisten und linken Gruppierungen in Athen ein langer Bürgerkrieg aus.