Elfenzeit 8: Lyonesse

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Aus der Reihe: Elfenzeit #8
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In dicke Mäntel gehüllt schlenderten sie Hand in Hand über den Viktualienmarkt. Auch jetzt waren die Stände geöffnet und boten Schlemmereien für Advent und Weihnachten feil. Die Luft wog schwer von den Düften nach Kräutern, Glühwein, Plätzchen und Tannennadeln. Die Buden waren festlich geschmückt und beleuchtet, und die Marktschreier priesen ihre Waren an. An der Heilig-Geist-Kirche und dem Alten Rathaus vorbei erreichten sie die Fußgängerzone des Marienplatzes, als das 12-Uhr-Glockenspiel soeben erklang. Die meisten, die stehenblieben, dem Spiel zusahen und lauschten, waren Touristen; die anderen eilten geschäftig weiter. Dabei war es ein Moment zur Besinnung, exakt zu dieser Stunde, zum Innehalten für ein paar Herzschläge.

»Weißt du, München ist so schrecklich busy geworden«, sagte Robert. »Ich kenne meinen Geburtsort, als er noch die Weltstadt mit Herz gewesen war. Doch heute ist alles Talmi, und diese künstliche Schickimicki-Gesellschaft ist so hohl und leer, was überhaupt nicht in dieses nach wie vor eher gediegene und bäuerliche Ambiente passt … Da wird Vorbildern nachgeeifert, die nie erreicht werden können, weil München viel zu klein dafür ist. Hier ist nichts schillernd, keine Skyline, überhaupt nichts Bemerkenswertes aus der Moderne. Was schön war und alt, wird übertüncht und verdeckt von proportionslosen Neubauten, die allenfalls klotzig denn schick sind und auch noch die letzte Atmosphäre mit schweren Schatten erdrücken. Die Straßen sind klein und eng, es gibt keinen erkennbaren Stil, alles prallt zusammen und schwimmt irgendwo im Dazwischen, ohne Individualität zu besitzen.« Er schüttelte sich übertrieben. »Ich sag dir was, im Januar werden wir es beide satt haben und uns nach der Insel sehnen, wetten?«

»Schon möglich«, sagte Anne. »Ich denke, bis dahin … bin ich mit allem fertig geworden. Aber wie steht es mit dir?«

»Weiß nicht«, wich er aus und ging schneller. Er wollte, dass Anne gesund wurde, über sich selbst dachte er nicht nach.

»Schaufensterbummel« nannte Robert es, während sie die breite Fußgängerzone entlang Richtung Karlsplatz/Stachus gingen. Und Anne machte ausgiebig davon Gebrauch. Bei einer Boutique konnte sie nicht mehr widerstehen und zog ihn nach innen. Robert ließ sie lachend gewähren, als sie einen teuren Fummel nach dem anderen probierte. Warum auch nicht? Er konnte es sich leisten. Am Ende bat er, die Unmengen an Tüten an seine Adresse zu schicken und gab den Namen der alten Frau im vierten Stock an, die immer zu Hause war. Sie würde vermutlich ziemlich staunen, umso mehr, da Robert ein hübsches Accessoire für sie obenauf packen ließ, mit ihrem Namen und einem Dankeskärtchen versehen.

Er konnte es nicht oft genug wiederholen: Es war toll, reich zu sein. Nicht arbeiten zu müssen. (Zumindest derzeit nicht, aber es war klar, dass der Verleger bald einen zweiten Band von ihm verlangen würde.) Alles lief von selbst.

Sie steuerten nun die U-Bahn vom Stachus an, auf der linken Seite kurz vor dem Karlstor lagen der ehrwürdige Mathäser-Filmpalast und das antagonistische McDonalds, als Annes Kopf plötzlich herumruckte.

»Was ist?«, fragte Robert, augenblicklich alarmiert. Mit seinen um ein Vielfaches geschärften Sinnen konnte er ihre Unruhe und die Ahnung einer Gefahr sofort spüren.

Aber wer sollte sie hier, am helllichten Tag angreifen? Und warum?

Der Getreue, durchzuckte es ihn kurz. Er ist von Island und den Toten zurück

Undenkbar wäre es nicht. Bandorchu könnte dem Kapuzenmann den Auftrag gegeben haben, die abtrünnige Lan-an-Schie und den zum Vampir gewordenen Grenzgänger zu sich zu holen, um irgendwelche Dienste von ihnen zu erpressen, oder sie hinzurichten, oder eines nach dem anderen. Und da Robert keinesfalls zulassen würde, dass seinetwegen Menschen zu Schaden kämen, wäre auch der Zeitpunkt günstig, ihn ohne große Anstrengung zum Mitkommen »zu überreden«.

Doch da war niemand, der nichtmenschlich wirkte, so angestrengt Robert sich auch umsah. Seine Vampiraugen konnten die meisten Larven durchschauen, hier gab es keine. Alle Leute waren hundertprozentig menschlich.

»Ich weiß nicht genau …« Annes Stimme drang von Ferne an sein Ohr. Sie war stehengeblieben und hielt den Kopf leicht schief, als ob sie lauschte. Ihr Blick war nach innen gerichtet. »Mir ist, als hätte ich etwas gespürt … etwas sehr Altes …«

»Und wo?«

»Das versuche ich gerade herauszufinden. Es war nur ein kurzer Impuls.« Sie verharrte noch eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. »Es ist fort. Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht.«

Robert war dennoch beunruhigt. »Du täuschst dich nie, Anne.«

»Danke für das Kompliment.« Sie hakte sich bei ihm unter. »Ich habe Hunger. Haben wir noch Zeit, essen zu gehen?«

Er freute sich, dass sie das fragte. Es schien ihr wirklich besser zu gehen. Vielleicht sollte er sich als Therapeut, spezialisiert auf Vampirdepressionen, ein zweites Standbein aufbauen. »Sicher. Ich habe vorhin, als du beim Anprobieren warst, den Termin auf fünfzehn Uhr verschoben.«

»Eine Woche auf den Bestsellerlisten, und schon entwickelst du Starallüren!« Ihre Stimme klang so, als ob es ihr gefiel. Kein Wunder, Elfen besaßen einen enormen Standesdünkel, und Dämonen vermutlich erst recht.

»Noblesse oblige«, grinste er übermütig. »Adel verpflichtet.«

Chefredakteur Norbert Spatz begrüßte sie herzlich, und er hatte auch allen Grund zur Freundlichkeit. Weitere Presseanfragen, euphorische Rezensionen und reißender Absatz – wenn das kein Grund zur Freude war!

Er versuchte Robert zu überreden, sich der Öffentlichkeit zu zeigen, doch er weigerte sich nach wie vor. Der Verlag hatte ein Phantombild hergestellt, das der Presse gezeigt wurde, und er antwortete grundsätzlich nur schriftlich über den Verlag. Ein Verlagsmitarbeiter sollte seinen Text bei der Pressekonferenz vorlesen.

Als sie damit durch waren, kam Redakteur Spatz auf ein anderes Thema zu sprechen.

»Nun – auf unseren Lorbeeren ausruhen sollten wir uns deswegen aber nicht«, fing er zur Einleitung an. »Wir sollten uns demnächst für das zweite Projekt zusammensetzen. Ich nehme an, Sie haben sich bereits Gedanken darüber gemacht.«

»Gedanken, ja«, antwortete Robert unverbindlich.

»Sehr schön! Wann wäre es Ihnen denn recht?«

»Ich weiß nicht … ich wollte mich in den nächsten vier Wochen ausschließlich mit privaten Dingen beschäftigen. Ich bin völlig ausgelaugt nach dem Schreibmarathon und möchte auch wieder Zeit für Persönliches haben.«

»Selbstverständlich. Haben Sie sich schon einen Zeitrahmen für nächstes Jahr überlegt? Nur damit ich weiß, wann ich den Roman in das Programm für übernächstes Jahr einplanen kann.«

»Keinesfalls Frühjahr, eher Herbst. Ich will in Ruhe arbeiten können, Termindruck hatte ich lange genug. Vielleicht sogar erst das Frühjahr in zwei Jahren.« Robert ignorierte das enttäuschte Gesicht des Redakteurs, fügte aber hinzu: »Ich möchte mich auch ein wenig rar machen und nicht vorzeitig verschleißen.«

»Hmm … gewiss.« Norbert Spatz wusste ganz genau, dass Robert recht hatte, aber er sah in diesem Moment vermutlich eine Menge Geldscheinchen für das kommende Jahr auf Nimmerwiedersehen davonflattern. Aber das machte nichts, ein Jahr später tat es auch. Dann lächelte er wie ein Autoverkäufer. »Vielleicht kann ich Ihnen die Arbeit schmackhaft machen, indem ich Ihnen noch vor Jahresende ein Angebot unterbreite.«

»Möglich«, meinte Robert und rutschte nervös auf dem Stuhl. Allmählich wurde es ihm zu viel. Dann fiel ihm ein, dass er keinen Grund hatte, sich dem weiter auszusetzen – er war derzeit der Star des Verlags. Abrupt stand er auf, und nicht nur der Redakteur schaute ihn verdutzt an. »Tja, ich muss dann mal wieder los.«

»Oh, wie schade … ich hätte Sie gern noch eingeladen …«

»Sehr freundlich, aber ein anderes Mal.«

Spatz blieb nichts übrig, als sich ebenfalls zu erheben und Robert die Hand zu reichen. »Ich rufe Sie an. Und Sie … melden sich rechtzeitig, wenn Sie ein anderes Angebot bekommen?«

»Machen Sie sich in der Hinsicht keine Gedanken, ich werde Ihnen keinesfalls abtrünnig«, erwiderte Robert, drückte kurz und kräftig seine Hand und verabschiedete sich.

Draußen auf der Straße atmete er erst einmal auf. Dann kramte er nach einer Gitanes und zündete sie an. Eines der wenigen Vergnügen, die einem Vampir blieben, da seine Geruchssinne auf ihre Kosten kamen. Und Lungenkrebs gab es keinen. Dementsprechend hatte Robert das »gesunde Leben« in dieser Hinsicht wieder aufgegeben und durfte in die alte Gewohnheit verfallen, ohne dass er sie jemals würde bereuen müssen.

Rauchend ging er den Gehweg entlang, Richtung Leopoldstraße, deren lebhafter Verkehrslärm mit Huptönen und lauten Rufen bereits bis hierher schwappte.

»Aha«, sagte Anne.

»Mhm«, machte Robert.

Er wusste, dass sie unzufrieden war, aber das konnte er nicht ändern. Und er würde keineswegs präventive Erklärungen abgeben. Und schon gar nicht würde er sich rechtfertigen.

Kurz bevor sie in die Straße einbogen, hielt Anne ihn am Arm fest. Ihre tiefliegenden dunklen Augen loderten. »Raus damit!«

Er tat unschuldig. »Womit?«

»Das weißt du genau«, fauchte sie. »Soll ich es aus dir rausprügeln?«

»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig«, schmetterte er sie kurz angebunden ab, riss sich los und bog anstatt in die Hauptstraße in eine weitere Nebengasse ein, die in einem Bogen in entgegengesetzter Richtung direkt zum Englischen Garten führte. Vielleicht wäre es gut, noch eine Weile flott spazierenzugehen. Einigermaßen frische Luft zu atmen, den Kopf frei zu bekommen.

Anne war für einen Augenblick so verblüfft, dass sie ein paar Sekunden brauchte, bevor sie ihm nachrannte. So schroff hatte er sich ihr gegenüber nur selten benommen, das konnte sie kaum auf sich sitzen lassen.

 

»Bleib sofort stehen!«, schrie sie ihn an, packte ihn erneut am Arm und riss ihn zu sich herum. Sie war eher klein, aber sie verfügte über eine gewaltige Körperkraft, bedeutend mehr als jeder Mensch. Und mehr als er. »Niemand springt so mit mir um!«

Er blieb stehen. »Ich will nicht darüber reden, geht das nicht in deinen Kopf?«

»Du wirst darüber reden, und zwar hier und jetzt, oder du wirst dich zuerst von deinem liebsten Körperteil verabschieden, dann vom zweitliebsten … und so fort, bis du nachgibst.«

Zum Glück war niemand in der Nähe. Annes Aussehen hatte sich erschreckend verändert, sie zeigte ihm offen ihre wahre Natur. Immer noch eine Frau, immer noch schön, aber auch feuerspeiend und gefährlich, mit Reißzähnen bewehrt und Augen, in denen die Hölle brannte. Ein völlig fremdes, furchterregendes Wesen stand vor ihm, dessen Krallen Robert mit nur einem einzigen Hieb in Stücke reißen konnten. So musste sie sich zuletzt ihrem Vater gezeigt haben.

Also schön, es hatte keinen Zweck, Anne würde keine Ruhe geben, und Robert hatte keine Lust, seine Einzelteile auf der Straße zusammensuchen und darauf warten zu müssen, bis sie wieder angewachsen waren. Das würde nicht nur äußerst zeitraubend, sondern auch sehr schmerzhaft – vorher und nachher. Und was die Leute erst sagen würden!

Robert sah sich schnell um, niemand in der Nähe. Er würde nicht lange brauchen.

»Ich kann es nicht mehr, verstehst du?«, schrie er zurück. Mit dem Finger tippte er sich gegen die Schläfe. »Da ist nichts mehr drin! Keine Inspiration, kein Antrieb, keine Formulierung. Es ist alles weg!«

Er hob die Arme und ging weiter, auf den großen städtischen Park zu. »Seit ich tot bin, habe ich mit Ach und Krach den letzten Schliff vornehmen können. Aber das war’s!«

Anne beruhigte sich und nahm ihr normales Aussehen an. »Dann brauchst du eben noch Erholung …«, begann sie.

»Ja, für die nächsten paar tausend Jahre«, unterbrach Robert. »Machen wir uns doch nichts vor, Anne – es ist vorbei. Ich bin kein Mensch mehr. Deine Musenkräfte wirken nicht mehr. Ich werde niemals wieder ein Buch schreiben! Nicht einmal ein schlechtes!«

Seine Nasenflügel blähten sich leicht, als er den Park fast erreicht hatte. Sein Geruchssinn empfing die Ausdünstungen von nassem Holz, Schnee, Eichhörnchen und vielen Hunden samt ihren Menschen. Kettenöl von Fahrrädern, Sohlenleder und Plastikschirme gehörten auch dazu. Der Himmel fing an, sich zu beziehen, und der Wind brachte die Vorboten frischen Schneefalls mit sich.

Anne holte ihn erneut ein. Was für eine seltsame Konstellation, sonst war es immer umgekehrt gewesen, dass er hinter ihr herlaufen musste. »Robert …«

Er hielt an und starrte auf sie hinab. »Was?«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm, aber diesmal nicht, um ihn hart zu packen. Es wäre fast eine mitfühlende Geste, wenn er es nicht besser wüsste. »Vielleicht …« Sie zögerte.

»Nun sag schon«, brummte er.

»Vielleicht ist auch nur immer nur dieses eine Buch in dir gewesen, Robert. Nie mehr als dieses eine, einzige, großartige und geniale Werk.«

»Oh.«

Mehr brachte er dazu nicht heraus. Das schmerzte tiefer als alles andere. Es bedeutete das Ende jeder Schreibblockade, die er sich einreden mochte, oder die Ausrede, kein Mensch mehr zu sein. Es war eine knallharte Wahrheit, an der sich nichts ändern konnte. Niemals.

»Es tut mir leid, Robert.«

»Tut es das?«

»Ja.« Sie zwang ihn, sie anzusehen. »Ja, verdammt, es tut mir leid! Ich bin eine Muse. Deine Muse! Ich habe das Herz einer Muse, das fühlt und leidet und sich freut. Denkst du, es gefällt mir, dass ich nicht mehr in der Lage bin, einen kreativen Funken in dir anzufachen? Dass er erloschen und Asche ist, für immer? Was bleibt mir dann noch, nachdem ich mit allem gebrochen habe?«

Seine Augen brannten, aber die Drüsen konnten keine Tränen mehr produzieren. Dennoch wischte er sich über die Wangen, ein verbliebener Reflex. »Und mir?«, flüsterte er.

Sie hakte sich bei ihm unter und zwang ihn, mit ihr weiterzugehen. Das Gewicht der Schuhe brachte den Schnee zum Knirschen.

»Wir finden etwas«, versprach Anne fest und sicher. »Wir werden es nicht fatalistisch hinnehmen, nur noch Vampire zu sein. Es wird sich etwas Neues ergeben. Das tut es immer, solange wir einen Sinn darin sehen. Und den habe ich noch lange nicht verloren. Sicher, ich war noch nie in einer so schlimmen Lage wie jetzt, aber es gibt immer noch Schlimmeres. Der Verlust der Unsterblichkeit, beispielsweise. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt – aber ich werde sie verdammt noch mal nutzen, und du mit mir! Wie du gesagt hast: Wir haben uns. Ich habe meine Entscheidung getroffen, so wie du die deine. Also dann! Schluss mit dem Selbstmitleid. Unsere Existenz hat einen Sinn, solange wir daran glauben.«

Robert fühlte sich augenblicklich getröstet. Anne war so stark. Sie würde ihn nicht verlassen. Das war alles, was zählte.

»Das tu ich, an uns beide«, schloss er und atmete tief durch. Ein Relikt, das allen Vampiren zueigen war. Atmen. Fast wie …

Dann brach es laut aus ihm hervor: »Mann, was für ein Leben!«

2.
Ein Tuch in der Wüste

Der zerfledderte schwarze Fetzen trieb dahin. Trieb über die Welt und suchte nach einem Anker. Mehrmals drohte er abzustürzen, doch jedes Mal geschah es wie durch ein Wunder, dass er davor bewahrt wurde.

Winde kamen auf, aus aller Welt, und bliesen das Tuch weiter.

Sarma war der Erste, brauste von Norden her und trieb den Fetzen übers Meer, und dann übernahmen die Polaren Ostwinde und pusteten ihn voran.

Er wirbelte durch den Äther, und jede Richtung war die seine, es spielte keine Rolle. Auch die Winde ließen die Grenzen fallen, jagten sich gegenseitig über die ganze Welt und spielten dabei mit dem Tuch. Selbst der kleine Joran wagte sich dazu, während Pampero sich aufblies, Galerne und Poniente stritten miteinander und lösten ein Gewitter aus, Baguio und Karif und wie sie alle hießen … bis Zephyr und Boreas, die Göttlichen, eingriffen.

»Die ganze Welt ist durcheinander!«, fuhren sie wütend zwischen die Winde und zerstreuten sie. »Seht es euch an, Blitz und Donner, Schnee und Hagel, Taifun und Tornado! Das muss ein Ende haben!«

Es war nicht ganz so schlimm, die meisten Entladungen spielten sich hoch in den Sphären ab und entrangen den Menschen höchstens staunende Laute, wenn sie seltsame Wirbel und Lichterscheinungen sahen. Schnee und Regen waren oft schon verflüchtigt, bevor sie die Baumkronen erreichten – dennoch, das eine oder andere ungehorsame Unwetter kam durch und verwüstete so manchen Hof und kleine Wäldchen.

»Der Klimawandel«, sagten die Menschen dazu und nickten weise. »Das ist der Beweis. Zuletzt erlebten wir es über Island. Wir müssen Milch und Honig abschaffen.«

»Hört ihr?«, fauchte Boreas.

Die einen Winde säuselten: »Wir wollten doch nur helfen!«, die anderen brausten: »Wir folgen der Bestimmung!«

»Ihr folgt uns«, befahlen die Göttlichen und bliesen sie endgültig davon.

Boreas ballte ein paar Wolken zusammen und bettete das Tuch darin. Zephyr nahm es in Augenschein.

»Da ist wohl nichts mehr zu machen«, stellte Boreas fest.

»Dieser Fetzen wird kaum mehr zusammengehalten«, stimmte Zephyr zu. »Aber ich spüre noch einen Rest …«

Boreas strengte seine göttlichen Sinne an. Dann glätteten sich die Wirbel auf seiner Stirn. »Wahrhaftig«, rauschte er. »Da ist noch etwas.«

»Fast erloschen«, stellte Zephyr fest.

»Was können wir tun?«

»Ich weiß es nicht.«

»Anfachen?«

»Nein.«

»Ausblasen? – Schon gut, ein Scherz, verzwirble dich nur nicht gleich.«

Schweigend starrten sie auf den schwarzen Fetzen, der trotz der wolkenweichen Wärme zitterte. Ab und zu glühte er am Rand auf, doch jedes Mal schwächer.

»Es dauert wohl nicht mehr lange«, bemerkte Boreas.

»Das dürfen wir nicht zulassen«, sagte Zephyr.

Sie zogen sich zusammen, als glitzernder Nebel sich über ihnen herabsenkte.

Bringt ihn zum Anfang der Last.

»Zum … äh … wie?«, fragte Boreas verunsichert. Er galt normalerweise als der aufbrausendste aller Windbrüder, und zugleich als der mächtigste. Doch nicht als der klügste.

»Ich weiß, was er meint«, sagte Zephyr prompt. »Ich bin der Wind des Südens und der Wärme, Bruder, du hingegen treibst den Winter vor dir her. Dein Verstand ist ein Eiszapfen.«

Eilt euch. Mein Bruder kann sich nicht mehr lange halten.

»Also auf nach Hyperborea, wo das Paradies wartet!«, rief Boreas. »Ha, ha.« Mit seinem donnernden Gelächter jagte er die erschrockenen Wolken in die Flucht, und das Tuch verlor den Halt und trudelte dem Erdboden entgegen.

Der glitzernde Nebel wetterleuchtete, und Boreas beeilte sich, den Fetzen aufzufangen und wieder nach oben zu tragen.

»Fast dran, Bruder«, brauste Zephyr. »Doch die Reise wird nicht ganz so weit gehen.«

Boreas wiegte das löchrige Schwarz. »Ich hoffe, Zephyr weiß es wirklich«, sagte er zu dem glitzernden Nebel. »Es ist schon fast nichts mehr da.«

Deshalb bitte ich euch ja um Hilfe.

»Die wir keinesfalls verweigern«, säuselte Zephyr. »Wir sind schließlich beinahe Brüder. Und bei all dem, was geschieht, kann man froh sein, wenn man seinen Beitrag leisten darf. Nach so langer Zeit! Ich fühlte mich schon ganz kraftlos.«

Wir alle brauchen Kraft. Gebt ihm die seine zurück. Die Aufgabe meines Bruders ist längst nicht beendet, und ich wage erst wieder, die Augen zu öffnen, wenn ich ihn in Sicherheit weiß.

Die göttlichen Windbrüder flauten betroffen ab. Beinahe wäre der Fetzen wieder abgestürzt … oder vielmehr, hinabgesegelt. Doch Boreas bewahrte geistesgegenwärtig einen letzten Hauch Auftrieb, der das Tuch festhielt und sanft nach oben schaukelte.

»Nebelbruder«, wisperte Zephyr, »wenn du Furcht empfindest …«

Meine Furcht ist nicht die eure. Und nun eilt euch. Habt dank, Windbrüder.

»Zu deinen Diensten«, antworteten die göttlichen Brüder höflich, doch der Nebel hatte sich bereits aufgelöst.

»Also, wohin nun?«, forderte Boreas seinen Bruder neugierig zur Preisgabe auf.

»Gib ihn mir.« Zephyr wollte nach dem Fetzen greifen, doch Boreas blies ihm einen wirbelnden Wall entgegen.

»Kommt nicht in Frage! Du willst dich allein auf den Weg machen!«

»Ja. Denn du musst hierbleiben, Boreas, und Wache halten.«

»Wofür denn?«

»Für alles, bei den Olympiern!«

»Die sind fort, schon vergessen?«

»Aber wir sind noch da, auch vergessen?«

»Wir sind ja schließlich Winde, wir währen ewig.«

Zephyr seufzte mit einem pfeifenden warmen Windstoß. »Schütze einfach die Sphären«, sagte er schließlich.

»Ach so!«, rief Boreas viel zu laut und löste versehentlich einen weiteren trockenen Donnerschlag aus.

»Ein Überschallknall von einem Militärflieger«, sagten die Menschen unten und sammelten die Scherben ihrer Gläser ein, die aus den Regalen gesprungen waren.

Zephyr konnte sich kaum mehr zurückhalten, er rotierte schon wie ein Tornado. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, wiederholte Boreas flüsternd:

»Ach so.«

Er grinste seinem Bruder verlegen zu, hob die Schultern und brauste davon, wobei er gerade noch einem Airbus auf dem Weg in weite Ferne auswich. Es kam zu mäßigen Verwirbelungen, aber dergleichen waren die Piloten gewöhnt, sie manövrierten das Flugzeug sicher hindurch.

Zephyr nahm den Fetzen und trug ihn weiter zu seinem Bestimmungsort. Über der Sahara, an einem bestimmten Punkt, sprang das Tuch plötzlich aus seinem Arm und sank zu Boden hinab.

»Na schön«, säuselte Zephyr achselzuckend, »deine Wahl. Mach das mit deinem Bruder aus – ich habe getan, was ich sollte. Gib mir nicht die Schuld, wenn es schiefgeht!« Er blies die Backen auf, schlug um und wehte davon.

Sanft schaukelte das Tuch hernieder. Kreisrunde Felder breiteten sich unten über die Wüste aus, die graugelb bis mattgrün waren. Die künstlichen Oasen von Al Kufrah, die die Wüste Libyens einstmals grün machen sollten.

Ein Erinnerungsfetzen im Tuch wusste davon. Und wusste auch, warum gerade hier die Menschen den Versuch erneut unternahmen, fruchtbares Gebiet der Wüste abzutrotzen. Ein rot leuchtendes Band zog sich unter dem gigantischen Wasserspeicher unterhalb des Wüstenbodens hindurch. Kein Wasserbohrer konnte es jemals erreichen, denn es lag zu tief. Und doch bezogen alle Quellen ihre Energie davon und hatten einst das kostbare Reservoir erzeugt.

 

Sie war die mächtigste Ley-Linie von allen, die erste, die aus der Geistersphäre entstand, als die Erde noch jung gewesen war.

Am Rande der bewirtschafteten Kufrah-Oasen gab es Relikte alter Palmengründe, verlassen und nicht von wirtschaftlichem Interesse. Doch sie führten Wasser, und alte Palmen boten Schatten für scheue Tiere.

In einer solchen kleinen Wassersenke, die am Ufer von mattem Grün überzogen war, gesäumt von einem leise raschelnden Palmenhain, ging das Tuch nieder. Lag halb im Sand, halb im Wasser und saugte sich voll, bis das Gewebe schwarz glänzte.

Eine unscheinbare graubraune Schlange züngelte aus einem Sandloch nahe dem Wasser hervor, dann glitt sie heraus und auf das im Schatten liegende Tuch zu. Die gespaltene Zunge tastete über den Stoff, der mehrmals kurz zuckte. Die Schlange versenkte den Schwanz im Sand, öffnete den Rachen, dass die mächtigen Giftzähne hervorsprangen, und hauchte ihren kalten Atem über den Fetzen. Eine milchige Flüssigkeit tropfte von den Zähnen herab und sickerte zischend in das Gewebe ein. Dampf stieg daraufhin auf, ein rotes Glühen umgab Tuch und Schlange, das sich zuletzt in glitzernden Nebel auflöste.

Als dieser sich verzog, lag der Schattenmann am Ufer. Er war nicht körperlich, wirkte durchscheinend, aber sein Brustkorb hob und senkte sich im Atmen. Noch war er nicht viel mehr als eine dunkle Kontur, kaum greifbar, ohne erkennbare Strukturen. Ein diffuser Schatten …

Die Schlange zischelte leise, dann glitt sie lautlos zurück in ihr Loch.

Der Schattenmann verharrte still. Er war sich seiner selbst noch nicht bewusst und konnte nur fühlen. Die Ader, die tief unter ihm glutrot pulsierte. Seine Erinnerungen, die bruchstückhaft, in Lichtblitzen, durch seine Finsternis huschten. Sie ergaben keinen Sinn, konnten sich nicht zusammensetzen. Doch sie waren wichtig, jede Einzelne von ihnen.

Schmerz empfand er keinen, ebenso wenig konnte er eine Verbindung zu dieser stofflichen Hülle aufbauen, die versuchte, sich zu stabilisieren. Wofür war sie da? Um ihn aufzunehmen? Er wusste es nicht mehr.

Er spürte die Feuchtigkeit des Wassers, die durch seine Hülle strömte und ihr half, sich aufzubauen. Er wusste von der Schlange, die ihm geholfen hatte, und von dem Sandteufel, der heute Nacht auf sie lauern würde. Er fühlte den Wolkenschatten, der eilig über ihn hinwegglitt, und hörte das Flüstern des Windes. Doch er konnte ihn nicht verstehen.

War es denn überhaupt von Bedeutung? Weshalb blieb er? Warum waren die Erinnerungen wichtig?

Halte dich fest, flüsterte etwas in ihm.

Warum?

Nur du kannst es.

Was bedeutet Festhalten?

Du musst verstehen.

Was bedeutet Verstehen?

Begreife den Sinn.

Wie kann ich das?

Das Flüstern verstummte. Was brauchte es einen Schatten zu kümmern? Er war nur ein Umriss, eine leere Hülle. Etwas, das überflüssig war. Er war es zuvor niemals gewesen … ein Schatten.

Wieder eine Erinnerung, die er nicht verstand.

Er war schwer vom Wasser, schien hinabgesogen zu werden in einen tiefen Abgrund. Unmöglich, sich dagegen zu wehren; er würde verschwinden, für immer.

Ein sandfarbenes Wesen kam herangetrippelt, winzig, mit riesigen Hinterfüßen und großen Ohren. Es hüpfte mehr, als dass es lief, und würde wahrscheinlich in den Rachen der Schlange passen, wenn sie das Maul weit genug aufriss. Die kleine schwarze Nase zuckte. Das Wesen schnüffelte ihn ab, leckte Wassertropfen auf. Welch eine Erleichterung. Er spürte die zarten Füßchen, als das kleine Tier über ihn hinweglief und die Tropfen aufnahm. Dann war es plötzlich verschwunden, und er fühlte sich besser. Leichter.

Die Helligkeit ließ nach. Der Schattenmann spürte die Wanderung der Sonne und die Veränderung ihrer Farben. Der Zustand um ihn herum änderte sich. War es … Kälte?

Ja. Kälte war ihm vertraut, ebenso wie ihr Gegenteil, die Wärme, die ihm jetzt begreiflich wurde. Es war etwas Ursprüngliches, ein Teil seines Selbst.

Das Licht war fort, Dunkelheit hüllte ihn ein. Sie war nicht so tief wie die Finsternis in ihm, durchsetzt von glitzernden Punkten. Er konnte sie wie kleine Funken wahrnehmen, und auch sie waren ein Teil von ihm.

Die Kälte kroch in das Gewebe, ließ das Wasser erstarren, vermittelte ihm neue Eindrücke, die er schon lange vergessen hatte.

Der Schattenmann ruhte.

Am Morgen stand ein Mann, der ein weißes Dromedar am Zügel führte, neben ihm. Er ließ den Strick los und kniete bei dem Schattenmann nieder. Nachdem er ihn ausgiebig in Augenschein genommen hatte, griff er in eine Tasche seines dunkelblauen Übergewandes und förderte ein Döschen zutage, das er behutsam öffnete. Hauchfeiner Staub befand sich darin, von dem der Mann eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und diese über die schemenhafte, wie Nebel wabernde Gestalt blies.

Der Staub fiel auf stoffliches Gewebe und sickerte dann ein. Der Schattenmann atmete tiefer. Dann schlug er die Augen auf. Langsam drehte er den Kopf und richtete seinen Blick auf den Mann. Seine Augen waren völlig schwarz, starr und leer, mit einer spiegelnden Oberfläche.

Der Nomade öffnete den indigoblauen Gesichtsschleier des Aleshu und offenbarte ein tief gebräuntes, hageres Gesicht, dessen alte Haut sich in hunderte Fältchen legte, als er lächelte.

»Ayoub«, sagte er und wies auf sich.

Der Schattenmann öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, was ihm erst nach einer Weile gelang. Seine Stimme klang wie der ferne Wind der Wüste. »Du bist Imuhagh«, hauchte er. »Targi.«

Der Mann der Wüste nickte und grinste breiter. »Du hast einen weiten Weg hinter dir, scheint mir.«

Der Schattenmann ging nicht darauf ein. »Fürchtest du nicht den Totengeist, der dir in den Mund kriecht, weil du dein Gesicht entblößt?«

»Ich fürchte niemanden. Und du bist weder tot noch Geist.«

»Du täuschst dich …«

»Schweig still, Schattenmann. Ich kenne dich. Ich gebe dir, was du brauchst.« Ayoub hielt die flach ausgestreckte Linke über den Brustkorb des diffusen Wesens, die Rechte presste er fest in den Sand. Bald darauf glühte die rechte Hand wie von einem inneren Licht auf, und dann schoss ein Blitz aus dem Boden hervor und schlug in den Schattenmann ein.

Der Imuhagh löste die Verbindung und sank erschöpft in sich zusammen. Um nicht zu viel Flüssigkeit zu verlieren, schlug er das Tuch um den Mund. Jeder Atemhauch war zu kostbar, um in der Wüste verschwendet zu werden. Aus trüben Augen beobachtete er, wie der Schattenmann stofflicher wurde, das unstete Flackern der Gestalt hörte auf. Eine lange Kutte bildete sich schützend um ihn, Stiefel und Handschuhe, und dann richtete er sich auf und schlug die Kapuze über. In der Finsternis darunter entstanden zwei glühende Sterne dort, wo zuvor lichtlose Augen gewesen waren.

»Ich schulde dir Dank, Ayoub«, sprach der Schattenmann mit deutlich voluminöser Stimme, die an Tiefe gewonnen hatte.

»Du schuldest mir nichts«, winkte der Imuhagh ab. Er spürte den Blick des Verhüllten tief in sich dringen.

»Du bist eine wandernde Seele«, stellte er fest. »Mir ist, als müsste ich dich kennen … doch ich bin noch kaum bei mir.«

»Wir kennen uns tatsächlich«, stimmte Ayoub heiter zu. »Wie nennst du dich in dieser Epoche, mein Freund?«

»Wie in jeder.« Ein kurzes Zögern, als wäre er unsicher, dann sagte er langsam: »Ich bin … der Getreue. Doch abgeschnitten von dem, dem ich Treue schulde … ich kann mich nicht mehr erinnern …«

»Du bist auf der richtigen Fährte.« Ayoub deutete auf den Boden. »Instinktiv hast du die lebensrettende Ader gefunden. Sie ist immer noch stark, und deswegen bin auch ich immer noch hier. Mein ganzes langes Leben bewege ich mich an ihr entlang, und ich bin es nie müde geworden.«