Elfenzeit 8: Lyonesse

Text
Aus der Reihe: Elfenzeit #8
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Kurz gesagt: Lebe weiter?«, fragte Tom mit leicht zitternder Stimme.

»Ja«, antwortete Robert anstelle von Anne. »Es ist ein Teil deiner Entwicklung. Es hat dich nicht zerstört, und warum auch. Du bist immer noch du selbst.«

»Er raubte mir …«

»… deine Würde? Nein. Die kann dir nur geraubt werden, wenn du es zulässt. Bei allen Selbstmordgedanken: Hast du dich denn tatsächlich selbst aufgegeben?«

Tom starrte Robert an, und allmählich beruhigte sich das Flackern in seinen Augen. »Nein …« Dann, mit fester Stimme: »Nein. Nein, verdammt!«

Robert nickte. Dann zog er die Lippen zurück und zeigte seine Fangzähne. Er genoss es zu spüren, wie sie ausfuhren, und die Kontrolle darüber zu haben. »Ich auch nicht«, sagte er. »Ich habe bewusst mein Leben aufgegeben, um ein neues zu gewinnen. Aber ich bin immer noch ich selbst. Und ebenso ist es bei dir.«

Tom schluckte. »Und wofür hat er mich dann ausersehen?«

»Wer kennt sich schon bei dem Getreuen aus«, versetzte Anne. Sie konnte leicht reden, sie war ihm nie begegnet. Zumindest nicht, solange Robert sie kannte. Island zählte nicht. Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Er hatte bisher kaum an der Oberfläche ihres Seins gekratzt.

»Der Getreue ist der Joker«, hörte er sich selbst sagen. »Das Zentrum der ganzen Geschichte. Und von Anfang an liegt sein Augenmerk auf den Zwillingen und Nadja. Er steuert und lenkt uns alle an einen bestimmten Punkt. Um vor allem David, Rian und Nadja dorthin zu kriegen, wo er sie haben will, und wozu er uns offenbar braucht. Was auch immer er damit bezweckt.«

»In erster Linie ist er zunächst mal tot oder zumindest verschwunden«, wandte Tom ein. »Oder habt ihr irgendwelche Nachrichten seit Island erhalten?«

»Nein. Aber ich stimme Robert zu, dass der Getreue nicht auf Dauer aufgehalten werden kann«, sagte Anne. »Er wird zurückkehren.«

»Weil er ein Prinzip ist«, erklärte Robert und wunderte sich, woher er diese plötzliche Erkenntnis nahm. Doch er war von der Richtigkeit überzeugt.

Tom sah ihn mit großen Augen an. »So was in der Art habe ich in deinem Buch gelesen. Das verstehe ich jetzt erst.«

»Da siehst du, dass du nicht der Einzige bist, der missbraucht wird«, meinte Robert und klopfte ihm auf die Schulter. »Wenngleich uns das nicht weiterhilft zu wissen, was er nun tatsächlich ist. Also, lass uns gehen.«

Anne, die wohl nur darauf gewartet hatte, ging voran.

»Nette Beißerchen, übrigens«, bemerkte Tom, während er und Robert der Muse folgten.

»Nicht wahr? Ich finde sie auch klasse. Nie mehr Zahnarzt. Wenn man bedenkt, dass ich da vorher nur Kronen hatte …«

Sie fuhren erschrocken zusammen, als ein etwa siebzig Zentimeter kleines, dickes Männlein mit dichtem Fell aus der heraufkommenden Rolltreppe sprang und schrie: »Seid ihr bald fertig mit eurem Gequatsche? Da unten ist gerade die Hölle los, verdammt noch mal!«

8.
Der Weg zurück 2

Sand wirbelte auf, während Kurus durch die Wüste galoppierte. Riesige Dünenberge erwarteten sie, mit nur schmalen Passagen dazwischen, und manchmal war eine mühsame Überquerung unausweichlich.

Auf einer mehr als hundert Schritt hohen Düne ließ der Getreue anhalten.

»Das Große Sandmeer«, sagte er. »So bezeichnet man die Wüste bis zu den Kufrah-Oasen, aber hier entfaltet sie erst ihre ganze Schönheit. Von hier aus reisen wir auf einer östlichen Route nach Al Jaghbub, und dann erst geht es nach Nordwesten weiter.«

»Aber warum gehen wir nicht direkt?«, wollte Kurus wissen.

»Die Oase ist eine wichtige Station«, antwortete der Getreue. »Und ich weiß nicht, wie weit ich von da aus noch weiterreisen muss, um ans Ziel zu gelangen. Mein Weg führt bis fast zum Ozean, aber nicht in dieser Welt. Ich muss diese Stationen auf dem Weg in die Vergangenheit durchlaufen, um meinen Anker zu finden. Deshalb muss ich der Ley-Linie folgen, die so führt.«

»Wo wir dann hingehen, ist das meine Heimat?«

»Oh ja. Dein Ursprung, junger Mantikor. Wir haben die Kyrenaika erreicht, was bedeutet, der Sandboden hier ist nicht mehr tief.«

Kurus hatte schon viel gelernt. Er erkannte sofort, dass sein Lehrmeister damit auf etwas Bedeutendes hinwies. »Und was liegt darunter?«

Der Getreue atmete tief durch. »Meeresboden, Kurus. Jenes Meer, das einst Atlantis umgab, bevor die Insel versank. Einst vereinte es sich mit der Süßwassersee im Süden, bevor auch diese verschüttet wurde. Jahrtausende ruhte alles. Dann kamen die Griechen und bauten über den Ruinen auf. Du findest heute noch am Ozean die Relikte von Kyrene und anderen Städten. Später fielen die Osmanen ein …«

»Das geht mir zu schnell! Muss ich das überhaupt alles wissen?«

»Nein. Ich erinnere mich nur. Stück um Stück kehre ich zu mir zurück. Atlantis jedenfalls ist sehr viel älter, als Platon behauptete. Es existierte vor zwölftausend Jahren bereits nicht mehr, nur die Erste Stadt am Ätna hielt sich noch länger. Doch die Landbrücke zu Sizilien war schon lange vom Meer überspült worden, sodass keine Verbindung mehr bestand. Das Reich wurde getrennt, das Meer verlagerte sich, dieses Gebiet hier fing an zu verlanden. Das war der Anfang vom Ende für Atlantis.«

»Warum blieb nichts davon übrig?«

»Es zerstörte sich selbst, als die Naturgewalten nicht mehr aufzuhalten waren. Dekadenz und Missgunst hatten Einzug gehalten und Kriege um die Ressourcen brachen aus. Die wunderbare Welt wurde zur Hölle. Der erzürnte Poseidon nahm, was er gegeben hatte. Was noch verblieb, hält der Sand gut verborgen.« Er winkte ab. »Weiter, Kurus. Ich darf mich nicht zu sehr verlieren in dem, was war. Ich spüre, dass meine fortdauernde Abwesenheit jemandem den Tod bringt. Das darf nicht geschehen.«

»Ich eile, Meister. Allerdings habe ich Hunger.«

»Wir werden bald essen.«

Der Mantikor lief eifrig weiter, die Aussicht auf Nahrung beflügelte ihn. Die Ley-Linie versorgte zwar beide mit Energie, aber das genügte dem Raubtier in Kurus eben nicht mehr. Doch auch der Getreue könnte etwas Zusätzliches vertragen.

Schließlich erreichten sie eine unbewohnte Oase, an der ein Durchgangslager aufgeschlagen war. Am Horizont zog eine lange Heerschar über die Dünen entlang Richtung Osten.

»Sie wollen nach Ägypten«, fuhr der Getreue seinen Monolog fort. »Es sind die Sanussiya unter Führung ihres Gründers Muhammad as-Sanussi. Ein streng religiöser Orden, der zu expandieren trachtet, wir befinden uns um das Jahr 1840. Idris, unser erster Gastgeber, war ebenfalls ein Anhänger und Führer des Ordens.« Er merkte, dass der Mantikor sich langweilte. Kein Wunder, was brauchte ihn die menschliche Geschichte zu kümmern. Doch für ihn selbst war es von größter Bedeutung.

Sie hielten am Rand der Oase an, an einem sumpfigen Tümpel. Nach dieser Pause mussten sie schneller vorankommen, der Getreue wurde ebenso ungeduldig wie sein Reitlöwe.

Das Bild, das sich ihm bot, unterschied sich nicht vom zwanzigsten geschweige denn des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Schwer bewaffnete Männer in langen Kutten, Stiefeln und Turbanen, mit kräftigen Bärten, finsteren Augen und hageren Gesichtern.

»Ich folge seiner Vision«, hörte der Getreue einen Mann sagen, als er ins Lager ging. – »Warum folgt man überhaupt einer Vision?«, entgegnete ein anderer. »Ich folge dem Wasser. Ich ernähre meine Familie. Gott mag mir dabei helfen, aber oft tut er es nicht.«

»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst.«

»Allahu akhbar, Freund. Gott wird schon das Richtige für mich bereithalten, doch ich bleibe bodenständig.«

Der Getreue trat ans Feuer. »Salam aleikum«, grüßte er.

»Aleikum salam«, kam der Gruß zurück.

»Ich erbitte eure Gastfreundschaft.«

»An diesem Feuer ist Platz. Sei willkommen.«

Der Getreue ließ sich nieder und nahm von den angebotenen getrockneten Früchten an – Datteln, Feigen und Aprikosen. Dazu trank er stark gesüßten Pfefferminztee. Die Männer musterten ihn neugierig, doch es dauerte, bis einer fragte: »Du hast wohl einen weiten Weg hinter dir.«

»Du ahnst nicht, wie weit. Und er ist noch nicht zu Ende.«

»Und du hast kein Kamel oder Pferd?«

»Gewiss. Deswegen bitte ich euch nun in aller Freundschaft um sämtliches Fleisch.«

Die Männer wollten auffahren, doch der Getreue brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Das kostete ihn wieder Kraft, doch er hatte keine Wahl. Er musste den Mantikor zufriedenstellen, auf einen Machtkampf mit ihm durfte er sich nicht einlassen. Er zwang sie durch Einfluss, sämtliches Fleisch, getrocknet und gekocht, zusammenzutragen. Den Sack musste er dann mittels Levitation tragen. Er verließ das Lager, wie er gekommen war und niemand erhob die Waffe gegen ihn.

Kurus stürzte sich gierig auf die mitgebrachten Gaben, schlang und kaute. »Nächstes Mal möchte ich jagen!«, verlangte er.

»Ich sagte dir bereits, das ist nicht möglich, und wir führen hierüber keine Diskussion. Gedulde dich noch ein wenig, es ist nicht mehr weit.«

Sie galoppierten weiter durch die Wüste in die Vergangenheit, die ganze Nacht hindurch, und am Morgen gerieten sie in ein Gewitter und wahren Wolkenbruch mit sintflutartigen Regenfällen. Der Himmel hing fast bis zum Boden herab, sämtliche Schleusen hatten sich geöffnet. Gräben verwandelten sich in reißende Flüsse, die auch für Kurus nicht leicht zu durchqueren waren. Noch dazu, da es ihn vor dem Wasser nur so schüttelte.

»Ich dachte, das ist eine Wüste!«, jammerte er.

Am Horizont ragte ein skurriles altes Gebirge auf, dessen Gesteinsformationen an bizarre versteinerte Wesen erinnerten.

»Teilweise ist das auch so«, bestätigte der Getreue Kurus’ Vermutung. »Wir befinden uns bereits auf dem Boden von Atlantis, in der Kyrenaika. Die Geschichte mit diesem Gebirge ist eine ganz eigene. Darin finden sich auch hunderte Wohnungen und Gräber.«

 

Vielerorts erhoben sich mitten aus dem Wüstenboden einzelne Felsen, von Erosion und Abrieb gezeichnet, einzigartige Skulpturen, die früher vielleicht aus dem Meer geragt hatten; Überreste aus der Frühzeit der Welt.

Aber dafür hatte Kurus kein Auge, er bettelte vielmehr den Getreuen an, schnell weiter durch die Zeit zu reisen, um dem Unwetter zu entgehen.

Auch der Getreue war nicht gerade begeistert davon, doch so schnell konnten sie ihm nicht entgehen, der nächste Übergang war noch nicht erreicht.

»Was ist das?«, rief Kurus plötzlich und beeilte sich, auf einen Felsen zu springen, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Es wurde nur mäßig heller, und durch die Regenmassen war es nicht einfach, Details zu erkennen.

Wie es aussah, zog ein großes Heer zu Pferd, zu Kamel und zu Fuß durch die Wüste. Säbel und Waffenröcke rasselten und klirrten, Rufe schwirrten den Heerwurm hinauf und hinunter. »Wer ist das?«, rief Kurus begeistert.

»Selim I., Sultan und bald Kalif des Osmanischen Reiches, Herrscher der zwei Meere und Kontinente – und Dichter nach persischer Tradition. Er entmachtete 1512 seinen Vater und beseitigte ihn, und ebenso alle seine Verwandten, einschließlich sämtlicher Nachkommen, bis auf seinen Lieblingssohn und Erben.«

»Oh, wie grausam und blutig!«, rief der Mantikor begeistert. »Wo geht er hin? Kann ich ihm folgen?«

»Er wird die Mamelucken-Herrschaft beenden, und nein, du wirst nichts dergleichen tun. Dafür hat dich dein Muttervater nicht ausersehen.«

Kurus wich gerade noch einem berittenen Haufen aus, während er den Weg fortsetzte; plötzlich gerieten zwei Männer in Streit und fingen an zu kämpfen. Weitere mischten sich ein, und der Mantikor leckte sich gierig über die Zähne. Er verharrte, als ein Pferd auf halber Dünenhöhe mit einem schrillen Schrei stürzte, sich überschlug und samt Reiter herabgerutscht kam. Die anderen Pferde wurden scheu und konnten nur mit Mühe gehalten werden. Befehle schwirrten durch die Luft. Jemand stieg ab, sah nach Mann und Pferd, die sich beide nicht mehr regten, und saß wieder auf. »Weiter! Denen kann nur noch Gott helfen.«

Weiterhin herrschte Unruhe, Offiziere trieben die Soldaten mit Peitschen und Krummsäbeln voran.

»Schneller!«, schrie einer. »Bevor die Flut kommt! Los, los!«

Sie setzten sich wieder in Bewegung, das Durcheinander legte sich, und die Soldaten schritten eilig voran. Pferde und Kamele waren unruhig und störrisch, sie schrien und wieherten und mussten mit Gewalt angetrieben werden. Inzwischen musste jeder bis auf die Haut nass sein, und die Furcht vor einer heranrasenden Springflut wuchs. Regen in der Wüste gehörte zu den tödlichsten aller Gefahren, und es hieß nicht zu Unrecht, dass mehr Leute in der Wüste ertranken als im Meer.

Bald waren die Schemen hinter den Regenvorhängen verschwunden, man hörte nur noch von Ferne die Rufe, Tierlaute und Metallgeschepper.

Kurus blieb vor dem Kadaver mit dem toten Reiter stehen. Der Regen wusch das Blut aus den tödlichen Wunden, die beiden zugefügt worden waren.

Der Leib des Mantikors erzitterte. »Darf ich sie fressen? Ja? Bitte? Sie sind doch schon tot! Sie können keinen Einfluss mehr auf die Geschichte haben, alle sind weitergezogen!«

Der Getreue stieg ab. »Meinetwegen«, sagte er, obwohl er ahnte, dass das eine Menge Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Aber vermutlich würde es noch mehr Probleme geben, wenn er es ihm verweigerte.

Kurus machte sich zuerst an das Pferd, fetzte Sattel und Zaumzeug herunter und riss es mit Krallen und Zähnen in Stücke. In großen Brocken schlang er das dampfende Fleisch herunter, bis nur noch die Knochen übrig waren. Dann wandte er sich dem Reiter zu, warf ihn halb durch die Luft, während er ihm die Kleidung herunterriss, und dann fraß er den ersten Menschen seines Lebens.

Seine Augen glühten auf, und ein wildes Licht entzündete sich in ihnen. »Ahhh«, zischte er. »Menschenfleisch! Der wahre Genuss! Wie muss es erst sein, wenn es noch zuckt!«

»Wir müssen weiter«, mahnte der Getreue.

Der Mantikor wandte sich ihm zu. Seine drei Zahnreihen blitzten selbst durch den Regen. »Ich frage mich schon lange, ob dein Körper wohl menschlich ist. Wie mag er schmecken, frage ich mich zudem? Noch dazu, da du dich außerhalb der menschlichen Zeitlinie bewegst. Für dich gelten die Gesetze nicht …«

Er hatte es geahnt, dazu hatte es früher oder später kommen müssen. Das Dilemma des Getreuen war – er durfte den Mantikor nicht töten, um die Zeitlinie nicht zu zerstören, von der er selbst abhängig war. Er durfte die Bestie aber auch nicht zu sehr verletzen, da sie ihn sonst nicht mehr tragen konnte. Nach wie vor war er auf Kurus angewiesen, zu Fuß konnte er den Weg niemals schaffen.

Ein Kampf war unausweichlich, er würde seinen Diener nicht noch einmal beruhigen oder einschüchtern können. Wenn er nicht so schwach gewesen wäre, wäre es gar keine Frage gewesen, was er tun sollte. Doch im Moment war er ratlos.

Hastig sprang er zur Seite, als Kurus mit der rechten Pranke nach ihm schlug – immerhin noch mit eingezogenen Krallen.

»Ich bin kein Mensch und ganz sicher nicht nach deinem Geschmack«, stieß der Getreue hervor. »Ich sagte schon, an mir ist kaum Substanz.«

»Ich lasse es darauf ankommen.«

»Bisher warst du sehr artig. Du solltest nicht alles aufs Spiel setzen.«

»Mir doch egal!«

Kurus hatte sich entschieden. Mordlust glitzerte in seinen Augen, dass sie wie eiskalte, messerscharfe Kristalle wirkten. Sein Skorpionschwanz peitschte pfeifend durch den Regen.

»Töten«, zischte er. »Reißenfressenbluttrinken

Er sprang den Getreuen an, doch der hechtete zur anderen Seite, rollte sich herum, stieß sich ab und wich dem nächsten Prankenschlag aus.

»Bleib stehen!«, rief Kurus wütend. Er war groß und stark, aber unerfahren. Der Getreue hatte keine Mühe, seine Taktik zu durchschauen, doch es war anstrengend, außer Reichweite zu kommen. Er fing bald an zu keuchen, und der Regen nahm ihm zusätzlich die Sicht. Kurus hatte sich gerade gestärkt, und er war jung. Und sehr wütend. Nicht mehr lange, dann erwischte er seinen Herrn.

»Stell dich mir!«, schrie er.

»Ich habe ja nicht einmal eine Waffe«, erwiderte der Getreue. »Du hast deine Krallen, den Schwanz und die Zähne. Ich aber habe nur eine schwarze Hülle.«

Der Regen strömte immer noch, und die Stiefel des Getreuen versanken inzwischen bis zu den Knöcheln in den schnell strömenden Bächen. Dünen fingen an, abzurutschen. Die Knochen von Pferd und Reiter waren bereits unter schwerem nassem Sand verschüttet. Dennoch grub der Getreue hektisch darin herum, dann folgte ein trockener Knall. Hastig richtete er sich wieder auf und floh gerade rechtzeitig vor dem angreifenden Mantikor.

Der Getreue hatte Mühe, sich aufrecht zu halten, sein Umhang troff vor Nässe und ging immer mehr in Fetzen, und der Stand wurde unsicherer. Kurus machte sich jetzt einen Spaß daraus, ihn zu hetzen, wie jenes Kind ein paar Jahrhunderte später am Brunnen. Er hechelte und glühte förmlich vor Gier und Grausamkeit. Nun war vollends die Bestie in ihm erwacht, er war nicht mehr kontrollierbar.

Zumindest nicht auf diese Weise.

Der Getreue wurde nach vorn geschleudert, stürzte und rollte über den Boden, als Kurus ihn mehr oder minder zufällig mit einem Schwanzschlag erwischte.

»Hab dich!«, schrie er triumphierend. »Was mache ich jetzt mit dir? Vergifte ich dich mit meinem Stachel? Reiße ich dich in Stücke? Verschlinge ich dich ganz?«

»Nichts von alledem«, erwiderte der Getreue, er lag auf dem Rücken, und Kurus ragte über ihm auf.

»Was willst du denn machen? Du kannst nicht mehr entkommen!«

»Ich bin schon weg.«

Wutentbrannt schlug Kurus mit der Tatze zu, aber der Getreue war tatsächlich nicht mehr da, die Krallen schlugen Löcher in den Boden. Der Mantikor stieß einen zornigen Schrei aus. »Wie ist das möglich?«

»Die Zeit, Junge. Denkst du, wir wäre in der Lage, durch die Jahrhunderte zu reisen, wenn ich sie mir nicht zunutze machen könnte? Werde du nur so alt wie ich, dann wirst du verstehen.«

Der Mantikor fuhr herum, als er die heisere Stimme neben sich hörte, doch es war zu spät.

Der Getreue drehte den Spieß um, sprang nun ihn an, ihm direkt ins Gesicht, und riss den Arm nach vorn. In seiner Hand blitzte etwas Bleiches, Spitzes auf, und dann schrie Kurus auch schon schmerzerfüllt auf.

Mit aller Kraft trieb der Getreue ihm den Splitter einer Pferderippe durch die Nase, bis er steckenblieb. Gleichzeitig zog er einen langen dünnen Streifen Stoff hindurch, und noch während er damit beschäftigt war, griff er mit der anderen Hand in die Mähne und schwang sich auf den Rücken des Mantikors.

Kurus brüllte vor Pein, schüttelte sich heftig, bäumte sich auf, doch der Getreue saß fest und sicher in seinem Nacken, die Schenkel pressten den Hals zusammen. Dann riss er an der Stoffleine, und das Geschrei des Mantikors war vermutlich noch bis ins einundzwanzigste Jahrhundert zu hören. Sein Kopf ruckte hoch, um dem Zug nachzugeben, doch umso stärker wurde er. Der Getreue schleuderte das Seilende um den Hals des Mantikors, fing es auf der anderen Seite auf und verschnürte es wie zum Zaumzeug. Ähnlich wie bei einem Stier.

Außer sich vor Schmerz tobte Kurus durch die Wüste, vollführte groteske Sprünge, bäumte sich immer wieder auf, raste kreuz und quer, den Kopf nach oben gehalten. Der Getreue ließ sich nicht abschütteln, und fortwährend riss er am Seil, das in Kurus’ Nase verankert war, und weckte die Qual von neuem.

Als der Regen nachließ, gab der Mantikor auf. Schluchzend und wimmernd, mit zitternden Flanken, presste er sich an den Boden. »Bitte, hör auf! Es tut so weh, ich halte es nicht mehr aus! Bitte, ich tu alles, was du sagst! Ich werde nie wieder daran denken, dich zu fressen! Ich werde dich immer um Erlaubnis bitten! Du bist mein Herr!«

»Das hört sich schon besser an«, sagte der Getreue und lockerte den Zug etwas. Kurus atmete tief durch. Aus seiner geschundenen Nase troff Blut.

»Und jetzt hör mir zu, Welpe«, fuhr der Verhüllte fort. »Das nächste, was dran kommt, sind deine Ohren. Ich werde sie durchstechen und mit der Nase verbinden. Dann werde ich mehrere Fäden spannen, wie bei einer Harfe, und darauf spielen.«

»Oh nein, oh nein …«

»Es sei denn, du wirst endlich widerspruchslos gehorchen und dich an den Handel halten, den wir geschlossen haben. Am Ende der Reise bin ich dann vielleicht sogar großzügig und lasse dich am Leben. Aber das habe ich noch nicht entschieden. Es hängt ganz von deinem Verhalten ab.«

»Alles, was du willst, Herr, alles, alles«, heulte Kurus.

Typisch Bestie. Kaum erwischte man ihren wunden Punkt, zerfiel sie zu einem jämmerlichen rückgratlosen Fellsack.

»Du bist ein Tölpel«, stellte der Getreue fest. »Du musst noch viel lernen.«

»Ich werde ein eifriger Schüler sein …«

»Ich habe dir nichts mehr beizubringen. Du dienst mir nur noch als Zuhörer, während ich meine Erinnerungen auffrische.« Dann hieb er die Fersen in den Löwenleib. »Und jetzt vorwärts! Wir haben schon genug Zeit verloren. Auch auf dem Weg zurück kann ich nicht alles aufholen.«

Zumindest für den Augenblick war Kurus gezähmt. Aus Angst vor dem Schmerz lief er geschwind durch die Wüste. Er hatte seine Strategie vermutlich dahingehend geändert, dass er sich nun beeilte, um den Getreuen so schnell wie möglich loszuwerden.

Der Mann ohne Schatten tat so, als wenn gar nichts gewesen wäre. Zunächst war er ohnehin außer Gefecht gesetzt; halb ohnmächtig kauerte auf dem mächtigen Leib und kämpfte um sein verlöschendes Leben. Gierig saugte er die Kraft der Ley-Linie auf, doch es dauerte Stunden, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Kurus war viel zu beschäftigt mit seinem eigenen Schmerz, um das zu merken, und das war nur gut so.

Als er wieder bei sich war, teilte der Getreue weiterhin sein Wissen mit dem jungen Mantikor, ließ ihn ab und zu an einer Oase anhalten und trinken. Zu essen gab es nichts. Kurus hatte sich ausreichend gestärkt, das musste eine Weile vorhalten.

Erneut verschwammen die Grenzen um sie herum, in der Mittagsglut, als die Hitzeschwaden ohnehin jede Menge Trugbilder vorgaukelten. Der Getreue musste unwillkürlich an Morgana denken, doch er ging nicht davon aus, dass sie hier sein würde. Seit Island dürfte auch sie mit ihren geschwundenen Kräften zu kämpfen haben. Er stutzte kurz, als er merkte, dass wieder eine bruchstückhafte Erinnerung zurückgekehrt war, die er in keinen Zusammenhang setzen konnte. Morgana war auf Island gewesen? Warum?

 

»Meister, was ist das?«, fragte Kurus, als sie wieder einmal auf einer hohen Düne anhielten, um sich zu orientieren.

»Al-Jaghbub wird sie später genannt – die große Oase kurz vor der Grenze zu Ägypten, nicht weit von Siwa entfernt. Fünfzehntausend Jahre in der Zeit zurück, und beide Oasen sind miteinander vereint und bilden das Zentrum einer gewaltigen Stadt und reichem Umland.«

»Dort unten sind Reiter … die andere Reiter angreifen?«

»Die Banu Hilal. Wir sind jetzt um 730 angelangt. Die Banu Hilal sind ein kriegerischer Beduinenstamm, der überall Angst und Schrecken verbreitet, wie in Europa und Asien die Hunnen zuvor und die Magyaren danach. Die dort unten scheinen eine allein handelnde Räubertruppe zu sein, die sich auf Karawanen spezialisiert hat – die libyschen Berber, die vor Jahrhunderten in dieses Land zogen.«

»Muss ich das verstehen?«, fragte Kurus vorsichtig.

»Nein. Lauf hinunter, ich will mir das näher ansehen. Irgendetwas sagt mir, dass mich dort unten etwas erwartet. Das erste bedeutende Ziel der Reise ist erreicht.«

Kurus gehorchte, doch der Getreue riss trotzdem kurz am Seil, um ihn gar nicht erst auf den Ansatz eines aufrührerischen Gedankens zu bringen.

Der Kampf war in vollem Gange, als sie ankamen. Der Getreue fesselte Kurus so, dass jede Bewegung sofort grausamen Schmerz auslöste, und ließ ihn hinter einer Düne zurück. Einer unbestimmten Ahnung folgend, bewegte er sich auf den Kampf zu. Die Libyer gaben sich keineswegs so leicht geschlagen, sie waren schwer bewaffnet und setzten sich gegen die Banu Hilal mit aller Gewalt zur Wehr. Noch war nicht klar, wer die Oberhand behalten würde. Am Rand stand eine hünenhafte, schwarz gekleidete Gestalt mit übergeschlagener Kapuze, die sich umdrehte, als der Getreue sich näherte.

»Da bist du«, sagte der Andere.

»Bist du meinetwegen hier? Ich habe es vergessen …«

»Aus diesem Grund.«

»Du hast gewusst, was geschehen wird?«

»Nein. Aber unser Bruder schickte mich hierher.«

Der Andere trat nahe an den Getreuen heran und legte ihm die behandschuhte Hand unter der Kapuze auf die Stirn. Er fühlte, wie Kraft ihn durchströmte … seine eigene, die er einst besessen hatte.

»Um nach Atlantis zu gelangen, brauchst du mehr Stärke. Ich nehme an, deswegen begegnen wir uns.«

»Du weißt, dass ich dorthin will?«

»Wohin sonst?«

»Ich weiß nicht mehr, was geschah. Auf Island …«

»Ich habe keine Kenntnis darüber. Ich bin hier, ich war nicht dort. Es spielt keine Rolle. Du wirst dich bald wieder erinnern. Dann ist es nur ein kurzer Schritt zurück.«

Der Getreue spürte, wie er mehr an Substanz gewann, wie sich ihm der weitere Pfad eröffnete. Und es war ein tröstlicher Gedanke zu wissen, dass sein Bruder über ihn wachte und ihm den Weg bereitete. Das bedeutete, es war noch nicht zu spät.

»Aber es ist sehr knapp«, sagte der Andere, der seine Gedanken hören konnte. »So nah am Abgrund waren wir noch nie. Wenn einer der Großen stirbt, kann das nicht unbemerkt bleiben …«

»Wer starb?«, fragte der Getreue. »Passierte es auf Island?«

»Ich weiß es nicht, denn ich stamme nicht aus deiner Zeit. Aber die Auswirkungen sind im Gefüge zu spüren. Jemand wurde ausgelöscht, der Bestandteil der Gesamtheit war. Und wenn ich mir deinen Zustand so anschaue, bin ich ziemlich sicher, dass du für die Auslöschung verantwortlich bist.«

»Kann ich es …«

»Rückgängig machen? Rechtzeitig verhindern? Nein. Es ist bereits geschehen. Nichts kann es mehr ändern. Wir können nur noch die Scherben aufsammeln und versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Doch ich spüre den Verlust … ein Schmerz, den ich wohl nie wieder verlieren werde, auch wenn ich erst zu deiner Zeit verstehen werde.«

»Ich glaube, dort wirst du nicht ankommen, da ich dort war. Du wirst nicht ständig hier in der Menschenwelt sein, wie bisher auch. Sobald du die Aufgabe in deiner Zeit beendet hast, wirst du gehen. Dann beginnen wir von vorn.«

Der Andere nickte. »So wird es sein. Nun eile dich, ich habe dir so viel gegeben, wie ich konnte. Ist das übrigens ein Mantikor, auf dem du reitest?«

»Ja.«

»Gefällt mir. Wir sind, der wir sind, nicht wahr?«

»Ich hoffe, wir bleiben es.«

Der Getreue drehte sich um und kehrte zur Düne zurück. Kurus hatte brav gewartet und sagte auch jetzt nichts, als sein Herr die Verschnürung löste. Er sprang ihm auf den Rücken und trieb ihn an.

»Nächste Etappe«, sagte er.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?