Buch lesen: «Verrat der Intellektuellen»

Schriftart:

Reinhardt

Verrat

der

Intellektuellen


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Stephan Reinhardt

Verrat der Intellektuellen

Schleifspuren durch die Republik

Mit einem Nachwort von

Hermann Peter Piwitt

Essay 13


Stephan Reinhardt, »Verrat der Intellektuellen« (Essay 13)

© 2008 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Thorsten Hartmann

Umschlag: Thorsten Hartmann unter Verwendung eines Photos

von Sebastian Runge

ISBN 978-3-938568-64-4

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

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Für Andreas (†) und Jan (†)

Hollywood

Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen

Gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.

Hoffnungsvoll

Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.

(Bertolt Brecht)

Die Hoffenden

Worauf wartet ihr?

Daß die Tauben mit sich reden lassen

Und daß die Unersättlichen

Euch etwas abgeben!

Die Wölfe werden euch nähren

statt euch zu verschlingen!

Aus Freundlichkeit

Werden die Tiger euch einladen

Ihnen die Zähne zu ziehen!

Darauf wartet ihr!

(Bertolt Brecht)

Ich bin deutsch, die andern sind undeutsch; ich muß dran

festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut.

(Victor Klemperer, Dresden, am 11. Mai 1942)

Alle Menschen sind frei und gleich

an Würde und Rechten geboren.

(Anfangssatz des 1. Artikels der Allgemeinen

Erklärung der Menschenrechte von 1948)

Wenn Sie in einem Staat keinerlei Lärm von

Streitigkeiten vernehmen, so können Sie sicher sein, daß es in ihm keine Freiheit gibt.

(Charles de Secondat Montesquieu)

Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, daß sein

Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in

der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht

mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein

enger Deutscher sein will.

(Heinrich Heine)

Der neue Staat ist gegen die Intellektuellen entstanden.

Alles, was sich im letzten Jahrzehnt zu den Intellektuellen

rechnete, bekämpfte das Entstehen dieses neuen Staates.

(Gottfried Benn, Rundfunkrede, April 1933:

»Der neue Staat und die Intellektuellen«.)

Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht

entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in

Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische

Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation

der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz

bilden können.

(Jürgen Habermas)

Wir brauchen keine weitere Aufklärung mehr. Wir sind

aufgeklärt bis zur innersten Zerrüttung.

(Botho Strauß, Rede zum

Gotthold-Ephraim-Lessing-Preis 2001)

Wenn der Fisch stinkt, mußt du sagen, daß er stinkt, und

wenn er nicht stinkt, behaupte nicht, daß er stinke.

(Michael Walzer)

INHALT

Einleitung

I Ist der universalisierende Intellektuelle passé? / Verrat der Intellektuellen?

II Auf dem deutschen Sonderweg

1. Ethnische Homogenität und übersteigertes Selbstwertgefühl

2. »Der Krieg ist der Vater aller Dinge« oder »Pfiff und Schliff« als »permanente Tatsache« – Ernst Jünger I

3. Gottfried Benn: »Ich erkläre mich ganz persönlich für den neuen Staat, weil es mein Volk ist, das sich hier seinen Weg bahnt«

4. »Die totale Mobilmachung« – Jünger II

5. Ernst Nolte kopiert Ernst Jünger im »Historikerstreit«

6. Galionsfigur der Neuen Rechten

7. Gegenaufklärung: Botho Strauß‘ »Anschwellender Bocksgesang« I

8. Journalistenbeschimpfung als Sündenbocksuche

9. Zerfetzte Gesichter oder eine neue Ästhetik des Schreckens

10. Demokratische Offenheit für Sinnangebote wird mißverstanden als orientierungslose Beliebigkeit: Joachim Fest, Arnulf Baring et alii

III Stalins Säuberungen und die Moskauer Prozesse

1. Julien Benda: Recht ist zeitlich – und abhängig von jeweiligen Machtverhältnissen, Gerechtigkeit nicht

2. Stalins »Säuberungen« und die Moskauer Prozesse

3. Sartre: »In der SU herrscht uneingeschränkte Freiheit der Kritik«

IV Nationalgefühl / Erinnerungspolitik / Migration und allerlei Kehrtwendungen von Links nach Rechts

1. Demokratie als Streit und offene Gesellschaftsform, Diktatur und Theokratie als geschlossene

2. Erinnerungspolitik I

3. Der Fall Martin Hohmann

4. Neues Nationalgefühl und nationale Identität

5. Verfassungspatriotismus

6. Von Links nach Rechts – Walsers Wechselfieber

7. Erinnerungspolitik II – Geschichtsrevisionismus

8. Erinnerungspolitik III

9. Martin Walser: »Bis ins Unbewußte hinein geprägt von den Idealen und Demagogien seiner Zeit«?

10. Tendenzieller Antisemitismus?

11. Helmut Kohls Lautsprecher: Der Intellektuelle als Wasserträger

12. Gegenaufklärung: Botho Strauß‘ »Anschwellender Bocksgesang« II

13. Ethnische Homogenität oder Das Boot ist voll I

14. Aufklärung als das Böse I

15. Aufklärung als das Böse II

16. Rechte Verschwörungstheorie oder »Wir sind mehr als die Indianer«

17. Ethnische Homogenität oder Das Boot ist voll II

18. Toleranz als »Gift«?

19. Migration als Dauerthema

20. Leitkultur Aufklärung und Humanismus versus Deutsche Leitkultur

21. Aufklärung als das Böse III

22. Schwundstufe der Straußschen Kulturkritik

23. »Weißer Mann – was nun?«

24. Verlangen nach der alles leitenden Idee

25. Wiederbelebung des Religiösen

26. »Gott ist nicht tot. Jeder Christbaum zeugt von einer Tradition, die mehr ist als Kulisse.«

27. Uwe Tellkamp: »Plädoyer für eine konservative Revolution«

28. Morbus

29. »Der Staat war der Feind, nicht die Väter«

30. Thomas Schmid, heute verantwortlich für alle »Welt«-Titel im Axel-Springer-Konzern

31. Udo di Fabio, heute Verfassungsrichter

32. Matthias Matussek, ehemaliger Kulturleiter des »Spiegel«

33. Deutschnational, Typus Augstein

34. Wende, Wiedervereinigung

35. Antifaschismus – eine Legende?

36. »Überhaupt wurzellos«: Der ehemalige »Ossi« im Westen I

37. »Überhaupt wurzellos«: Der ehemalige »Ossi« im Westen II

38. Der »Wessi« wittert seine Chance: Toterklärungen der Utopie

39. Rechts-links

40. Noberto Bobbio: »Polarsterne«

41. Ist Links sensibler als Rechts gegenüber Rassismus, Nationalismus, Neonazitum?

42. Erinnerungspolitik IV

43. »Die tausend Augen des Doktor PC.« (Dieter E. Zimmer)

44. Political Correctness / »Terror der Gutwilligen« / »Gutmensch«

45. Der kriegerische Zerfall Jugoslawiens

46. Offene Wahrheit oder Wahrnehmungsschwäche? Milosevic und Peter Handke

47. Geniebonus, Geniekult und Heiligsprechung

V Option Krieg

1. Von »Nie wieder Krieg!« zu »Wieder Krieg«

2. »Humanistischer Fundamentalismus«?

3. UNO

4. Erster Golfkrieg: 16. Januar 1991

5. Intellektuelle im Dienste »propagandistischer Übertreibung«

6. »Kultur des Krieges«?

7. Deutsches Militär in den Balkankriegen statt Kriegsvermeidungsstrategien

8. »Computer-Killer aus 5000 Meter Höhe« und »Irrfahrt im Einbaum«

9. »Die Bereitschaft, nötigenfalls auch für sein Vaterland zu sterben, ist und bleibt ein Prüfstein republikanischen Bürgersinns«

10. Ästhetik des Schreckens des Krieges, »wahrnehmungstechnisch«

11. Der 11. September 2001 wird zur historischen Zäsur

12. »Menschenrechte ins Reich der Utopien versetzt«?

13. »Krieg gegen den Terrorismus« und »Kreuzzug gegen das Böse«

14. »Bananenrepublik ohne Bananen«

15. »Krieg gegen den Terror« als Rechtfertigung des permanenten Ausnahmezustandes

16. Vorwurf des Antiamerikanismus: wohlfeil

17. »What We‘re Fighting For« (»Wofür wir kämpfen«)

18. »Brief von Bürgern der Vereinigten Staaten an Freunde in Europa«

19. »Not in our name«

20. Gerhard Schröder: Ende der »uneingeschränkten Solidarität«

21. Zweiter Irakkrieg: 20. März 2003

22. »Gewaltexperte« Wolfgang Sofsky

23. »Irak-Krieg als Exempel: Ohne Hegemonialmacht kein Weltfrieden«, will sagen: »Weltgewaltordnung«

24. »Europas Wiedergeburt«? Demonstrationen gegen den Krieg

25. Pazifisten sind Steigbügelhalter des Diktators Saddam Hussein

26. »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit«

27. »War is peace« – Newspeak / Sprachregelung

28. »Geld für gute Stimmung« im »Sauberen Krieg« durch Embedded Journalists

29. Warrior statt soldier – private Söldner und Killer übernehmen Schmutzarbeit

30. Enzensbergers »Schreckens Männer«

31. Harold Pinters Nobelpreisrede und deutsche Feuilletonintellektuelle

VI Soziale Sensibilität und Solidarität

1. Gleichheit nicht als Gleichmacherei, sondern als Verteilungsgerechtigkeit

2. »Bedingungsloser Marktopportunismus«

3. »Fehlender Leistungswille« in der »Unterschicht« oder »Politik zerstört Aufstiegswillen«

4. Wer produziert das wachsende Heer der Arbeitslosen?

5. Globalisierung als Lohndumping und Erpressung des Staates

6. Sozialstaatsschmähung: »Wohlgefühlt haben sich in diesem Sozialstaat immer nur jene, die ihn mißbrauchten«

7. »Soziale Exklusion« gefährdet die Demokratie

VII Totsagungen und Wiederbelebungsversuche des Intellektuellen

1. Entmoralisierung

2. Der fliegende Robert

3. Expertokratie und Totsagung des Intellektuellen oder »Das eigentlich Politische ist nicht Sache der Experten«

VIII Normale Demokratie oder Ist der Schoß fruchtbar noch, aus dem das Unheil kroch?

Hermann Peter Piwitt: Nachwort

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Seit einiger Zeit wird die Legende gepflegt, daß spätestens seit 1998, als Rot-Grün mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer eine neue Regierung stellte, die Achtundsechziger die Geschicke und das geistige Klima der Bundesrepublik bestimmten und prägten. Die Linken, heißt es auf der Rechten, hätten schon lange das Sagen. »Jetzt«, erklärte ganz in diesem Sinne im März 1997 enttäuscht der Schriftsteller Martin Walser in seinem Arbeitszimmer am Ufer des Bodensees drei angereisten Redakteuren der »Frankfurter Rundschau«: »Jetzt sind die 68er die Mächtigen. Das sind Linke.« Und, fügte er hinzu, die »sind hemmungsloser, rücksichtsloser, dogmatischer, polemischer als die früheren«1. Das dürfte, von heute aus betrachtet, eine Übertreibung sein, mehr noch: Ein Irrtum. Denn in Wirklichkeit sind die deutschen Intellektuellen schon lange nicht mehr links. Etliche haben sich parallel zu ihrer Karriere ziemlich bereit- und geldwillig entweder dem Neoliberalismus verschrieben oder sind auf dem Vehikel konservativer Kulturkritik nach rechts geschwenkt, und der Mainstream läßt sich mittlerweile ohnehin den Wind von rechts in den Rücken blasen. Dabei kommt es zu merkwürdigen Konfusionen und Umwertungsanstrengungen. Da vergleicht und setzt nahezu gleich der Büchnerpreisträger Martin Mosebach in seiner Darmstädter Dankesrede am 28. Oktober 2007 Antoine de Saint-Just – einen der blutrünstigen Gefolgsmänner Robespierres in der Französischen Revolution – mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, der in seiner Posener Rede vom Oktober 1943 den Massenmord an den Juden rechtfertigte. Mosebachs reaktionäre Idee fixe: Französische Revolution und die ihr zugrundeliegende Aufklärung markierten einen Irrweg. Die Zeit vor der Aufklärung sei dagegen eine gute Zeit gewesen. Wer aber die »wechselseitigen Grausamkeiten« wie die im Französischen Bürgerkrieg, wendet der Historiker Heinrich August Winkler zu Recht ein, gleichsetzt mit dem rassischen Genocid der Nazis, begeht Geschichtsklitterung2. Und auf Mosebachs bizarr-reaktionärer Refeudalisierung setzt, dem von Fellows und Zeitgeist gefeaturten Büchner-Preisträger zur Seite springend, Alexander Gauland, Herausgeber der »Märkischen Allgemeinen«, im November 2007 in der »Welt« noch eins drauf: die Französische Revolution habe durch ihre »Verachtung von Traditionen und jahrhundertealter Erfahrung«, dekreditiert er, der ganzen Moderne ihre »intolerante, menschenverachtende Richtung« gegeben. Überhaupt: die Moderne sei ein einziger gräßlicher Irrweg, sichtbar heute in Bauhaus-Architektur, Regietheater, Genderstudy und abstrakten Bildern – sie sei eine, so auch der den Essay redaktionell verantwortende Redakteur »MS«, »potentiell terroristische Anmaßung«3. Geht es ideologisch verbiesteter und ästhetisch einfältiger? Oder ein halbes Jahr zuvor: im Mai 2007 erhielt ein leidenschaftlicher Antiaufklärer und hartnäckiger Jüngerianer wie Karl Heinz Bohrer einen Preis, der dem leidenschaftlichen Aufklärer und Antijüngerianer Heinrich Mann gewidmet ist. Oder vor Jahren, 2001, bedachte eine desorientierte Jury den gnadenlosen Lessing-Verächter Botho Strauß mit just dem Gotthold-Ephraim-Lessing-Preis. Verwirrter geht’s nimmer.

Da wir immer mit einem Fuß in der Vergangenheit stehen – sonst stünden wir nicht in der Gegenwart –, haben wir es auch immer mit dieser Vergangenheit zu tun. Oft nehmen wir sie gar nicht mehr wahr, dann wiederum haben wir es fast täglich mit ihr zu tun. Diese Vergangenheitsanteile kommen uns dann wie ein Bleigerüst vor. Die Zeitungen sowie Fernseh- und Rundfunkprogramme sind voll von dem, was man das konservative ideologische Grundgerüst Deutschlands, seinen unter- und oberirdischen konservativen Mainstream nennen könnte: Wert gelegt wird wie eh und je auf ethnische Homogenität, auf nationale, also deutschnationale Verhaftung und, was auch immer das sei, auf deutsche Identität, »Leitkultur«, deutsches Selbstbewußtsein.

Ebendas lebte mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem Scheitern der DDR Ende der achtziger Jahre sowie der Wiedervereinigung der deutschen Teilstaaten 1990 wieder auf. Auch wenn Helmut Kohl, um in diesem Umbruch die ihm in den Schoß gefallene Vereinigung nicht zu gefährden, das deutschnationale Bewußtsein etwa seines damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble europäisch dämpfte, das deutsche Selbstbewußtsein war damit keineswegs erloschen. Wie auch? Endlich war vereint, »was zusammengehörte« (Willy Brandt) – eine historische Zäsur, die freilich die »Linke« zu erheblichen Teilen auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Die fürchtete die Schäubles und Augsteins und war voller Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung. Dafür wurde sie heftig gescholten und auch bestraft. Das einst rote Sachsen zum Beispiel wählte nun tief schwarz. Mit der »Linken« verlor dabei auch die Figur des Intellektuellen an Zustimmung. Sie wurde abgewertet. Und spektakulär wechselten etliche der meinungsführenden Intellektuellen – Martin Walser, Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger – vom linken Meinungsspektrum hinüber zum rechten und rechtsliberalen. Begleitet wurden solche Seitenwechsel in den Feuilletons von der Behauptung, die bis dahin nützliche Unterscheidungshilfe Rechts-links habe ihre Berechtigung verloren. Der Frage sei hier ebenfalls nachgegangen: Hat sie das wirklich? Und gibt es neben völlig plausiblen Überzeugungswechseln aus besserer Einsicht nicht auch Formen intellektuellen Verrats – wie sie zum Beispiel der französische Sozialkritiker Julien Benda in seiner Streitschrift »Der Verrat der Intellektuellen« (deutsch 1978) beschrieben hat? Wenn sich etwa Geistesarbeiter zum Sprachrohr von Rassismus, Nationalismus und Partikularismus machen lassen oder den einzelnen Menschen opfern auf dem Altar eines Kollektivs – einer Nation, eines Staates, einer Region, einer Gruppe – oder einer zum Dogma erstarrten Geschichtsphilosophie? Auch Intellektuelle sind käuflich. Jahrzehntelang zum Beispiel richtete der Schriftsteller Bertolt Brecht sein Augenmerk auf den Mißbrauch des Intellekts durch jene, für die er den Neologismus »Tui« – in der Umkehrung »Tellekt-Uell-In« – prägte. »Tui« war für Brecht ein Journalist, Schriftsteller, Wissenschaftler, der seine Meinungen, Ansichten, Überzeugungen auf dem Meinungsmarkt verkaufte im Sinne des jeweils »gewünschten Ideologie«-Bedarfs4. Dergleichen – daß Geist nach Geld geht – weisen Intellektuelle gewöhnlich weit von sich. Was sie indes für freie Selbstwahl halten, ist oft Selbstpreisgabe, Resultat eingestandener oder uneingestandener Abhängigkeiten, Hierarchien und Machtverhältnisse. Sich dessen bewußt zu werden, daß eben auch Geist abhängig ist von Geld, also erhältlich, darauf verweist der französische Soziologe Pierre Bourdieu in »Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen« (1989) mit dem lapidaren Hinweis: »Es ist gerade die typische Illusion des Intellektuellen, zu glauben, er habe keine Illusionen und es gebe keine Grenzen: Er analysiert ständig die Grenzen der anderen und vergißt darüber seine eigene Grenze, eben die, zu glauben, es gäbe keine.«5 Aber nicht nur Geld setzt Grenzen. Lange Zeit, seit Beginn des 19. Jahrhunderts, hatte sich Deutschland eingegrenzt auf dem Sonderweg des Nationalismus, bis es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Gestalt des Teilstaates Bundesrepublik durch die westlichen Sieger endlich zum Anschluß gezwungen wurde an die Wertewelt der Demokratie und damit auch – rückwärtsgewandt – der Aufklärung. Die von Aufklärung, Humanismus, Pazifismus und Vernunft geprägten Ressourcen und Reserven waren im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik zu schwach, um der stetigen Militarisierung des Denkens durch rassistische und nationale Superioritätsphantasmen etwas entgegenzusetzen. Krieg, lange schon eine ganz natürliche Option, wurde in den zehner Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts herbeigesehnt als metaphyisches Reinigungsgewitter. Vernunft und Denken erstarrten dann unter der Herrschaft der Nationalsozialisten vollends im »Dritten Reich«, das Europa und Teile der Welt mit dem Zweiten Weltkrieg überzog.

Heute ist die Bundesrepublik, zu der 1990 die ehemalige DDR hinzukam, eine Demokratie. Und sie ist – noch immer Exportweltmeister und seit 2006/2007 in der Gunst einer neuen Konjunktur –, scheint es, frei von allen Superioritätsgefühlen. Aber sind die Anfechtungen der Vergangenheit wirklich ein für allemal passé? Die Überbetonung des Deutschnationalen. Wie ist das zu verstehen: Wenn zum Beispiel vermehrt im gesellschaftlichen Spektrum von Mitte-rechts deutsche Identität, »deutsche Leitkultur« gefordert werden oder eine »Erinnerungskultur«, die mit vielerlei rhetorischen Floskeln auf eine Relativierung oder Revision des »Dritten Reiches« und seiner Verbrechen hinausläuft? Wenn so der konservative Historiker Karlheinz Weißmann propagiert, daß an das wiedervereinte Deutschland real- und machtpolitisch der »Rückruf in Geschichte«6 ergangen sei? Oder wenn das Rassismus-Axiom von der ethnischen Homogenität in der bundesdeutschen Migrationspolitik immer wieder aufs neue bestätigt wird durch die fremdenfeindliche Haltung des »Das Boot ist voll«? Hier zeigt sich zum Beispiel, wenn unerbittlich auf dem Deutschnationalen und ethnischer Homogenität bestanden wird, daß die angeblich überflüssige Unterscheidungshilfe Rechts-links durchaus sinnvoll ist. Mitte-rechts argumentiert, geht es um Migration und Deutschnationales, hartleibig konservativ bis reaktionär. Wo es um das Andere, das Fremde, um Minderheiten geht, ist Links dagegen offener und sensibler – ebenso wie in Fragen sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. Wobei im Falle der größeren Parteien CDU/ CSU und SPD deren jeweils linke Flügel in Themen und Thesen einander immer ähnlicher geworden sind und miteinander konkurrieren – vor allem, nachdem die SPD mit »Agenda 2010« und Hartz IV ihr soziales Gewissen auf dem Altar der Marktwirtschaft leichtfertig in Frage stellt. Urteilsfähige Bürger und kritische Begleiter gesellschaftlicher, staatlicher Zustände und Umstände sind deshalb auch heute nicht überflüssig. Im Gegenteil, äußerst nützlich für die Qualität einer Demokratie. Man stelle sich zum Beispiel vor: Als der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger am 11. April 2007 in seiner Trauerrede den früheren Ministerpräsidenten Hans Filbinger wahrheitswidrig in die Nähe des Widerstands gegen Hitler rückte und bemerkte: »Filbinger war kein Nationalsozialist. Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebensowenig entziehen wie Millionen anderer … Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte«, und es hätte keinen Widerspruch gegeben – von Historikern und Intellektuellen und dem »Zentralrat der Juden in Deutschland«? Hätte sich dann ein Technokrat wie Oettinger, der rechten Redenschreibern aus dem Umkreis des 1979 von Filbinger selbst gegründeten stockkonservativen »Think Tanks« »Studienzentrum Weikersheim«7 aufgesessen war, für seinen »Fehler« entschuldigt?8 Auch in diesem Falle zeigte sich: Der innenpolitische Wert des »Zentralrats der Juden in Deutschland« für den Demokratie- und Minderheitenschutz in der Bundesrepublik ist ganz erheblich, seine Verlautbarungen zur Regierungspolitik Israels folgen anderen Interessen. Exemplarisch zum Ausdruck gebracht hat das der Vorsitzende des Zentralrats Paul Spiegel während seines Grußworts auf dem CDU-Parteitag in Frankfurt/Main am 17. Juni 2002: »Wir Juden fühlen uns wohl in diesem Land, das inzwischen für bereits zwei Generationen von Juden zu ihrem Geburtsland geworden ist. Allerdings hat die Shoah Folgen gezeitigt, denen wir Juden uns nicht mehr entziehen können. Wir nehmen nichts mehr als selbstverständlich hin … Als Minorität, die wir seit Jahrtausenden in der Diaspora sind, ist es kein Wunder, daß Juden eine Art sechsten Sinn, eine besondere Sensibilität für Abweichungen, selbst der kleinsten Art im anfälligen und zerbrechlichen Gefüge menschlichen Miteinanders entwickelt haben. Kritiker nennen diesen sechsten Sinn gern Hypersensibilität oder gar Hysterie. Wir sehen das anders. Diese besondere Wachsamkeit, die für uns zur zweiten Natur geworden ist, ja werden mußte, hat uns häufig das Leben gerettet. Seitdem sind wir gewarnt, seitdem wissen wir, daß wir stets auch das Undenkbare mitdenken müssen, wenn es um unsere Sicherheit und die anderer Minderheiten geht.«9 »Sensibilität für Abweichungen«, Mitgefühl für Andere, Fremde, für Minderheiten ist eine menschliche Grundtugend für jede und jeden, auch für Intellektuelle.

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