Familienglück im Klimawandel

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Familienglück im Klimawandel
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Familienglück im Klimawandel

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Eine scheinbar ganz normale Kleinfamilie im Schwarzwald: Vater Joachim ist Anwalt, Mutter Tina Ergotherapeutin und ihr Sohn Simon geht in die vierte Klasse. Doch das traute Idyll zerplatzt schon auf den ersten Seiten, denn es geschieht ein Mord – ein Mord aus gekränktem Stolz. Er ruft ein engelartiges Wesen namens Luna auf den Plan, das Joachim kräftig die Leviten liest und Tina tröstend zur Seite steht. Was ist geschehen? Tina hat in Theo einen Mann gefunden, der ihr völlig neue Impulse gibt, und Joachim mit Franziska eine Frau, die besser in sein Lebensschema passt. Wie soll Simon sich entscheiden? Und was hat die Geschichte von Karo und Wilja aus dem Berlin der Kriegsjahre damit zu tun?

All dies erfährt der Leser im Verlauf einer amüsanten und zugleich inspirierenden Geschichte, die verschiedene Handlungsstränge und Zeitebenen miteinander verknüpft. Sie beinhaltet viele Lebensweisheiten und beschreibt konkrete Methoden zur Selbsthilfe für Menschen in ähnlichen Situationen. Lassen Sie sich verzaubern von Luna und Max mit ihren Botschaften aus einer anderen Dimension zu ganz alltäglichen Problemen wie Ehekrise, Scheidung und einem Tauziehen um das gemeinsame Kind.

Stella Borny schreibt seit ihrer Jugend Tagebuch und Fantasiegeschichten. Als Therapeutin für Körper, Geist und Seele sind ihr die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Schicksalen begegnet. Außerdem hat sie schon lange Kontakt zur medialen Ebene. Auf ihren Reisen nach Indien, China, Südostasien und Nordafrika kam sie mit anderen Kulturkreisen in Kontakt. Sie ist geschieden und hat zwei erwachsene Kinder.

Stella Borny

Familienglück

im Klimawandel

Roman

epubli

Die Handlung des Romans und seine Figuren sind frei erfunden.

Impressum:

Familienglück im Klimawandel

Stella Borny

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Stella Borny

Lektorat und Co-Autor: Tobias Mülhausen

Cover: Stella Borny

ISBN 978-3-8442-6571-2

Inhalt

Vorwort

Waidmanns Heil

Theophiles

Lunaception

Das Ultimatum

Der zerbrochene Stab

Dornröschen wacht auf

Das chinesische Buch

Abschied vom Tannenhof

Das Kind wird mobil

Cappuccino

Karo und Wilja

Heimkehr in die Ferne

Sommer im Winter

Der gleiche Sender

Lokohade und Ribabellen

Das weite Meer

Schäferstündchen

Klare Verhältnisse

Der Rosenbusch

Der Ernst des Lebens beginnt

Hari Chutney Pulao

Bunte Traumwelten

Die Quelle im Wald

Der schwarze Kater

Fromme Wünsche

Schneewittchen

Inquisition

Alles neu macht der Mai

Der Duft von Erde

Loslassen

Zauberworte

Berlin

Mit Pauken und Trompeten

Die Heilkraft der Natur

Der allerletzte Schuss

Eine uralte Bäumin

Wilja und Karo

Auf der Schwelle zum Mann

Die Glocken läuten

Tantrische Träume

Veränderungen in Ost und West

Zero

Der große und der kleine Junge

Das Familienmuseum

Liebevolle Botschaften

Der Ruf der Wildgänse

Marrakesch

Blau-schwarze Tinte

Die Liebe und das Leben

Lauter Dreiecksgeschichten

Offene Rechnungen

Die fehlenden Teile des Puzzles

Das Hochzeitskleid

So nah ist Anatolien

Eine viel zu schwere Erblast

Bella Isabella

Mandala

Abgrenzung

Heiße Steine

Die Läuterung beginnt

Unsere kleine Stadt

Bonjour Madame Bocuse

Morgendämmerung

Es ist nie zu spät

Verschlossene Türen

Die Blüte öffnet sich

Die Liebe ist langmütig

Finale mit Luna

Nachwort

Vorwort

Das Licht wird weicher im September

und der Blick in den Spiegel sanfter.

Silberfäden blitzen auf in meinem Haar

und Lachfältchen umspielen meine Augen,

wenn ich mir ein freundliches Gesicht zeige.

Vielleicht wachse ich nun doch allmählich

in meine eigene Autorität hinein.

Geht es dir ähnlich?

„Was meinst du damit?“, fragt mich meine Freundin, als sie diese Zeilen liest. Ich antworte ihr, dass meine innere Autorität, geformt von meiner Lebensgeschichte, viele verschiedene Aspekte hat. Sie lässt mich Grenzen ziehen und sie verbindet mich gleichzeitig mit anderen Menschen. All die Erfahrungen, Begegnungen, Liebesbeziehungen, Trennungen und die Erkenntnisse daraus haben meine Autorität gebildet. Sie hat etwas zu tun mit Selbstwert.

Ein leises Anklopfen schickt sie mir manchmal, begleitet von einem Gefühl des Unbehagens, eine bestimmte Situation nicht mehr ertragen zu wollen. Höre ich auf dieses Gefühl, dann treffe ich irgendwann die Entscheidung, etwas zu verändern. Meine Autorität jubelt, sie braucht mir keine deutlicheren Zeichen mehr zu schicken wie zum Beispiel eine Krankheit oder einen Unfall.

Sie macht mir bewusst, dass ich nun endlich erwachsen bin und selbst verantwortlich für all das, was ich tue und was ich sein lasse. Sie ist eine freundliche Instanz und schenkt mir Klarheit in der Auseinandersetzung mit meinem Umfeld. Sie verleiht mir die Ausstrahlung, mit der ich von anderen wahrgenommen werde. Sie vermittelt mir das Gefühl, ernst genommen zu werden und kein kleines Kind mehr zu sein, dem andere vorschreiben, was es darf und was nicht.

Meine Autorität hat nichts mit Dominanz zu tun, sondern wurzelt tief in meinem Herzen. Ihre Botschaft lautet: „Du bist jetzt erwachsen und stehst zu deinen Entscheidungen, selbst wenn damit unangenehme Konsequenzen verbunden sind. Du hast es so gewollt und deshalb ist es gut so.“

„Kannst du dich wiedererkennen?“, frage ich meine Freundin. Sie nickt und beginnt zu lesen. Sie taucht ein in eine Geschichte, bei der es genau darum geht.

Ich bin dankbar für alle Begegnungen in meinem Leben, die mich zu dieser Geschichte und ihren Figuren inspiriert haben, allen Tinas, Theos und Joachims oder wie auch immer sie in der Realität heißen mögen. Ich danke Wilja für seinen Beitrag aus einer anderen Zeitepoche und den gechannelten Wesen Luna und Max für ihre einfühlsamen Worte.

Mögen alle, die sich von den Inhalten dieses Buches angesprochen fühlen, daraus lernen, trotz aller Widrigkeiten niemals aufzugeben und ihr Leben ein Stück liebevoller und bewusster zu gestalten.

Stella Borny

Waidmanns Heil

„Heute passiert es!“, denkt er siegessicher, als er leise zum Hochsitz pirscht, mit dem Gewehr über der Schulter und dem Fernglas vor der Brust. Der Pfad ist frisch gerecht und frei von Blättern und Zweigen, so dass seine Schritte keinen Laut verursachen. Es ist Mitte September und die Hirschbrunft hat begonnen. In dieser Zeit liebt er sein Hobby ganz besonders, denn er kann dem Urinstinkt des Mannes folgen und zur Jagd gehen.

Während seines Jurastudiums hatte er sich seinen Kindheitstraum erfüllt und die Jägerprüfung absolviert. Was war es doch für ein glücklicher Zufall, als dann später unweit von seiner Anwaltskanzlei ein Jagdbezirk verpachtet wurde! „Wenn ich einmal in die ewigen Jagdgründe eingegangen bin, werde ich im nächsten Leben bestimmt Förster.“ Diesen Satz gibt er gern in feucht-fröhlicher Runde zum Besten.

Sein Vater und sein Großvater sind stolz darauf, dass der Junge es zu etwas gebracht hat. Joachim Hörselbach ist mittelgroß und etwas untersetzt. Er sei von stattlicher Gestalt, sagt er über sich selbst. Sein markanter Gesichtsausdruck wird durch den messerscharf geschnittenen Bart noch ausdrucksvoller. Da sein dunkles Haar schon etwas schütter geworden ist, trägt er unterwegs meist einen Hut.

Die langsam untergehende Sonne taucht den Wald in ein interessantes Spiel aus Licht und Schatten. Er steigt die Leiter zum Hochsitz empor, setzt sich oben auf die hölzerne Bank und platziert das gesicherte Gewehr. Bis das ersehnte Wild auf die Freifläche kommt, wird es noch eine Weile dauern. Mit dem Fernglas kann er erkennen, wenn sich einzelne Zweige der Bäume bewegen, die am Waldrand stehen. Fast windstill ist es, eine optimale Bedingung, um heute zum Schuss zu kommen. Hier, weit weg vom Alltag, atmet er tief durch und fühlt sich ein wenig erleichtert. In den vergangenen Monaten ist sein vorher wohl geordnetes Leben aus den Fugen geraten. Die Gedanken daran verfolgen ihn ständig:

„Seit zwanzig Jahren bin ich mit Tina zusammen, seit vierzehn Jahren sind wir verheiratet. Simon, unser Sohn, ist fast elf Jahre alt. Alles lief nach Plan, bis Anfang des Jahres dieser andere Mann auftauchte. Natürlich hatte es hin und wieder Unstimmigkeiten gegeben, das ist doch normal in einer Ehe. Sie könne ja verschwinden, wenn es ihr bei mir nicht mehr passt, habe ich öfter zu ihr gesagt, aber so ernst habe ich das doch gar nicht gemeint. Nun scheint sie willens, dies tatsächlich zu tun. Schon bald hat sie es mir gestanden. Es gibt keine Heimlichtuerei zwischen uns beiden. Nein, sie wolle mich trotzdem nicht verlassen, behauptet sie. Aber wie soll das funktionieren und wie stehe ich dann in der Öffentlichkeit da? Ich muss reinen Tisch mit ihr machen. Soll sie doch gehen, wohin der Pfeffer wächst!“

 

Inzwischen ist ihm der Duft von sich paarendem Rotwild in die Nase gestiegen, den er als erfahrener Jäger genau kennt. Und plötzlich hallt der durchdringende Brunftschrei des Hirsches durch das Unterholz. Joachims Pulsschlag beschleunigt sich. Er nimmt das Fernglas, schaut in die Richtung, von wo der Ruf kommt, kann aber nichts erkennen außer Bäumen und Sträuchern.

„Einen großen Vorteil hat die ganze Sache“, sinnt er vor sich hin. „Meine Frau hat mich betrogen und so kann ich in meinem Umfeld alle Schuld auf sie abwälzen. Ich selbst habe eine weiße Weste. Schließlich bin ich ja ein anständiger Mann.“

Da, plötzlich bricht eine Hirschkuh aus dem Dickicht hervor und gönnt sich eine Pause von der ständigen Begattung durch den hiesigen Platzhirsch. Während der Brunftzeit schart dieser stets ein Rudel weiblicher Stücke um sich, die für den Nachwuchs der stärksten Tiere sorgen. Leise nimmt er das Gewehr in Anschlag und entsichert es. Eigentlich wollte er heute eines der schwächeren männlichen Tiere erlegen, einen lästigen Rivalen des Revierchefs. Doch nun peilt er, fast wie in Trance, dieses „Alttier“ an, wie die Hirschkuh in der Fachsprache genannt wird.

Als sie ihm ihre Breitseite zeigt, geschieht etwas Merkwürdiges. Ein Satz huscht durch seinen Geist: „Deine Augen leuchten in den Farben des Waldes.“ Seine Frau hat ihm diese Worte manchmal ins Ohr geflüstert, wenn sie gemeinsam auf dem Hochsitz saßen und in die Ferne äugten. Das Tier hier vor ihm auf der Wiese ist ja gar kein Tier, sondern ein Mensch. Eine Frau sieht er, mit langem, dunklem Haar. Sie trägt ein helles Sommerkleid, das ihren schlanken Körper betont. Ganz ungeniert pflückt sie Blumen. Nun erkennt er sie – ja, es ist seine Frau Tina. Joachim traut seinen Augen nicht. Wie kommt die denn hierher? Was tut sie abends allein im Wald? War sie nicht viele Jahre lang seine treue Gefährtin, die es niemals gewagt hätte, sich ihm offen zu widersetzen? Und nun ist sie ausgebrochen, außerhalb seiner Kontrolle geraten und verhält sich wie ein freies Tier des Waldes.

Egons Satz kommt ihm in den Sinn: „Knall sie ab, sie hat es nicht besser verdient!“ Egon ist der hiesige Revierförster und versteht Joachims Lage. Er meint es gut mit ihm. Diese Art von freundschaftlichen Ratschlägen geben sich Männer in jenen Kreisen und muntern sich damit gegenseitig auf. Untreue muss bestraft werden. Ein derartiges Vergehen ist unverzeihlich.

Joachim hat noch immer das Gewehr im Anschlag und den rechten Zeigefinger am Abzug. Tina steht frontal vor ihm und der Lauf der Waffe zeigt genau auf ihr Herz. Mit ihren rehbraunen Augen schaut sie in seine Richtung und ihre Blicke scheinen sich zu treffen. Diese Frau war die Liebe seines Lebens, aber wenn er sie nicht mehr besitzen kann, dann soll es auch kein anderer tun. Er drückt ab – ein tödlicher Schuss!

Theophiles

Einer von unzählig vielen Lastwagen rattert am späten Vormittag auf der Bundesstraße am Haus vorbei. Tina sitzt am Küchentisch, schaut aus dem Fenster zu dem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beginnt Selbstgespräche zu führen:

„Den Wechsel der Jahreszeiten habe ich von hier am Blätterkleid dieses Baumes beobachten können, während ich auf mein Kind und dessen Vater wartete. Nun ist alles anders geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich diesem Mann gegenüber ebenbürtig. Die Tatsache, dass ich mich ihm sexuell entzogen habe, gibt mir eine vorher nie wahrgenommene Kraft. Ich habe keine Lust mehr auf dieses scheinbar wohlgeordnete Leben, in dem ich mich so zu verhalten habe, wie es den anderen Leuten gefällt. War ich ungeeignet für diese Ehe mit meinen niemals endenden Forderungen nach einem Mindestmaß an gemeinsam verbrachter Zeit? Ich erwarte mehr vom Leben, als vom Küchenfenster aus Bäume zu beobachten, wie sie ihre Blätter wechseln, und dabei immer dasselbe duldsame Hausmütterchen zu bleiben.“

Tina steht auf, um Termine für ihre Hausbesuche am kommenden Tag im Kalender an der Wand zu vermerken. Im Geiste sieht sie eine Klientin vor sich: eine ältere Dame, die einen Schlaganfall erlitten und das Sprachvermögen verloren hat. Tina fragt sich, was wohl in dieser Frau vorgehen mag, die geistig klar erscheint, sich aber an keinem Gespräch mehr beteiligen kann. Das Leben verändert sich vollkommen, wenn der Körper nicht mehr seine gewohnten Funktionen erfüllt.

„Krankheiten zwingen uns dazu loszulassen, geschehen zu lassen, was geschehen möchte, ohne sich dagegen zu wehren, und zu tun, was getan werden muss. Was für ein Geschenk ist der menschliche Körper, wenn alles funktioniert! Dagegen sind doch die Probleme, die wir uns selbst erschaffen, nichts weiter als Kleinkram.“

Mit diesen Gedanken beschäftigt geht sie hinunter in die Waschküche, um Wäsche aufzuhängen. Sie ist gerade damit fertig, als sie das Telefon im Büro ihres Mannes klingeln hört. Eilig steigt sie die Treppe hinauf und nimmt das Gespräch für ihn entgegen.

„Ich erfülle hier meine Pflichten und irgendwie ist alles überschaubar“, denkt sie auf dem Weg in die Küche, wo sie den Gemüseauflauf in den vorgeheizten Backofen schiebt. In gut einer Stunde wird er fertig sein. Sie stellt den Kurzzeitwecker, wobei Szenen aus der Vergangenheit in ihr aufsteigen.

Vor ein paar Jahren hatte sie sich erlaubt, eine Grenze zu überschreiten. Während eines längeren Seminars hatte sie eine Affäre mit einem anderen Mann. Zu Hause gestand sie Joachim ihren Seitensprung. Er sollte wissen, dass es da ein Problem gab. Sein knapper Kommentar lautete:

„Schön, dass du es mir gesagt hast, jetzt habe ich einen gut.“

Es wurde nicht weiter über den Vorfall geredet. Aber von diesem Zeitpunkt an machte sich Gleichgültigkeit in der Ehe breit. Ihr Blick fällt auf das Familienfoto, das im Regal steht. Das innere Tonband läuft weiter:

„Was für ein Idyll! Für meine Rolle als Mutter habe ich einiges in Kauf genommen. Ich gebe ja zu, dass ich nicht die ‚Urmutter’ bin, die nur als solche ihre Erfüllung findet. Dafür arbeite ich viel zu gerne in meinem Beruf. Jeder Mensch, dem ich mich zuwende, zeigt mir ein Stück von mir selbst. Ich liebe ihre lächelnden Gesichter, wenn sie nach meiner Behandlung aufstehen. Sie bringen die Sehnsucht mit, berührt zu werden, und ich lasse meine Hände liebevoll zu ihnen sprechen. Manchmal schlafen sie dabei ein. Auf meine Frage, wie sie sich fühlen, antworten mir einige, dass etwas im Körper ins Fließen gekommen ist. Ich sage ihnen, dass dies die zirkulierende Lebensenergie ist, das Ki, wie es die Japaner nennen. Auch meine Ehe ist ein ziemlich turbulenter Strom geworden.“

Bei diesem Vergleich muss Tina schmunzeln. Sie hat sich alle Mühe gegeben, eine gute Ehefrau zu sein, es jedoch nie ganz geschafft. Am Ende blieb immer ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Parallel zu Joachims Karriere hat sie ihren eigenen Weg verfolgt und sich damit ein Stück Unabhängigkeit erhalten. Ihre Tätigkeit brachte zwar zusätzliches Geld in die Haushaltskasse, wurde aber von Joachim und seiner Familie mit Argwohn betrachtet. Es ist ein Wunder, wie sie diesen Spagat so lange ausgehalten hat. Körper, Geist und Seele gehören zusammen, um gesund zu bleiben. Nur ihr ausgewogenes Zusammenspiel schafft Wohlbefinden und das Gefühl, im Einklang zu sein mit sich und der Welt. Sie hat diese Balance verloren, vermutlich schon viel länger, als sie es sich eingestehen will. Mit einer Tasse Kaffee setzt sie sich an den Tisch und träumt weiter vor sich hin:

„Die Wende kam mit Theo. Den Tag unserer ersten Begegnung werde ich nie vergessen. Er war der Dozent eines Kurses, in dem er Yoga und die indische Philosophie vorstellte. Davon beeindruckt kaufte ich am Ende ein von ihm verfasstes Buch mit der Bitte, mir eine Quittung zu schicken. Die traf ein paar Tage später ein mit der Bemerkung: ‚Ich würde Dich gerne wiedersehen.’

Eine Woche später folgten ein langer Spaziergang und ein heißer Kuss, der mich ziemlich verwirrte. Theo ist größer als Joachim und schlank, ein eher ein sportlicher Typ. Mir fiel sofort seine tibetische Weste auf, so was hatte ich hier noch nie gesehen. Er lud mich zu einem weiteren Wochenendseminar ein, mit dem Titel ‚Meditation in Bewegung’. Und es kam, wie es kommen musste: Ich war total begeistert. In seinem Unterricht fand ich genau die Elemente, die ich so sehr schätze. Er brachte eine neue Qualität in mein Leben. Ich gebe zu, mit diesem Mann würde ich gerne zusammenarbeiten. Und was sonst noch?

Auf allen Ebenen spüre ich eine starke Anziehung. Er hat eine Saite in mir zum Schwingen gebracht, die ich noch nicht kenne. Ich frage mich, ob das die normalen Erscheinungen einer Ehefrau sind, wenn im Alltag vieles zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Die Partner haben sich auseinandergelebt und es gibt immer weniger Gemeinsamkeiten. Ich weiß nicht, ob das auf mich zutrifft. Mir ist nur klar, dass diese Begegnung etwas Besonderes ist und Theo sich schon länger innerlich darauf vorbereitet hat. Mit ihm würde ich ein völlig anderes Leben führen als bisher, soviel ist sicher. Theo ist offen dafür, sich tief mit mir einzulassen, tiefer, als ich es je mit Joachim erfahren habe. Ich fühle, wie sich eine Sehnsucht erfüllt, und etwas sagt mir, dass alles richtig ist, was gerade geschieht.

Seine Dachwohnung ist winzig im Vergleich zu unserem geräumigen Haus mit dem großen Grundstück. Doch diese Dinge sind jetzt vollkommen belanglos. Theos Reich breitet sich vor mir auf eine andere Weise aus als das, was mir bisher vertraut war. Am letzten Wochenende hat er für mich „Spinat im Blätterteig“ zubereitet. Ich glaube, von diesem Zeitpunkt ab war es vollends um mich geschehen. Ein Mann, der auch noch kochen kann! Außerdem hat er mir aus seinem Tagebuch vorgelesen und einen Text für mich auf Kassette aufgenommen. Das wäre, so sagt er, eine Art von kosmischer Vorlesung, die er hin und wieder zu bestimmten Fragen, die er stellt, bekommt. Angefangen habe dieses himmlische Diktat auf der Toilette, also in einem relativ entspannten Zustand. Seitdem habe er stets einen Block mit Bleistift im Badezimmer liegen.“

Tina geht ins Wohnzimmer, startet das Tapedeck der Stereoanlage und setzt sich auf die Couch. Was sie hört kommt ihr authentisch vor und passt viel besser zu ihrer Form von Religiosität als alles andere, was sie bislang darüber gelernt hat:

„Geh in den Garten der Liebe hinein! Nimm sie bei der Hand und mach ihr Mut! Vielleicht geht es ja auch umgekehrt und du brauchst ihre Aufmunterung. Habt kein schlechtes Gewissen, denn solange ihr mit euren Herzen in Verbindung bleibt, wird sich alles zum Guten fügen. Wir sagten dir ja letztlich schon, dass dein Handeln mitunter kleinere oder größere Erschütterungen auslösen kann. Schrecke nicht davor zurück, denn auch diese Erschütterungen, ja die Schmerzen, die zeitweilig als Resultat andere Menschen treffen können, sind ein Stück Liebe. Du gibst vielleicht einem alten Seelenfreund die Chance, über sich nachzudenken und sein Leben neu in Angriff zu nehmen, es zu überdenken und umzuformen, sowie seine früheren Motivationen zu klären. Es kann nicht immer alles nur in Harmonie verlaufen, aber alles dient letztlich dazu, die Dinge wieder in Harmonie zu bringen. Und das wünschst du dir doch auch.

Hab Vertrauen, du bist auf einem wundervollen Weg! Oder sollten wir besser sagen: Ihr seid auf einem wunderbaren Weg? Nun, die Antwort kannst du dir ja selber geben. Es ist so, wie du es dir gewünscht hast, nur ist alles noch ein wenig wundervoller, als du es dir vorstellen konntest. Ja, auch das gehört dazu, wenn wir mit alten Freunden so eng zusammenarbeiten. Du brauchst dich auch nicht um etwaige Konsequenzen zu sorgen. Wir haben unsere schützende Hülle um euch und eure Umgebung gelegt. Ihr sollt beide weiter euren Aufgaben nachgehen und sie gut erfüllen. Wir werden euch dabei helfen, Zeiten und Räume zu schaffen, die eurem gemeinsamen Wachstum gewidmet sind. Wir haben selbst ein großes Interesse daran, so lichtvollen Wesen, wie ihr es seid, zu ihrer Bestimmung hin zu verhelfen, auch zu einer gemeinsamen. Aber dazu braucht es noch ein wenig Zeit der Vorbereitung. Darum übt euch in Geduld und genießt die Zeiten eures Zusammenseins. Sie werden nicht wenig sein, glaub es mir. Es gibt keinen Mangel für diejenigen Seelen, die mit uns in Verbindung stehen. Wir hüllen euch ein in den Mantel der Liebe. Möge Frieden, Licht und Glück um euch sein.“

„Ja, ich werde mit Theo in den Garten hineingehen“, ermutigt sich Tina selbst. „Alles wird gut, ganz bestimmt.“

Sie erinnert sich daran, wie sie im Februar von dem Seminar „Meditation in Bewegung“ nach Hause zurückkam. Joachim hatte ihr sofort angesehen, dass etwas nicht stimmte, und sagte ihr direkt auf den Kopf zu, dass sie wohl einen Geliebten habe. Sie widersprach ihm nicht und leugnete nichts. Joachim ging mit solchen Angelegenheiten sehr kalkulierend um. Seinen Kredit für einen Seitensprung hatte er noch nicht eingelöst. Nun war der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Er zögerte nicht lange damit, sich auf die Suche nach einer neuen Partnerin zu machen, und fand sie schon recht bald. Vielleicht hatte Tina den Bogen doch etwas überspannt.

 

Der Wecker klingelt und Tina geht zum Backofen, wo der Gemüseauflauf brutzelt. Sie dreht den Temperaturregler zurück auf Null. Simon wird bald aus der Schule kommen und einen Riesenhunger mitbringen. In der Zwischenzeit will sie noch ein paar Hemden für Joachim bügeln. Ja, sie wird hier bleiben und den Haushalt weiterführen, solange dieses Kind sie braucht. Niemand soll leiden oder bedürftig zurückbleiben.