Buch lesen: «Die Chiemsee Elfen»
Yvonne Elisabeth Reiter
Die Chiemsee Elfen
1. Auflage 2020
Copyright ©2020 Yvonne Elisabeth Reiter
Chiemgauer Verlagshaus
Dahlienweg 5, 83254 Breitbrunn
www.chiemgauerverlagshaus.de
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen/Zeichnungen: Stefanie Dirscherl, Bernau am Chiemsee
Coverdesign: Constanze Kramer, coverboutique.de
Coverbilder: ©zeremskimilan, ©Vladislav Gudovskiy, ©Alekss, ©Lilya, ©jaboo2asay@gmail.com, ©Jochen Netzker, ©Laura Pashkevich, ©zenina – stock.adobe.com
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Der Stein des Orisolus
»Bitte, bitte, Seanair«, bettelte Nimue und zog wild an dem Rockzipfel ihres Großvaters. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und bemerkte, dass sich nun endlich seine Gesichtszüge entspannten. Sie wusste genau, warum dies geschah; es war das Wort Seanair. Es bedeutet auf Gälisch Großvater, die Sprache ihrer Ahnen. Wenn Nimue im Gegensatz zu ihrem Großvater etwas unbedingt wollte, sprach sie ein paar Worte in Gälisch und schon bekam sie beinahe jeden Wunsch erfüllt.
»Bitte, Seanair, erzähl mir von meinen Vorfahren und ihrer alten Heimat«, bekräftigte sie noch einmal ihre Bitte.
Ihr Großvater nahm langsam in einem extra großen Ohrensessel Platz. Er holte tief Luft.
»Nun gut, meine Kleine, dann pass auf«, erwiderte Aar und sank dabei tief in den purpurroten, samtweichen Stuhl.
Nimue liebte diesen großen Sessel, in dem sie niemals selbst saß. Die breiten Armlehnen sowie auch die Füße waren aus altem Eichenholz. Er sah majestätisch aus und trotzdem gemütlich. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an die Beine ihres Großvaters. Dabei blickte sie auf das prasselnde Feuer im Kamin, das den Raum mit einem sanften orange-gelben Licht erhellte.
Aar legte seine Hand auf ihren Kopf und streichelte sanft über ihr Haar. Da begann er mit weicher Stimme zu erzählen: »Deine Vorfahren stammen aus dem schottischen Hochland, welches in Gälisch A‘Ghàidhealtachd genannt wird. Im Wald, am Rand des kleinen Dörfchens Cridhe, wuchsen sie auf. Der Ort war besonders schön gelegen, direkt an einer Steilküste der Nordsee.«
Nimue versuchte sich in Gedanken Cridhe vorzustellen. Dabei entdeckte sie Holzhäuser, die hoch oben auf einem Felsen über dem Meer standen. Diese wurden scheinbar von einem in die Höhe wachsenden, dichten Wald beschützt, der nur wenige grüne Flächen freigab. Das sich zu Wellen aufbäumende Wasser der Nordsee glitzerte im Sonnenlicht. Mit einer Wucht prallte es gegen die Felsen und doch ließ sich das alte Gestein nicht davon beeindrucken. Die Vorstellung einer derartig schönen Natur löste eine Wärme in Nimue aus, die die weiteren Worte ihres Großvaters noch tiefer in sie sinken ließen.
»Sie waren große Gestalten mit langen blonden oder braunen Haaren und so hübsch, wie du es bist.«
Nimue grinste ihn fröhlich an und fragte: »Sie waren größer als wir, nicht wahr, Opa?«
Er nickte. »Ja, größer als wir es heute sind. Aufgrund der langen und beschwerlichen Reise durch Land und Wasser haben sich unsere Vorfahren den Umständen entsprechend angepasst und sind daher in ihrer Größe um mehrere Zentimeter kleiner geworden.«
Erstaunt über diese Tatsache lehnte sie ihren Kopf zurück an sein Bein und lauschte weiter seinen Worten.
»Während sie in der Tiefe des Meeres entlangzogen, wurde die Beweglichkeit immer wichtiger. Sie wollten so schnell wie möglich eine neue Heimat finden. Eine geringere Größe unterstützte ihre Fortbewegung im Wasser. Trotzdem dauerte es Hunderte von Jahren bis sie den Ozean durchquert hatten« – kurz hielt er inne und atmete tief ein, um die weiteren Worte weich und sanft aus der Tiefe seines Körpers gleiten zu lassen – »vorher jedoch, da waren sie große Waldelfen, die über Jahrtausende friedlich in ihrem Königreich gelebt hatten. Damals regierte König Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Urgroßvater war. Meine Mutter hat mir aus ihrer tiefen Verbundenheit heraus seinen Namen gegeben.«
Nimue nickte, ohne seine Aussage mit Worten zu bestätigen.
»Ich habe gehört«, schwärmte er daraufhin, »dass die Blumen fortwährend blühten, und die Bäume waren das ganze Jahr über voller Blätter. Nur die Farben verrieten die jeweiligen Jahreszeiten. Der Frühling zeigte sich hell- bis smaragdgrün, der Sommer vermischte das Grün mit Gelb und Orange, der Herbst färbte es braun ein und der Winter verwandelte die Blätter langsam wieder zu einem strahlenden Grün.«
»Oh, wie schön, Opa.«
»Ja, das war es«, stimmte er Nimue zu. Da änderte sich seine Tonlage, die nun einen Ernst und eine Traurigkeit enthielt und damit seine nächsten Worte mit ihrer Schicksalsschwere unterstrich: »Bis die Dunkelelfen kamen und unser Volk vertrieben.«
»Warum haben sie das getan?«
»Der Kampf um Macht und Herrschaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dunkelelfen sind?«
Nimue hatte natürlich bereits über diese Wesen etwas gehört, dennoch wollte sie ihr Gedächtnis auffrischen. Sie schüttelte ihren Kopf, um ihre Unwissenheit anzudeuten.
»Die Dunkelelfen sind vom gleichen Urelfenstamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwestern und Brüder. Die Geburt unserer Urväter hat ein Gleichgewicht auf der Erde geschaffen, indem das Universum dem Guten und dem Bösen als Zwillingspaar zu gleichen Teilen das Leben schenkte. Wir gehören zu den Lichtelfen, wie du weißt. Dennoch sind die Dunkelelfen mit uns verwandt. Ihre Wesenheit ist jedoch grundverschieden. Sie sind hinterhältig und böse. Ich kann dir raten, ihnen immer aus dem Weg zu gehen. Lass dich niemals von ihnen täuschen« – seine Stimme wurde ausdrucksvoll tief – »denn auf den ersten Blick wirken sie gewinnend und freundlich. Man merkt ihnen ihre wahren Absichten nicht sofort an.«
Nimue spürte, wie sich ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl in ihrer Brust ausbreitete.
»Wie kann ich wissen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dunkelelfe ist?«, wunderte sie sich.
Er lächelte sie liebevoll an und strich ihr dabei sanft übers Haar.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Vertraue deinem inneren Gefühl und es wird dir nichts passieren. Die Menschen nennen es Intuition. Sie wird dich immer gut und sicher leiten.«
Nimue war nicht gerade zufrieden mit dieser Antwort. Was sollte das heißen: inneres Gefühl? Und wie konnte sie dieses aktivieren? Sie beschloss, erst seinen Worten weiter zu lauschen und dann später noch einmal darauf zurückzukommen.
»Nachdem sie Cridhe verlassen haben, wanderten sie östlich der Küste entlang nach England. Weißt du, was Cridhe bedeutet?«
Sie schüttelte ihren Kopf, sodass ihr langes Haar leicht im Wind wehte.
»Cridhe gehört der Sprache deiner Vorfahren an und heißt übersetzt: das Herz. Es bezeichnet auch den Ursprung, also den Kern einer Sache, und trägt in sich die Fähigkeit, mutig zu sein. Als Dorfname verkörperte es das Herz des Volkes, das in diesem Ort gemeinsam lebte, also das Gemeinschaftsherz des Elfenstammes Shenja. Alle dort lebenden Elfen waren gute Wesen. Diese positive Energie ließ das Gemeinschaftsherz stark und kräftig schlagen.«
Ein Moment der Stille trat ein, in der Aar nachdenklich wirkte. »In diesem Dorf lebten nicht nur Elfen, sondern auch Menschen. Der kleine Bruder von König Aar verliebte sich in ein Menschenmädchen und heiratete sie. Ihr Name war Josephine und beide lebten im Königsschloss. Sie waren ein glückliches Paar, das am Tage ihrer Hochzeit in eine prächtige Zukunft blickte. Dieses Schicksal sollte sich jedoch wenden und so mussten sie mit ihrem Volk fliehen, um ihr Leben zu retten. Auf der Reise gebar Josephine zwei gesunde Kinder, die sie an der Küste von Cornwall mit ihrem Mann weiter durchs Wasser ziehen ließ.«
»Warum hat sie das getan? Hatte sie ihre Kinder nicht lieb, Opa?«
Aar schüttelte leicht den Kopf und meinte: »Nein, nein, das war nicht der Grund. Ganz im Gegenteil. Es war viel zu gefährlich, die Kinder zurückzulassen, und so gab Josephine sie frei, um sie zu schützen.«
»Wie meinst du das?«
»Um durch das Wasser ziehen zu können, brauchte sie die feinstoffliche Hülle einer Elfenhaut. Als Mensch war es ihr nicht möglich, sich der schwierigen Umgebung anzupassen sowie so lange unter Wasser zu bleiben. Durch die Schwangerschaften mit Elfenkindern hatte sich ihre Haut bereits verwandelt, dennoch nicht genug, um die Reise zu überstehen.«
Seine Worte verstummten, sodass Nimue aufsah und in sein nachdenkliches Gesicht blickte.
»Vielleicht«, sagte er hoffnungsvoll und strich mit seinem Zeigefinger über ihre Nase, »ist sie noch am Leben. Durch die Schwangerschaften hat sie viele Fähigkeiten und Eigenschaften der Elfen übernommen. Die Menschen reagieren allerdings sehr individuell darauf.«
Da beschleunigte sich Nimues Herzschlag und sie fragte aufgeregt: »Wo könnte Josephine jetzt sein? Sollten wir sie nicht suchen? Sie gehört doch zur Familie.«
»Ja, das tut sie. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie noch lebt. Ihr Ehemann hat die Hoffnung bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufgegeben. Er hat mit allen Mitteln versucht, sie zu finden; vergebens. Man glaubt, dass die Dunkelelfen sie getötet haben.«
Nimue lief bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken.
Aar bemerkte dies und erwähnte sogleich: »Weißt du, dass sie damals die Gruppenseele unseres Volkes ganz schön durcheinandergebracht hat?«
»Gruppenseele?«
»Ja. Ein Volk hat nicht nur ein gemeinsam schlagendes Herz, sondern auch eine Seele. Diese wird bei Elfen sowie bei Menschen durch Emotionen berührt, und Josephine war ein sehr emotionaler Mensch. Daher beeinflusste sie die Gruppenseele überaus stark und das bewegte das ganze Königreich. Wenn sie weinte, fühlte jeder ihre Traurigkeit und umgekehrt, wenn sie lachte, ihre Fröhlichkeit. Ihr großer Einfluss war eigenartig, dennoch war er deutlich zu spüren.«
Er hielt einen Moment lang inne.
Nimue wandte sich ihm zu und bemerkte den leeren Ausdruck seiner Augen. Sie konnte sich diese Leere nur derart erklären, dass er tief in seinen Gedanken versunken war.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, unterbrach er die Stille, »eh, genau, sie waren auf der Suche nach einer neuen Heimat. Ursprünglich wollten sie sich an der Küste von Cornwall ansiedeln, da diese Halbinsel ein besonders schöner Teil der Erde ist. Die dortigen Volksstämme jedoch machten es ihnen unmöglich. Sie verteidigten ihr Land um jeden Preis. Da unsere Vorfahren schon immer ein friedliebendes Volk waren, entschlossen sie sich weiterzuziehen und zwar nach Frankreich. Die Entscheidung über oder unter Wasser zu reisen war einfach, da die Piratengeister eine größere Gefahr als die einzelnen Meeresbewohner darstellten.«
Nimue meinte aufgewühlt: »Da hat Josephine ihre Familie zum letzten Mal gesehen?«
»Ja, meine Kleine, dort passierte es. Das Ziel war nun der andere Teil von Europa. Der Teil, den sie noch nicht kannten. Sie hatten von den vorbeiziehenden Vögeln viel über dessen Schönheit gehört. Aus diesem Grund waren sie voller Hoffnung, dort ein neues und schönes Zuhause zu finden. Es dauerte jedoch Hunderte von Jahren, bis sie an der französischen Küste ankamen.«
»Warum dauerte es so lange, Opa?«, fragte Nimue erstaunt.
»Weil der englische Kanal dicht besiedelt ist und die Bewohner nicht gerade erfreut waren, von einer Herde Elfen gestört zu werden. Es kostete viele anstrengende Verhandlungen mit den jeweiligen Stammesführern, um die Erlaubnis der Durchreise zu erhalten. Sie mussten Kompromisse eingehen und sich den ständigen Veränderungen der Umgebung anpassen. Dies alles kostete Zeit. Trotz alledem haben sie letztendlich ihr Ziel verwirklicht und für ihre Nachfahren ein neues Reich aufgebaut, in dem Frieden und Harmonie herrschen.«
»Du meinst das Reich Shenja und unser tolles Schloss?«
Er nickte zustimmend. »Ja, das meine ich. Haben wir es hier nicht besonders schön?«
Sie lächelte ihn zufrieden an. »Das haben wir, Opa. Aber wie sind sie den weiten Weg hierhergekommen?«
»Erst einmal sind sie an der Küste in Frankreich gelandet. Frankreich hat ihnen sehr gut gefallen, da die dortige Lebensweise fast einem Hofzeremoniell ähnelte. Sie genossen das gute französische Essen und ihre zumeist klassische Musik. Die Menschen feierten fröhlich und dies auf eine so schöne, respektvolle Art und Weise, dass sie sich gerne anschlossen. Nach dem langen Wasseraufenthalt wollten sie wieder an Land leben und so durchforsteten sie die Wälder nach einem Ort, an dem sie ihr Reich aufbauen könnten. Die Suche war jedoch vergebens, denn dort lebte bereits eine große Ansammlung von Menschen. Kein Platz war mehr frei und so mussten sie weiterziehen. Daraufhin trafen sie auf ein Land namens Italien. Erst waren sie begeistert von dem guten Essen und auch der Wein war dort besonders rein und daher für Elfen gut verträglich. Doch die Menschen sprachen so laut miteinander, dass es ihnen ungemütlich erschien. Sie entschlossen sich, weiterzuziehen. Zu dieser Zeit begegneten sie kurz vor einer Stadt namens Rom freundlichen Waldgeistbewohnern. Diese luden sie ein, bei ihnen einzukehren, um sich für die weitere Reise auszuruhen und zu stärken. Der Geisterkönig nannte sich Rory, was so viel wie roter König bedeutete und rot war er auch immer. Ich meine, er liebte roten Wein und nach ein paar Gläsern färbte sich seine Geisterhülle genauso rot wie die Farbe des Weins. Noch heute hört man die Menschen über die eigentümlich rote Farbe sprechen, die manchmal über den Dächern von Rom wie ein Schleier schwebt. König Aar erzählte, dass Rory ein frecher, aber liebenswerter Geselle war und oft Schabernack mit den Menschen trieb. Dabei hat er Kirchenuhren mehrfach zu ungewöhnlichen Zeiten läuten lassen oder Uhren verstellt. Am liebsten jedoch hatte er die Gläser Feiernder ausgetrunken, schnell und heimlich. Dies verwirrte viele Menschen und führte zu unglücklichen Zeiten, denn sie dachten, dass die Verwirrung krankhafter Natur sei.«
Nimue verstand nicht. »Und dann?«
»Dann gingen sie in Hospitäler und ließen ihre schwere Erkrankung behandeln.«
Aar lachte lautstark, was Nimue auch zum Lachen brachte. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was daran so lustig war.
Nach einigen Freudentränen wurde er wieder ernst und erzählte seine Geschichte weiter: »Der rote König sprach oft und viel mit König Aar. Eines Tages erklärte er meinem Urgroßvater, wie sehr er hoffte, dass unser Volk eine schöne Heimat finden würde. Dort, wo guter Wein wächst und die Menschen gerne feiern. Dort, wo das Reich der Geister und Elfen Früchte trägt und das Dunkle keinen Zugang hat.« Da klopfte er sanft auf Nimues Kopf und erklärte: »Übrigens, König Aar war damals schon sehr alt. Er hatte das übliche Elfenalter schon weit überschritten. Allerdings wusste er, dass er sich erst auflösen kann, wenn sich sein Volk in Sicherheit an einem schönen Platz angesiedelt hat. Er war wild entschlossen, eine neue Heimat für sein Volk zu finden, und so informierte er sich über die nächstliegend angrenzenden Länder zu Italien. Bei einem seiner allabendlichen Gespräche mit Rory erzählte ihm dieser von Bayern. Der rote König selbst war noch nie dort gewesen, allerdings hörte er von Vorbeireisenden immer nur Gutes darüber. Zudem liefen die Handelsgeschäfte zwischen Italien und Bayern besonders intensiv, und so kannte der Geisterkönig einen Handelsweg zu Lande, der von Venedig über Innsbruck nach Bayern führte. Auf diesem Pfad konnten sie es nicht verfehlen, so war er sich sicher. Aus einem mir unbekannten Grund jedoch kamen sie in Österreich vom Weg ab und überquerten die Alpen derart, dass sie direkt am Fuße des Chiemsees die bayerische Voralpenlandschaft betraten, und da passierte es.«
»Was, Opa, was passierte da?«, rief Nimue aufgeregt.
»König Aar traf auf den Ur-Ur-Urgroßvater deines Freundes Hubsi.«
»Oh, und dann?«
»Dann hat dieser mit deinem Ur-Ur-Urgroßvater Aar Freundschaft geschlossen und ihm den freien Raum am Boden des Sees angeboten. Erst wollte er sein Volk nicht im Wasser ansiedeln, da wir ja ursprünglich ein Waldvolk waren. Deshalb bist du nicht nur eine See-, sondern auch eine Waldelfe.« Er stupste mit seinem rechten Zeigefinger auf ihre Nase. »Nach vielen Gesprächen und Besichtigungen der Gegend entschied er sich dennoch für das Land Bayern und das Leben hier. Der Schutz, den das Wasser zwischen unserem Reich und der Wasseroberfläche mit sich brachte, überzeugte ihn außerdem von einem Leben am Boden des Chiemsees. Daraufhin halfen alle zusammen. Die Wassergeister, eine Trollfamilie, die oben auf der Fraueninsel lebte, und viele andere Lichtwesen bauten gemeinsam unser Königreich Shenja auf. Nach ein paar Monaten war es fertig und alle überlebenden Wald- und Seeelfen konnten einziehen. Damals waren es nur noch 123 Elfen, samt dem Heer.«
»So wenige, Opa«, wunderte sie sich. »Was passierte danach mit unserem König?«
»Als alles fertig aufgebaut und das große Einweihungsfest in vollem Gange war, rief er seine älteste Tochter Cara, seinen ersten Sohn Tadgh, seinen zweiten Sohn Oisin und seine jüngste Tochter Anna zu sich. Die Königin verstarb während der anstrengenden Reise und so war die engste Familie vollständig. Er erklärte, dass Tadgh, mein Großvater, sein Nachfolger werden sollte. Zudem meinte er, dass es nun an der Zeit sein würde, zu gehen, um Platz für neue Wesen seiner Art, also Nachkommen, zu schaffen.«
»Warum, Opa? Warum können wir hier nicht einfach alle zusammen weiterleben?«
»Weil der Raum zu eng wird, die Energien zu dicht und wie auch bei den Menschen irgendwann der Platz ausgehen würde. Je enger der Lebensraum, umso mehr Reibereien entstehen und das erschwert jedes Leben. Jedes Wesen braucht seinen natürlichen Bereich, um frei und kreativ existieren zu können. Zudem wird die Weiterentwicklung gefördert, da Altes durch Neues ersetzt wird, auch wenn es uns schwerfällt, das Alte loszulassen. Unsere Seelen sind jedoch immer miteinander verbunden, auch wenn wir keine Körper mehr mit unseren Elfenaugen sehen können.«
»Ja, Opa, das weiß ich«, antwortete Nimue erleichtert über dieses Bewusstsein. Trotzdem wollte sie an eine derartige Veränderung in ihrer Familie noch nicht denken, denn ihr Urgroßvater war bereits 999 Elfenjahre alt, und was das zu bedeuten hatte, war ihr klar. Irgendwann würde auch er sie verlassen.
»Was hat König Aar dann gemacht?«, fragte sie neugierig.
»Er hat allen seine Liebe versichert und auch eines jeden zukünftige Aufgaben erläutert. Dann küsste er die Wangen seiner Kinder, drehte sich um und verschwand hinter der dicken Eichentür. Der da vorne!« Er zeigte auf die nächstliegende Tür gegenüber dem Ohrensessel. »Seine Kinder hörten ihn kurz darauf die knarrende Holztreppe zum Südturm hinaufgehen. Danach wurde er nie mehr gesehen.«
Nimue stellte sich den Südturm bildlich vor. Sie dachte an die oberste Kammer, ihr Lieblingszimmer, in dem sie mit ihren Geschwistern schon oft gespielt hatte. An diesem Ort musste seine Elfenseele seinen Körper verlassen haben. Kein anderer Raum kam dafür infrage.
Da erklangen die Worte einer weichen, dennoch durchdringenden Frauenstimme: »Aar, wo bleibst du nur?«
Es war ihre Großmutter Oona, die bereits seit vier Elfenstunden auf ihren Mann wartete, der ihr im Gewächshaus bei der Pflege der Pflanzen helfen sollte.
Oona stammte aus dem Elfenreich Lara. Dieser Elfenstamm lebte und liebte die Einsamkeit im Schutze eines Zauberwaldes, welche sie nach ihrer Hochzeit komplett aufgeben musste. Trotzdem fühlte sie sich im Reich Shenja sehr wohl. Dies erklärte sie sich aus den Charaktereigenschaften ihres Vaters, der von einer besonders wilden und aus Feuer bestehenden Elfenfamilie abstammte. Er litt sehr unter der Zurückgezogenheit und Stille des Familienstammes seiner Frau und doch verzichtete er auf seine Leidenschaften aus Liebe zu ihr. Sein Elfenstamm mochte, genauso wie der Elfenstamm Shenja, die Musik, das Essen und das Tanzen. Beide glaubten an den besonderen Zauber der feierlichen Magie und die vielen kleinen Geschenke darin. So verkörperte Oona in ihrer neuen Heimat aus ihrer Natürlichkeit heraus das geerbte Feuer ihres Vaters. Oonas Mutter dagegen wies eine Besonderheit auf. Ihr Volk war ursprünglich ein Feenvolk und hatte nur wenige Elfenanteile, auch wenn an der Spitze ihres Stammbaumes eine Elfe stand. Sie war eine sehr lichtvolle Fee. Ihr Charakter zeichnete sich durch Liebenswürdigkeit und eine Art kindlicher Verspieltheit aus. Diese Eigenschaften hatte auch Oona, welche Nimues Großvater sehr an seiner Frau liebte.
Oona hatte hellblaue Augen und weiße lange Haare, die sie geflochten oder in einem Dutt trug. Sie glich optisch den schottischen Elfen, allerdings mit nur angehaucht spitzen Ohren. Ihr Gesicht glich einem harmonischen Kunstwerk, das durch schöne, gleichmäßige Gesichtszüge besonders hübsch aussah. Sie war groß, ein paar Zentimeter größer als ihr Ehemann.
Nachts schwamm sie oft an die Wasseroberfläche und setzte sich ans Ufer der Fraueninsel, um dort die Atmosphäre zu genießen. Die Menschen konnten dann im Mondlicht ein Glitzern und Funkeln am Wasserufer beobachten, denn ihre Schönheit durchbrach den magischen Schleier zwischen den Welten, auch wenn sie sich ihrer Umgebung nicht zeigte. Tat sie es dennoch, konnte sie durch ihre Erscheinung Paare zusammenführen und Vereinigungen aller Art mit Glück beschenken. Auch diese Eigenschaften liebte ihr Ehemann an ihr.
»Komm ja schon, Oona«, erwiderte Aar, worauf Nimue zur Seite rückte, um Aar Platz zu machen. Kurz darauf verschwand er hinter der großen Eingangstür mit den Worten: »Bis bald, meine Kleine.«
Ruhig und gedankenverloren saß sie nun allein im Kaminzimmer. Sie dachte an Oona und an die vielen Erzählungen ihrer Cousine Cara, die von ihrer gemeinsamen Oma sprachen.
Cara lebte seit ihrer Geburt auf einer kleinen Zauberinsel, nahe an der Fraueninsel gelegen. Ihre Eltern wollten nicht im Wasser leben. Deshalb hatten sie sich dort in einer Höhle an einem Hügel angesiedelt. Ihre Nachbarn waren viele verschiedene Wesen, wie Wichtel, Kobolde, eine Familie der Waldschrate und kleine andere Wesen, die sich mit ihren Familien vor Tausenden von Jahren dort angesiedelt hatten.
Nimue hat Cara oft besucht. Dabei hatte Cara ihr von Oonas Erscheinungen und ihren Auswirkungen auf Menschen erzählt. Auf dem Land sprach man viel über diese ungewöhnliche Frau, die aus dem Nichts erschien und wieder darin verschwand. Da sie immer nur Gutes bewirkte, hatte man keine Angst vor ihr und so wurde sie über die Jahre hinweg zu einer Legende.
Nimue lächelte stolz, als sie murmelte: »Das ist meine Oma.«
Da fiel ihr die soeben erzählte Geschichte wieder ein und sie staunte in Gedanken: »Was haben meine Vorfahren nur alles erlebt? Die ganze Welt haben sie gesehen. Ich möchte auch so gerne die Welt erkunden und all die Abenteuer erleben, die darin stecken.«
Sie dachte dabei an das leckere Essen in Italien, die gehobene Lebensphilosophie der Franzosen, an die schottische Heimat ihrer Vorfahren und wie schön es wäre, diese stetig blühende Natur einmal zu sehen. Doch dann erinnerte sie sich an die Dunkelelfen und ihre zerstörerische Macht. Sogleich überfiel sie ein kalter Schauer und überschattete ihre freudige Aufregung. Sie setzte sich zum Kamin und streckte ihre Hände über das Feuer. Dieses wärmte nicht nur ihren Körper, sondern vertrieb auch ihre Ängste.
»Sláinte!«, hörte Nimue ihren Urgroßvater Seoras im großen Tafelsaal rufen, während sie den Arkadengang entlang darauf zu ging. Danach klangen viele Stimmen im Raum durcheinander. Nimue nahm es als einen wohleingestimmten Gesang wahr. Daraufhin prosteten sich die anwesenden Elfen zu und eröffneten damit das Festessen.
Dies war ein abendliches Ritual, welches stets vom König selbst, Nimues Urgroßvater, eröffnet wurde. Nicht an jedem Abend pflegten sie dieses Ritual, sondern hauptsächlich an den ungeraden Tagen. Der Sinn darin lag nicht allein im Verzehr von Nahrung, sondern der Ehrung des Gemeinschaftsgeistes. Und so sollten an diesen Abenden so viele Wald- und Seeelfen wie möglich zusammenkommen, um ihre Gemeinschaft zu feiern.
Nimue kam an diesem Abend zu spät, da sie nicht aufhören konnte, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und gedanklich durch aufregende Pfade in Richtung Schottland zu reisen. Langsam schlich sie sich in den Saal hinein, in dem sich bereits viele Schlossbewohner tummelten. Dort hörte sie Stimmen durcheinandersprechen, hie und da eine Elfe laut lachen, Becher aufeinander fallen und Musik, die im Hintergrund eine festliche Stimmung verbreitete. Es dauerte nicht lange und sie erreichte ihren Platz am Haupttisch, an dem auch der König saß. Denn Nimue war eine direkte Nachkommin des derzeitigen Königs Seoras. Darüber hinaus munkelte man bereits, dass ihr Großvater Aar bald den Thron besteigen würde. Danach – und da bestand Einigkeit unter allen Elfen – sollte sie die erste Königin des Reiches Shenja werden. Sie war noch sehr jung mit ihren 129 Jahren und musste bis dahin noch viel lernen, und doch schien sich das Reich bereits darauf einzustellen. Sie selbst war sich als jüngste von vier Töchtern darüber nicht im Klaren. Es war unüblich, dass die Jüngste auf den Thron nachfolgen sollte, und dann waren da ja noch die Söhne von Nimues Tanten und Onkeln. Da es im Reich Shenja noch nie eine Königin gegeben hatte, lag es nahe, dass nach Aar einer von ihnen das Königreich übernehmen sollte.
Nimue machte sich über eine Regentschaft keine Gedanken. Sie liebte das Leben und hatte einen aufgeweckten, eher wilden Charakter. Ihre Großeltern nannten sie oft Rao’ra, was für den Tiger und dessen Wildheit stand. Zudem unterschieden sich Nimues Charaktereigenschaften von denen ihrer Geschwister, Cousinen und Cousins. Sie war abenteuerlustig, wissbegierig und konnte nicht lange stillhalten. Sie liebte die Natur und die Tiere und lernte schnell, die Fähigkeiten ihres Elfenstammes bestmöglich zu nutzen. Und das waren so einige, denn die Elfen aus dem Reich Shenja waren in der Lage, ihren feststofflichen Körper in einen feinstofflichen umzuwandeln, sodass die Menschen sie nicht sehen konnten. Dazu hatte dieser Elfenstamm besonders geschärfte Sinne, wie unter anderem Hellhörigkeit. Wenn sie wollten, konnten sie selbst von der tiefsten Stelle des Sees die Menschen am Seeufer sprechen hören. Außerdem waren sie in der Lage, Gerüche stark wahrzunehmen. Egal, ob an Land oder in der Tiefe des Sees, sie konnten auf mehrere Kilometer Einzelheiten eines Geruches bestimmen. Dann waren da noch ihre speziellen Augen. Geschärft wie ein Pfeil konnten sie über Meilen hinweg sehen und dabei Kleinigkeiten exakt definieren; und dies bei Tag und bei Nacht, im Wasser oder an Land. Sie waren in jeder Hinsicht anpassungsfähig und doch reagierten sie sehr sensibel auf ihre Umwelt. Sie liebten das Feiern, doch diese Feste waren nicht laut oder unsittlich. Auch wenn sie gerne aßen und tranken, schossen sie niemals über das Ziel hinaus, denn Völlerei machte ihre Körper krank.