Das Mündel des Apothekers

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Kapitel 6

Nördlingen, 8. Mai Anno Domini 1648 12 Jahre später

Wiehernd galoppierte das reiterlose Pferd vom Hallgebäude in Richtung Rathaus. Riesinger war auf dem Heimweg von einer Ratssitzung, als ein brauner Kaltblüter dampfend vor Schweiß auf ihn zuritt.

»Ho, ho!« Er streckte beide Arme über seinen Kopf, um das wild gewordene Tier zu beruhigen. Tatsächlich verlangsamte es sein Tempo und stellte sich wiehernd auf die Hinterbeine. Als es sich weiter beruhigte, konnte Benedikt die Zügel fassen. Riesinger blickte sich mehrfach um, doch die Straße war menschenleer.

So führte er das Tier die letzten Schritte zum Apothekerhaus und versorgte es im Stall hinter dem Haus. Der Sattel war aus feinstem Leder gefertigt und mit bronzenen Broschen und Schnallen verziert. Benedikt musste einiges an Kraft aufwenden, um den ungewöhnlich schweren Reitsitz vom Rücken des Pferdes zu hieven.

»Woher mag das kostbare Tier nur kommen?«, murmelte er vor sich hin.

Die Neugierde über seine Herkunft trieb Benedikt zurück auf die Straße.

»So g’sell so«, ertönten die Rufe der Türmer, die so beweisen sollten, dass alle auf ihren Posten waren. Ziellos marschierte der Apotheker durch die Gassen, konnte aber nichts über die Herkunft des Pferdes herausfinden.

Als Riesinger den Hafenmarkt erreichte, bemerkte er, dass er nicht allein war. Er drehte sich um, doch es war niemand zu sehen. So ging er weiter, wenn auch etwas schneller. Er hörte sich nähernde Schritte. Er schluckte.

Sollte ein Büttel ihn ohne Laterne antreffen, würde er die Nacht im Narrenhäuschen verbringen müssen. Auch war um diese Uhrzeit nur noch Gesindel unterwegs.

Er vernahm ein metallisches Geräusch und spürte die Klinge eines Dolches am Hals. Er wagte sich nicht zu bewegen.

»W… was wollt Ihr von mir? Mein Geld? Dann nehmt es Euch! Oder ist es wegen des Pferdes? Ihr könnt es gerne wiederhaben. Ich hab es ja nur versorgt und … ah, ah … Was soll das?« Benedikt spürte einen brennenden Schmerz an seiner Kehle. Er wollte um Hilfe rufen. Aber er konnte nur noch ein gurgelndes Geräusch von sich geben.

Durch ein lautes Kreischen wurde Katharina aus dem Schlaf gerissen. Müde rieb sie sich die Augen.

»Ist es denn nicht möglich, in dieser Stadt zu schlafen, ohne dass ich vor Sonnenaufgang geweckt werde?«, schimpfte sie und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Es dauerte einen Moment, bis Katharina begriffen hatte, wo sie war.

Seit einigen Monaten gab es von Wilhelm, ihrem Ehemann, kein Lebenszeichen. Seine Kameraden waren aus den Schlachten längst zu ihren Familien zurückgekehrt. Wegen des schlechten Verhältnisses zu ihrem Schwiegervater hatte sie sich entschieden, zurück zu Elfriede und ihrem Stiefvater zu ziehen. Es kostete den Apotheker einiges an Überredungskunst, Josef Hofmeister davon zu überzeugen, dass Katharina bei ihm besser aufgehoben war. Eine beträchtliche Summe für den Verlust von Katharinas Arbeitskraft ließ den Tuchhändler letztendlich einlenken.

Nachdem sie nun schon wach war, ging sie in die Küche, um sich eine Tasse von dem bitteren, schwarzen Kaffee aufzubrühen, den ihr Benedikt aus Venedig mitgebracht hatte. Eigentlich mochte sie ihn nicht besonders, aber er weckte ihre Lebensgeister.

Im Nachthemd tapste Katharina die breite Holztreppe nach unten. In der Küche brannte Licht. Elfriede hatte den Küchenofen bereits angeschürt. Es war zwar schon Mai, doch die Nächte waren immer noch kalt und teilweise war sogar noch Frost an den Fenstern.

»Guten Morgen, Katharina. Du sollst doch nicht immer barfuß auf dem kalten Steinboden gehen«, murrte Elfriede.

»Guten Morgen«, erwiderte die Angesprochene kurz und hob eine Augenbraue.

Heftig klopfte es an die Haustüre. Beide sahen sich fragend an.

»Wer kommt denn jetzt in aller Herrgottsfrüh?«, wunderte sich Elfriede und schlurfte zum Eingang.

»Simon? Was treibt dich um diese Uhrzeit hierher?«

»Benedikt wurde eben ermordet aufgefunden!«

Entsetzt starrten sie sich an. Elfriede hielt die Hand vor den Mund. Katharina blickte ins Leere.

»Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«

»Der kopflose Reiter!« Elfriede vergrub ihr Gesicht in den Handflächen.

»Der Stadthauptmann sagte, es sei ein Raubmord gewesen. Wohl ein Bettler oder Beutelschneider. Da es aber jeder gewesen sein konnte, wurden die Ermittlungen erst gar nicht aufgenommen. Seine Geldkatze hing gefüllt an seinem Gürtel, sagte die Hebamme Holzinger, die ihn gefunden hatte. Da passt doch etwas nicht!«

»Das war das Pferd vom kopflosen Reiter, das er eingefangen hatte«, befürchtete die Haushälterin.

»Ach, Elfriede, das sind doch alles nur Märchen«, rügte Katharina sie.

»Märchen? Als ich noch ein Kind war«, begann Elfriede zu erzählen, »war ich mit ein paar Freunden auf dem Heimweg. Wir hatten die Gräber für Allerheiligen geschmückt und das Unkraut gezupft. Plötzlich, wie aus dem Nichts, stand uns ein Leichenzug gegenüber. Aber das war kein gewöhnlicher Leichenzug. Keiner der Personen hatte einen Kopf. Wir hatten zuerst gedacht, da erlaubt sich jemand einen Scherz und der Josef hatte sie ausgelacht, ja sogar beschimpft. Einer der Kopflosen hatte ihm eine Maulschelle verpasst. Er hatte den nächsten Morgen nicht erlebt.« Elfriede zitterte. Katharina nahm sie in den Arm. Keiner sagte etwas.

»Er war wie ein Vater für mich«, unterbrach Katharina die Stille. »Er war zwar streng, aber auch gerecht, und er hatte es mich nie spüren lassen, dass ich nicht seine leibliche Tochter bin.«

In der Zeit des langen Krieges waren Mord, Plünderungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung gewesen. Doch man hoffte immer, es würde andere treffen. Nun war nach fast einem Jahr nach Ende des Kriegs der Tod doch noch in ihrer Familie angekommen.

Als Katharina kurze Zeit später die Apotheke verließ, bemerkte sie, dass der Frühling die Stadt wieder zum Leben erweckt hatte. Nach den kalten Wintermonaten trafen sich die Bürger wieder auf dem Markt, nicht nur, um Einkäufe zu erledigen, sondern um mit dem ein oder anderen, den man schon lange nicht mehr gesehen hatte, wieder mal ein Schwätzchen zu halten. Marktfrauen boten ihre kargen Reste der letzten Ernte feil und Gerber legten ihre Felle und Lederstücke zum Verkauf aus.

Katharina war auf dem Weg zum Rathaus, das auf der anderen Seite des Marktplatzes lag. Durch den heimtückischen Mord an ihrem Stiefvater war sie immer noch nachdenklich und in sich gekehrt. Entgegenkommende musterten die junge Frau mitleidig.

Sie war zu einer erwachsenen Frau herangewachsen. Mit ihren blondgelockten Haaren wirkte sie wie die Engel auf den Fresken der Kirche und auf ihrem gut gefüllten Mieder blieb so manch ein Männerblick länger haften, als der Anstand es erlaubte. Ihre hochgewachsene Gestalt überragte die meisten Nördlinger.

Ihr Herz pochte, als sie die Stufen zum Rathaus emporstieg, und nicht nur, weil sie gleich beim Bürgermeister vorsprechen würde, sondern weil sie den Kaffee nicht gewohnt war.

»Werte Frau Hofmeister, es ist unmöglich für Euch, eine Erbschaft anzutreten«, begann Bürgermeister Schillinger. »Kennt Ihr die Gesetzeslage denn nicht?«

»Ich verstehe nicht ganz, Benedikt Riesinger hat mich doch adoptiert und somit bin ich doch erbberechtigt.«

»So weit ist das ja richtig, aber eine Frau ohne Ehemann kann nicht erben.«

»Ich bin doch verheiratet, nur ist mein Mann eben vermisst.«

»Wir brauchen hier eine Unterschrift Eures Gatten, damit die Erbschaft auch rechtskräftig wird. Keine Unterschrift, kein Erbe! Ich mach Euch einen Vorschlag, Frau Hofmeister. Erich Stracke, der Stadthauptmann, würde sich Eurer gerne annehmen. Und Euren Wilhelm könnten wir für tot erklären. Dann wäre doch allen geholfen, oder nicht?«

»Der stinkende Fettwanst, der nur noch ein paar faule Zähne im Maul hat und ständig besoffen ist? Niemals! Vorher erhänge ich mich am nächsten Baum. Wie viel Zeit bleibt mir, meinen Mann zu finden?«

»Zwölf Wochen. Zwölf Wochen, dann heiratet Ihr entweder den Erich oder das Erbe geht an die Stadt. Das ist mein letztes Wort. Gehabt Euch wohl, Frau Apothekerin.«

Sie brauchte dringend Hilfe, aber wem konnte sie vertrauen? Als Katharina die 350 Stufen auf den Daniel stieg, schlug die Turmuhr der St. Georgskirche dreimal. Keuchend und außer Atem erreichte sie die Türe zur Turmstube. Wenn ihr einer helfen konnte, dann der Stadthauptmann. Sie war zwar nicht scharf auf ein Gespräch mit dem Widerling, doch er hatte Verbindungen zu den Truppen und kannte wichtige Soldaten.

Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie anklopfte. Ein ihr unbekannter Wachsoldat öffnete ihr die Türe zur Turmstube. Im Hintergrund konnte sie bereits Erich sehen, der in eine vor Fett triefende Keule biss.

»Waff für eine erfreuliche Überraffung«, schmatzte dieser mit vollem Mund, so dass Teile seiner Mahlzeit durch die Luft flogen. »Lasst uns allein, wir haben etwas zu bereden«, wies Stracke seine Kollegen an. Als sie die Türe hinter sich schlossen, bot Erich ihr einen Platz an.

»Setz dich, meine Hübsche. Das hier sind die Habseligkeiten, die Riesinger bei sich getragen hatte, als man ihn aufgefunden hatte«, erklärte der Stadthauptmann und überreichte ihr die Geldkatze des Stiefvaters.

»Das ist alles? Wo sind seine Kleidung und seine Taschenuhr?«

»Willst du etwa behaupten, ich hätte die Sachen an mich genommen?«

»Nein, es ist nur… Man hatte ihn doch nicht etwa wegen einer Taschenuhr ermordet!«

»Hungernde würden wegen einer Scheibe Brot morden! Wo seine Kleidung ist, weiß ich nicht. Frag den Totengräber!«

»Weshalb ich eigentlich hier bin: Ihr wart einer der Letzten, die Wilhelm lebend gesehen haben. Könnt Ihr mir noch irgendeinen Anhaltspunkt geben, wo er sein kann, falls er noch lebt?«

 

Entgeistert sah der Wachmann sie an.

»Das hab ich dir doch schon alles hundert Mal erzählt. Wilhelm hat den Oberbefehlshaber Graf von Holzappel nach Augsburg gebracht. Mehr weiß ich nicht! Ich dachte, du kommst wegen unserer Hochzeit zu mir. Willst du dich davor drücken und hoffen, deinen Wilhelm wiederzufinden? Bin dir wohl nicht gut genug, hä?«

»Ich glaube, es war ein Fehler von mir, hierherzukommen«, bemerkte Katharina und stand auf, um zu gehen. Erich umfasste ihre Hüften und lächelte sie an, dass seine wenigen braunen Zähne zum Vorschein kamen.

»Wir wären doch ein hübsches Paar«, hauchte er ihr ins Gesicht. Katharina schloss die Augen und drehte ihren Kopf zur Seite. Sein fauliger Atem ließ sie beinahe würgen.

»Lass mich los! Das bringt doch nichts!« Doch ihn beeindruckten ihre Worte nicht. Er versuchte, sie zu küssen. Katharina drehte ihren Kopf zur Seite und so schmierte Erich mit seinem fettigen Mund über ihre Wangen.

»Hör auf!« Panik stieg in ihr auf. Er ließ von ihr ab, griff in ihren Ausschnitt und fetzte mit einem Ruck ihr Mieder in zwei Hälften. Versteinert vor Entsetzen stand sie mit entblößtem Oberkörper vor ihrem Peiniger. Mit einem fiesen Grinsen öffnete Stracke seinen Hosenlatz und trat näher. Sie ließ ihr Knie mit voller Wucht nach oben schnellen. Der Stadthauptmann sackte schmerzverzerrt zusammen.

»Du dreckige kleine Hexe!«, brüllte Stracke, nach Atem ringend. Katharina raffte ihre Strickjacke und stürmte die Stufen hinab.

Am Eingang standen einige Wachsoldaten, die Katharina musterten.

»Eurem Hauptmann geht es nicht so gut. Ich glaube, er hat Leibgrimmen«, sagte sie beim Vorbeigehen mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Entgeistert sahen die Männer ihr nach.

Ihr Weg führte Katharina ohne Umwege zu ihrem Jugendfreund. Simon Mühlbichler war mittlerweile zu einem stattlichen Mann herangewachsen. Er hatte durch die schwere körperliche Betätigung in der Zimmerei einen sehnigen Körper, der von der Arbeit an der Sonne gebräunt war. Sein schwarz gelocktes Haar reichte bis zu seinen Schultern. Das bartlose Gesicht wurde von einer schiefen Nase unterstrichen, die er sich gebrochen hatte, als er aus dem Baumhaus stürzte.

»Alles, was ich vom Verschwinden von Wilhelm erfahren habe, ist, dass er den schwerverletzten Oberbefehlshaber, Graf von Holzappel, nach Augsburg gebracht haben soll. Danach verliert sich jede Spur«, erklärte ihm Katharina. »Ich muss sofort nach Augsburg, um ihn zu suchen!«

»Wie willst du als Frau allein in Augsburg jemanden finden?«

»Ich bin nicht allein, du wirst mich begleiten«, schmunzelte sie.

»Ich kann hier nicht einfach so weg. Mein Vater springt mir an die Kehle. Jetzt wo wir endlich wieder genug Arbeit haben, kann ich ihn doch nicht einfach allein lassen!«

Simon sah Katharina in die Augen und überlegte.

»Allerdings kann ich dich ja nicht im Stich lassen. Wann soll’s denn losgehen?«

»Am besten gleich morgen früh, dann sind wir abends in Donauwörth und, wenn alles gut läuft, übermorgen in Augsburg.« Wie es dann weitergehen sollte, wusste Katharina auch noch nicht. Sie würden sich einfach durchfragen und hoffen, dass Wilhelm dort irgendwelche Spuren hinterlassen hatte.

Kapitel 7

Mit Tränen in den Augen winkte Elfriede Breitenbach Simon und Katharina auf ihren Pferden hinterher, bis sie die beiden nicht mehr sehen konnte. Sie hatten die Stadt durch das Reimlinger Tor verlassen und bald waren nur noch einzelne Bauern zu sehen, die ihrer Arbeit auf den Feldern nachgingen.

Sie waren jetzt im Gebiet des Grafen Johann von Oettinger-Wallerstein und würden heute noch die Harburg passieren, den Stammsitz des Grafen. Der war auf die Nördlinger nicht sonderlich gut zu sprechen. Der Graf Oettinger-Wallerstein sollte vor langer Zeit die Nördlinger Wachen bestochen haben, damit diese das Tor nachts nicht verriegelten. So sollte ein Überfall auf die Stadt gelingen. Durch einen Zufall sah die Frau des Lodwebers, wie sich eine Sau am offen stehenden Tor kratzte. Die rannte sofort zum Bürgermeister und schlug Alarm. Die bestechlichen Torwächter wurden daraufhin gevierteilt.

Als die Sonne den höchsten Stand erreichte, bog Simon in ein Waldstück ab. Sie kamen an eine Lichtung, durch die ein kleiner Bach floss. Hier hatte er des Öfteren Rast gemacht, um die Pferde zu tränken. Der Waldboden war dick mit Moos bewachsen und sah im Sonnenlicht wie ein flauschiger Samtteppich aus.

Mit Speck, einem Kanten Brot und etwas Käse stärkten sich die beiden.

»Mein Gott, hast du deinen gesamten Hausstand mitgenommen?«Simon grinste, als er den Leinenbeutel von Katharina musterte.

»Nein«, lachte sie. »Da ist nur eben alles drin, was man so braucht. Reiseproviant, Schlageisen und Zunder zum Feuermachen, Nadel und Faden für Reparaturen der Kleidung, getrocknete Pfefferminzblätter für frischen Atem, Salben und Kräuter für die verschiedensten Leiden, Leinenstreifen zur Herstellung eines Wundverbands und noch vieles mehr.«

Nach längerem Schweigen brach Katharina die Stille.

»Warum hast du bis jetzt nicht geheiratet?«

Nachdem Simon seinen Bissen hinuntergeschluckt hatte, erklärte er:

»Es ist mir nicht nur einmal im Leben passiert, dass ich mich in eine Frau verguckt habe, die später zwangsverheiratet wurde. Ich bin es leid geworden. Da bleibe ich lieber allein.«

»Ich wünschte, mir wäre das damals alles erspart geblieben.« Katharina stocherte mit einem kleinen Ast im moosigen Waldboden.

»Wir sollten weiter«, unterbrach Simon ihre Gedanken. »Es ist noch ein gutes Stück bis Donauwörth.«

Nach einem langen Ritt rief Simon zu Katharina:

»Siehst du den Turm vor uns? Das ist das Kloster Heilig Kreuz von Donauwörth. Dort werden wir versuchen, ein Nachtlager zu bekommen.«

»Das sieht ja nicht besonders einladend aus!«

»Dafür kostet es nichts!«

Als sich nach mehrmaligem Klopfen eine kleine Luke in der Klosterpforte öffnete, schaute ein Augenpaar mit getrübten Linsen verwundert auf die Reisenden.

»Was wollt ihr? Wir nehmen keine Fremden auf!«

»Wir würden euch nur für diese Nacht belästigen und sind mit der einfachsten Kammer zufrieden«, beschwichtigte ihn Katharina. »Wir kommen aus Nördlingen und haben wichtige Erledigungen in Augsburg zu tätigen.«

»Meinetwegen, aber Ansprüche braucht ihr nicht zu stellen. Seit dem Krieg sind große Teile des Klosters zerstört und zu essen habe ich für euch auch nichts«, murrte der Mönch, während er die Klosterpforte einen Spalt öffnete. Beim Durchschreiten des verwilderten Klostergartens erzählte er weiter:

»Seit dem Tod von Bruder Jakobus letztes Jahr bin ich allein hier. Man muss aufpassen, es ist viel Gesindel unterwegs. Ich bin übrigens Bruder Antonius.

Hier könnt ihr schlafen. Wenn ihr noch etwas braucht, findet ihr mich in der Kirche beim Abendgebet.« Dankend schloss Katharina die schwere Türe hinter dem Mönch.

»Da sind wir mal keine Minute zu früh hier angekommen«, bemerkte Simon, als er durch das Fenster blickte. Mit Blitz und Donner entlud sich ein heftiges Gewitter. Wasser rann über das Glas der Fenster. Im dämmrigen Abendlicht sah Simon eine Gestalt in Mönchskutte über den Klosterhof eilen. Sagte Bruder Antonius nicht, er sei alleine hier? Er konnte das ja unmöglich sein. Er hat das Zimmer ja gerade erst verlassen. Um Katharina nicht zu beunruhigen, wendete sich Simon seinem Nachtlager zu.

Seine Begleiterin hatte inzwischen einen Kienspan11 aus ihrem Leinenbeutel hervorgeholt und entzündet. Im Schein der rußenden Flamme lagen sie wortlos unter ihren Decken.

»Simon?«, unterbrach Katharina die Stille. »Hältst du mich fest? Ich hasse Gewitter.« Dann lag Katharina in Simons Armen. Ihre Hand strich zärtlich über seine Brust. Als sich ihre Blicke trafen, lächelten sie sich kurz an, schauten dann aber beide verlegen weg.

»Ist schon ein komisches Gefühl, wenn man sich schon so lange kennt wie wir«, flüsterte Katharina.

»Ja, das stimmt.« Einen Moment sagte keiner von beiden etwas.

»Mein Gott, du bist ja immer noch so schüchtern wie zur Schulzeit!«, lachte Katharina. Sie drehte sich zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Es dauerte eine Weile, bis Simon realisierte, was eben geschehen war. Als sich ihre Blicke trafen, mussten beide herzhaft lachen. Danach wurden ihre Mienen wieder ernst. Vorsichtig reckte Simon seinen Kopf. Katharina befeuchtete ihren Mund mit der Zunge und kam ihm entgegen. Dann fanden sich ihre Lippen zu einem Kuss. Erst ganz vorsichtig, dann immer wilder und fordernder. Hände erkundeten fremde Haut, Kleidung wurde achtlos abgestreift.

Katharinas Atem beschleunigte sich. So hatte sie das noch nie gefühlt. Ihre Zungen tanzten und umkreisten sich, während sie zu einer einzigen Einheit verschmolzen. Ein Gefühl von Wärme und Glück durchströmte die Liebenden.

Sie glitten hinüber in einen zufriedenen Schlaf.

Aufgeweckt von Schritten auf dem Flur, löste sich Simon von Katharina. Seine Gedanken waren wieder bei dem unbekannten Mönch, den er im Klosterhof gesehen hatte.

Neugierig öffnete er die Türe zum Flur, um zu sehen, was dort mitten in der Nacht vor sich ging. Doch es war stockfinster und auch nichts mehr zu hören. Plötzlich spürte er ein Brennen. Als er sich an den Bauch fasste, musste er feststellen, dass ein Messer in ihm steckte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, dann verlor er das Bewusstsein.

*

Als Katharina erwachte, war es immer noch dunkel und ihr Schädel dröhnte, als hätte sie gestern mehrere Krüge Wein getrunken. Schnell begriff sie, dass sie nicht mehr mit Simon im Nachtlager des Klosters lag, sondern in einer Holzkiste auf einem Fuhrwerk unterwegs war.

»Wer seid ihr? Und was wollt ihr von mir?«, rief sie panisch. Aber alles, was sie hörte, war das monotone Rumpeln der eisenbeschlagenen Räder.

Was war nur passiert? Jemand musste sie niedergeschlagen haben. Und wo um Himmels willen war Simon, dachte sie sich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, als ihre Schmerzen in den Knochen schon fast unerträglich wurden, stoppte das Gefährt. Als die Kiste geöffnet wurde, kniff Katharina ihre geblendeten Augen zusammen.

»Wer seid ihr? Und wo bin ich hier?«

»Willkommen in Augsburg. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise«, sagte einer der beiden unbekannten Männer übertrieben vornehm. Ohne ein weiteres Wort führten sie die junge Frau in ein großes Gebäude.

»Ihr hattet ein schönes Zimmer im Eisenhaus12 bestellt«, machte sich der andere der beiden über sie nun lustig. Entsetzt hörte sie qualvolle Schmerzensschreie einer Frau und wurde in eine Zelle gestoßen. Krachend flog die Gittertüre hinter ihr ins Schloss.

»Was wird mir vorgeworfen?«, schrie Katharina verzweifelt. Doch sie bekam keine Antwort. Ihre Zelle war gerade so groß, dass sie sich nach allen Seiten ausstrecken konnte. Auf dem kalten Steinboden war Stroh ausgelegt. Außer dem Eimer für die Notdurft war die Zelle leer. Katharina kauerte sich in eine Ecke, umschlang ihre Beine mit den Armen und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Flieht von hier, wenn Ihr könnt. Der Herrgott wacht und der Pfaffe lacht«, hörte sie einen alten Mann sprechen, der in der Zelle gegenüber angekettet war. Er schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Sein graues langes Haar und sein Bart waren Zeugen eines wohl schon längeren Aufenthalts. Dennoch hat er seinen Humor nicht verloren, dachte sich Katharina.

»Pfaffentrug und Weiberlist geht über alles, was ihr wisst«, wieder lachte der Alte.

»Wenn die Hexe stirbt, möchte ich nicht in deiner Haut stecken, Henker. Wir brechen die Befragung für heute ab. Sperrt sie wieder in die Zelle!« Zwei Männer schleiften eine bewusstlose Frau in Katharinas Zelle und ließen sie zu Boden fallen wie einen Mehlsack. Die Apothekerin hielt vor Entsetzen die Hand vor den Mund. Die Arme der Frau waren unnatürlich nach hinten gebogen, die Haut an den Daumen aufgeplatzt und nur notdürftig mit einem schmutzigen Lappen umwickelt.

»Es ist nicht Not, dass die Pfaffen heiraten, solange die Bauern Weiber haben!«, krächzte der Alte aus der gegenüberliegenden Zelle.

»Mein Gott, spart Euch doch Eure dämlichen Sprüche für andere auf. Hier liegt eine fast zu Tode gefolterte Frau und Ihr macht immer noch blöde Witze«, rief Katharina, sichtlich erbost. Die gefolterte Frau stöhnte leise.

 

»Kannst du mich hören? Wie heißt du?«, fragte die Heilkundige.

»Martha, die Hebamme«, wisperte sie.

»Ich werde dir jetzt leider noch einmal wehtun müssen, Martha. Deine Schultergelenke sind ausgekugelt.« Martha nickte fast unmerklich. Sie drehte die Frau auf den Rücken und stellte ein Bein auf ihre Brust, packte Martha am Handgelenk und riss mit einem schnellen Ruck an ihrem Arm. Erneut war ein Knacken in der Schulter von Martha zu hören. Die gepeinigte Frau brachte nur ein Stöhnen über ihre Lippen. Auch die zweite Schulter war auf gleiche Weise schnell in ihre ursprüngliche Lage gebracht. Ein leises »Danke« kam über ihre Lippen.

Als Martha sich nach mehreren Stunden etwas erholt hatte, fragte sie: »Wer bist du, dass du weißt, wie man Gelenke einrenkt?«

»Katharina, die Apothekerin aus Nördlingen.«

»Und weshalb bist du hier?«

»Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nicht mal, wie ich hierhergekommen bin. Keiner gibt mir eine Antwort auf meine Fragen. Ich war mit einem Freund aus Nördlingen aufgebrochen, um meinen verschollenen Ehemann zu suchen. Im Kloster Heilig Kreuz in Donauwörth wurden wir dann überfallen. Was mit meinem Freund passiert ist, weiß ich auch nicht. Mein Gott, Simon!«

Martha nahm Katharina trotz ihrer Schmerzen in den Arm und tröstete sie:

»Nicht weinen. Es wird schon alles gut werden. Dann ist es doch so, wie ich denke. Nur Augsburger und bekannte Personen werden hier hingerichtet. Die anderen werden weggebracht. Aber wohin, weiß ich nicht.«

»Der Herrgott wacht und der Pfaffe lacht«, krächzte der Alte wieder. Es näherten sich wieder Schritte. Zwei Büttel führten einige Männer in Ketten Richtung Ausgang. Als Katharina den Wachmann genauer betrachtete, blieb ihr fast das Herz stehen.

Wilhelm? Sie brachte kein Wort über ihre Lippen.

»Wer war die Wache mit den roten Haaren und dem Vollbart?«, fragte Katharina die Hebamme.

»Beim Namen kenne ich die auch nicht.«

»Der rote Willi bringt die Brauchbaren von uns hier weg«, krächzte der Alte aus der Zelle gegenüber.

»Was sagtest du, wie der heißt?«

»Der rote Willi. Ist noch recht neu hier. Nicht mal ein Jahr. Flüchtet, solange ihr noch könnt. Der Herrgott wacht und der Pfaffe lacht.«

»Oje, jetzt gehen die Sprüche wieder los«, sagte Katharina und verdrehte ihre Augen. Schritte näherten sich. Klimpernd schlugen Schlüssel aneinander, als eine Wache die Gittertüre der beiden Frauen entriegelte.

»Hände auf den Rücken!«, befahl ihr der Hüne und fesselte Katharina.

»Was soll das jetzt werden?«, wollte Katharina wissen, als ihr die Wache mit einem Stück Leinen die Augen verband.

»Plapper nicht, Weib. Du sagst nur was, wenn du gefragt wirst!« Sie hörte, wie die Zelle hinter ihr wieder verschlossen wurde, und spürte einen festen Männergriff an ihrem Arm.

Er führte sie nach rechts von der Zelle weg und bog nach wenigen Schritten links ab. Kurz darauf blieb er stehen. Ein Klicken und ein knarzendes Geräusch waren zu hören.

»Bück dich«, sagte die Wache zu ihr und drückte Katharinas Kopf nach unten. Ein leichter Zugluft blies der Apothekerin entgegen. Es roch noch muffiger und feuchter als in ihrer Zelle. Eine ganze Weile marschierten sie geradeaus.

»Jetzt die Treppe hoch!« So stapfte sie eine Vielzahl von Stufen empor, bis sich vor ihr wieder knarzend eine Türe öffnete. Der Modergeruch war plötzlich verschwunden.

Als ihr die Augenbinde abgenommen wurde, staunte Katharina nur noch. So viel Pracht und Prunk hatte sie in ihrem Leben noch nie gesehen. Sie war in einer Halle, die gut zwei Steinwurf lang und einen breit war. Sie hätte einen Stein wohl nicht so hoch werfen können, um die Decke der Halle zu treffen. An dieser waren Malereien, umrahmt von goldenen Verzierungen. Es war unglaublich hell durch die vielen Fenster.

»Da staunst du, was!«, lachte der Wachmann.

»Lass uns allein«, befahl ein gut gekleideter Mann, der einige Jahre jünger als Katharina sein musste. Der Wachsoldat verbeugte sich und entfernte sich.

»Man hat mir wirklich nicht zu viel versprochen. Eure Schönheit raubt mir fast den Atem.«

»Danke, aber wer seid Ihr?«, fragte Katharina neugierig.

»Oh, verzeiht mein rüpelhaftes Verhalten. Sigismund Franz von Habsburg. Wie ist Euer werter Name?«

»Katharina Hof … ähm … Riesinger«, stotterte sie. Es war wohl besser, nicht den Namen des roten Willi zu erwähnen.

»Na dann, Katharina, leistet mir ein wenig Gesellschaft. Lasst uns ins Fürstenzimmer hinübergehen. Hier im goldenen Saal ist es etwas ungemütlich«, erklärte Sigismund und reichte ihr den Ellbogen.

»Warum hält man mich hier gefangen?«

»Das, meine Liebe, entzieht sich meiner Kenntnis.«

»Aber Ihr seid doch hier das Oberhaupt, dann müsstet Ihr doch wissen, wer wegen welcher Straftaten inhaftiert wird.«

»Ich glaube, Ihr seid Euch nicht ganz bewusst, wen Ihr vor Euch habt. Ich bin Erzherzog und Bischof von Augsburg. Mein Onkel war Kaiser Ferdinand II. Meine Schwester wird am 2. Juli Ferdinand III., den römisch-deutschen Kaiser, meinen Cousin, heiraten. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als zu wissen, wer bei uns im Kerker sitzt? Ohne Grund ist dort niemand«, verschärfte sich der Ton des edlen Mannes.

»Tut mir leid, wenn ich Euch widersprechen muss, Eure Exzellenz. Ich leider schon. Und es wurde mir bisher nicht gesagt, was mir überhaupt vorgeworfen wird.«

»Wärt Ihr nicht ein so bezauberndes Wesen, würde ich Euch für diese Unverschämtheit hinrichten lassen«, erwiderte ihr der Erzherzog mit lächelnder Miene. »Aber lasst uns doch das Thema wechseln. Ihr kommt aus Augsburg?«

»Nein, ich komme aus Nördlingen. Mein Stiefvater hatte dort eine Apotheke, die ich erst kürzlich übernommen habe. Aber es gibt Probleme mit der Erbschaft. Warum können hierzulande Frauen nicht erben?«

»Warum? Weil schon das Alte Testament lehrt: Mach dir die Frau zu deinem Untertan. Wozu also soll ein Weib eine Erbschaft machen?«, fragte er sie und blickte ihr in die Augen. Darauf wusste sie keine Antwort. Sie konnte sich nicht auch noch in Anwesenheit des Bischofs gegen die Kirche stellen.

»Wie, sagtet Ihr, ist Euer Name?«

»Riesinger.«

»Nie gehört den Namen. Aus Nördlingen kenne ich nur einen Hofmeister.« Katharina schluckte.

Was hat Wilhelm mit dem Bischof zu schaffen, dachte sie sich.

»Hab Ihr schon einmal von einer Silbermine in Eurer Gegend gehört?«

»Eine Silbermine? In Nördlingen? Nein.«

Sigismund Franz von Habsburg schaute enttäuscht.

»Gut, Katharina. Es wird Zeit, mich zu verabschieden. Auf mich wartet noch eine Menge Arbeit. Hat mich sehr gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich werde gleich einer Wache Bescheid geben, die Euch zurückbringen wird.«

11 Holzspan aus geharztem Kiefernholz als Beleuchtungsmittel. Brenndauer ca. 20 min.

12 Ehemaliges Augsburger Gefängnis. Es wurde 1882 abgerissen. Das Grundstück wurde nicht mehr bebaut und bildet den heutigen Elias-Holl-Platz.

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