Buch lesen: «2034»

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Stefan Koenig

2034

10 Jahre nach Corona - 50 Jahre nach Orwells 1984

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Inhaltsverzeichnis

Titel

2034

Stefan Koenig

Empört euch

Zur Beachtung

Auf dem Seziertisch 2022

Was Sie unbedingt noch wissen sollten …

Kurz bevor mich der Pathologe aufschlitzte

Genf, Frühsommer 2009

Gießen, Pathologie, Raum 508

Trottel am Werk

Opfer der Impfstory?

Genf, Schweinegrippe 2009

Nebenbemerkung

New Orwell 2034

Alte Geschichten

Das Video vom Prozess 2025

Das Urteil

Fahrt ins Ungewisse 2034

Auf dem Weg nach Weimar

Weimar, Kulturstadt im Fünften Reich

Ein Fantasie-Urteil auf dem Weg nach Berlin

Das Reichstheater: Er ist wieder da

Dank an

Dokumente aus dem Bunker

Anmerkung des Autors

Falls es Sie interessiert …

Teil 1

Teil II

Teil III

Anhang

Impressum neobooks

2034

Ein wirklich leistungsfähiger

totalitärer Staat wäre ein Staat,

in dem die allmächtige Exekutive politischer Machthaber

und ihre Armee von Managern

eine Bevölkerung von

Zwangsarbeitern beherrscht,

die zu gar nichts gezwungen

zu werden brauchen,

weil sie ihre Sklaverei lieben.

(Aldous Huxley in »Schöne neue Welt«)

»Die perfekte Diktatur wird

den Anschein einer Demokratie machen,

in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen auszubrechen.

Es ist ein System der Sklaverei,

bei dem die Sklaven dank Konsum

und Unterhaltung ihre Liebe

zur Sklaverei entwickeln.«

Dieses Zitat wird fälschlicherweise oftmals

Aldous Huxley zugeschrieben.

Es stammt jedoch aus der Feder

einer unbekannten Autorenschaft,

die Huxleys Werk »Brave New World«

lediglich zusammenfasste.

Diese Zusammenfassung ist jedoch

insoweit authentisch,

als Huxley sich inhaltlich

mehrfach ähnlich geäußert hat.

In einer Rede vor Studierenden in Kalifornien sagte er 1959 beispielsweise,

dass er glaube, »dass künftige Diktaturen

Menschen dazu bringen,

ihre Beherrschung nicht als solche

zu empfinden, weil sie durch neue Techniken der Propaganda und Gehirnwäsche

sowie durch pharmazeutische Methoden

manipuliert werden«.

Stefan Koenig

2034

10 Jahre nach Corona

50 Jahre nach Orwells 1984

100 Jahre nach Gröfaz

Bericht über die

willkommene Diktatur

Fantastischer Zeitreise-Roman Band 11

Empört euch

Sie sind wie wir. Doch sind sie es nicht gerne.

Sie machen sich nicht gern mit uns gemein.

Sie schickanier‘n uns lieber aus der Ferne

Und wollen gleich nur unter ihresgleichen sein.

Wir zahlen Steuern und sie setzen ab.

Wir legen Hand an und sie spekulier‘n.

Und halten unsre Ängste klug auf Trab,

Damit wir nichts kapieren beim Verlieren.

Sie sind die Reichen. Manchmal auch die Schönen.

Sie reden Unsinn und der wird gern publiziert.

Sie faseln gern von viel zu hohen Löhnen

Und dass das unsre Wirtschaft ruiniert.

Die Börse jubelt, wenn sie die entlassen,

Die ihnen ihren Reichtum eingebracht.

Gerichtlich sind sie eher nicht zu fassen,

Denn die Gesetze sind für sie gemacht.

Empört euch, beschwert euch

Und wehrt euch, es ist nie zu spät!

Empört euch, gehört euch

Und liebt euch und widersteht!

Die Visionäre spar‘n sich kühnere Entwürfe,

Selbst die Saturierten wirken blutleer, wie kastriert.

Die Demonstranten fragen scheu,

Was sie noch dürfen,

Und an der Börse wird ein Gesslerhut platziert.

Die Menschenwürde, hieß es, wäre unantastbar,

Jetzt steht sie unter Finanzierungsvorbehalt –

Ein Volk in Duldungsstarre, grenzenlos belastbar,

Die Wärmestuben überfüllt,

Denn es wird kalt.

Den meisten ist es peinlich, noch zu fühlen

Und statt an Güte glaubt man an die Bonität,

Man lullt uns ein mit Krampf und Kampf und Spielen

Schau‘n wir vom Bildschirm auf,

Ist es vielleicht zu spät …

Die Diktatur ist nicht ganz ausgereift, sie übt noch.

Wer ihren Atem spürt, duckt sich schon präventiv.

Und nur der Narr ist noch nicht ganz erstarrt,

Er übt noch und wagt zu träumen,

deshalb nennt man ihn »naiv«.

Empört euch …

Verschwört euch …

Wir brauchen Spinner und Verrückte,

Es muss etwas passier‘n.

Wir sehen doch, wohin es führt,

Wenn die Normalen regier‘n.

(Songtext von Konstantin Wecker aus dem Jahr 2011)

Zur Beachtung

Bitte vergessen Sie nicht,

dass es sich bei dem vorliegenden Werk

um eine frei erfundene Story handelt.

Keine Angst also, SIE sind nicht gemeint!

Personen- und Orts-Namen,

die Ihnen vielleicht

bekannt vorkommen mögen,

gehören nicht zu real existierenden

Personen oder Orten.

Jedenfalls gibt es sie so nicht, nicht so!

Orte, Ereignisse und Romanfiguren

sind allesamt Erfindungen.

Nackte Illusionen.

Faktische Fiktionen.

Fiktive Fakten.

Berlin und Frankfurt

– gibt es diese Orte wirklich?

Ich bin mir in nichts mehr sicher.

Vielleicht wissen Sie mehr.

Der Autor legt Wert auf die Feststellung,

dass Alice Weidel und Karl Lauterbach

tatsächlich nicht

mit Adolf Hitler gesprochen

oder Deutschland geteilt haben.

Und noch etwas:

Ich bin Timur Vermes

für seinen Roman

»Er ist wieder da«

äußerst dankbar – ein starkes Buch!

Aber auch diesbezüglich lege ich

Wert auf die Feststellung,

dass der hier erwähnte Timbur Varmes

nicht mit Timo Vermes identisch ist

Auf dem Seziertisch 2022

Was Sie zuvor wissen sollten …

Ich schreibe Ihnen aus dem Jahr 2034. Und ich lebe noch, besser gesagt: gerade noch. Im Jahr 2022 – und damit beginne ich meinen Tatsachenbericht – lag ich als Corona-Impfopfer auf dem Seziertisch der Pathologen, gelähmt und hilflos, mit starren Augen an die Decke schauend, während ich mitbekam, wie man mich aufschneiden wollte. Ich sah mein letztes Stündlein schlagen. Überhaupt – schlagen war »in«. Draußen schlugen sich in Straßenschlachten Geimpfte und Ungeimpfte. Dann erinnere ich mich an einen schrecklichen Wintersturm im selben Jahr – es war der Sturm des Jahrhunderts.

Schließlich folgte ein erholsames und hoffnungsvolles Jahr 2023, und wir riefen die »Freie Republik« aus. Während in der zersplitterten Restrepublik das Covid-Virus und eine ziemlich wirre Politik tolle Blüten trieben, blieb unsere Freie Republik erstaunlich Virus frei. Vor zehn Jahren aber, im Jahr 2024, legte die neue Ampel-Regierung ein Gesetz nach dem anderen vor – was allerdings die grundgesetzliche Substanz unseres Gemeinwesens gehörig untergrub. Rundum spielte zudem die ganze Welt verrückt.

Die Hysterie um Covid-19 bringe mehr Menschen um als Covid selbst, sagten einige. Andere meinten, diese Art Aussagen seien eine Verharmlosung eines gefährlichen Virus, wie ihn unser Planet noch nicht erlebt habe.

Während dieses zweijährigen Pandemie-Palavers verdoppelten die zehn reichsten Familiendynastien der Welt ihr Vermögen auf 1,5 Billionen Dollar, was einem Durchschnittszuwachs von 1,3 Milliarden pro Tag entsprach. Demnach stieg das Vermögen der Milliardäre während der Pandemie stärker als in den gesamten vierzehn Jahren zuvor.

Für Milliardäre glich die Pandemie einem Goldrausch. Regierungen hatten Milliarden in die Wirtschaft gepumpt. Ein Großteil dieser Milliarden blieb bei Menschen hängen, die von steigenden Aktienkursen besonders profitierten. Während ihr Vermögen so schnell wuchs wie nie zuvor und einige von ihnen aus Langeweile und luxuriösester Neugier Ausflüge ins All unternahmen, hatte die weltweite Armut drastisch zugenommen.

Prost!

Zum Wohl!

Nun ja, ich möchte Sie, liebe Leserschaft, nicht mit Trivialitäten langweilen. Wir kennen das alles zur Genüge. »Im Westen nichts Neues« – dieser Anti-Kriegs-Roman von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928 hatte mich als Gymnasiast besonders beeindruckt. Er handelt vom Ersten Weltkrieg. Ein Nachkriegsroman. Dann kam der Mann aus Österreich mit dem ekligen Schnauzer und verwandelte Remarques Nachkriegsroman in einen Vorkriegsroman.

Ich erinnere Sie ungern, aber es scheint mir angemessen: Noch immer schreibe ich aus dem Jahr 2034. Vor einem Jahr, genau am 30. Januar 2033 – auf den Tag genau hundert Jahre nach SEINER Machtergreifung – rief Alice Weidel in Berlin vom Balkon des neuen Stadtschlosses aus das Fünfte Reich aus. Dabei schwenkte sie die schwarz-weiß-rote Reichsfahne, in der Mitte ein kreisrundes Weiß mit ihrem Konterfei. Gleichzeitig proklamierte Karl Lauterbach in Frankfurt am Main vom Balkon des Römers aus die Fünfte Republik – in Schwarz-Rot-Gold, in der Mitte ein kreisrundes Weiß mit einem fetten Schweizer Roten Kreuz. Das Interessante daran: Beide Staatsformen unterschieden sich kaum. Und dann kam da noch jene bereits erwähnte Gestalt ins Spiel, die jeder kennt – ja, ER war plötzlich wieder da. ER war das Ergebnis jener unsäglichen Corona-Pandemie. Spannend war die Frage, wo er sich feiern lassen würde – bei Alice oder bei Karl?

Diktatoren lieben es, ihre Wiederauferstehung in anderen Gewändern zu zelebrieren. Und die dazu gehörigen feschen Diktaturen verbrämen sich in neuen Staatsformen (möglichst digital) und wollen nicht als Diktaturen erkannt werden. Das alles ist verständlich. (Verkleidete Karnevalisten möchten bei einem vereinsinternen One-Night-Stand auch nicht immer erkannt werden – Alimente, Alimente!). Und wenn ich völlig unbefangen zurückblicke, so begann alles zunächst ziemlich demokratisch.

Wenn ich Ihnen, meine verehrten Leserinnen und Leser, alles der Reihe nach erzählen soll, dann muss ich wohl oder übel bei jenem Übel aus Wuhan anfangen. Vielleicht aber liegt aller Anfang, gewissermaßen die Geburt der Pandemie, in den Köpfen einiger weltbeherrschender Multimilliardäre. Dann würde mich der Erzählstrang erst einmal in die Schweiz führen. Schweizer Käse? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Sie bemerken sicher: Ich befinde mich an einer Weiche und bin bereits jetzt in der misslichen Lage, diese Weiche stellen zu müssen. Die Wege scheinen sich zu trennen – warten wir ab, ob sie wieder zusammenfinden. Verworrene Wege? … Okay, geben Sie sich einen kleinen Ruck und gehen Sie mit mir diese – vielleicht weite, vielleicht aber auch kurzweilige – Strecke mit. Immer in der sprichwörtlichen Hoffnung, dass alle Weg nach Rom führen … oder eben in die Schweiz.

Was Sie unbedingt noch wissen sollten …

Ich habe mir erlaubt, Personen der Zeitgeschichte mit ihren Klarnamen zu benennen. Nur SEINEN Namen habe ich nicht verwenden können, weil er mir bis zum heutigen Tag einfach entfallen ist. SEIN Vorname begann mit »A« und klang so ähnlich wie Arnulf, Alfons oder Arthur. SEIN Nachname begann mit »Hit« oder »Höt« oder »Hät« und könnte Hätler gelautet haben. Aber – ehrlich gesagt – ich weiß es nicht mehr.

In den Fällen, in denen es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte handelt, tauschte ich die Namen aus. Wer immer sich wiedererkennen mag, dem sei es unbenommen, sich in die Stiefel einer beliebigen Romanfigur zu stellen. Ich selbst nenne mich so, wie mich mein Autorenname ausweist. Personen, die in diesem Roman nicht vorkommen, obwohl es ihnen vielleicht eine Ehre gewesen wäre, mögen mir verzeihen. Weniger bekannte Personen, die mir gerade deshalb nahe stehen, habe ich verfremdet.

Die hier geschilderte Geschichte gehört zweifellos in die offizielle Geschichtsschreibung und ist somit eindeutig wahr – selbst dann, wenn die Geschichte eines Tages von regierungshörigen Historikern auf Geheiß der Machthaber umgeschrieben werden sollte. Was hier geschrieben steht, ist unverfälschte Zeitgeschichte. Sie ist aus der unmittelbaren Wirklichkeit geschöpft und allein der schöpferischen Suche nach dem Sinn einer Pandemie geschuldet, von denen manche Querulanten vermuten, sie sei erfunden – was ich übrigens sehr bezweifele. Falls Sie die hier geschilderte und heute erlebte Zeitgeschichte so (oder so ähnlich) wie ich empfinden, dann befinden Sie sich auf der gesegneten Seite der Geschichtsschreibung. Natürlich hoffe ich, dass Sie dabei nicht auf dem Seziertisch landeten, wie es mir passierte.

Und jetzt zur Sache!

Es ging um alles. Wenn es um das eigene Leben geht, es sozusagen auf dem Spiel steht, erlebt man eine schauerliche Zitterpartie. Sie können gerne aus Sympathie mitzittern. Der Ehrlichkeit halber aber muss ich Ihnen gestehen: Es ist mir egal.

Jetzt ist es mir egal, völlig egal.

Kurz bevor mich der Pathologe aufschlitzte

Ich liege da; jedenfalls habe ich das unbestimmte Gefühl, dass ich liege. Aber ich weiß es nicht mit hundertprozentiger Gewissheit. Ich habe das Gefühl, dass meine Augen offen sind, doch selbst das könnte ich nicht beschwören, denn es ist so dunkel, dass ich einen Moment lang glaube (wie lange genau, das weiß ich nicht), ich sei vielleicht noch immer bewusstlos. Dann wird mir langsam klar, dass Bewusstlose nicht solche Gefühle haben können. Ein Fetzen Erinnerung dringt zu mir durch und behauptet, das Unglück habe mit der Diskussion um die Corona-Impfung begonnen.

Es stimmt ja auch, noch vor kurzem hatte ich mit meinem Arbeitskollegen Ben (wir arbeiten im gleichen Verlag im gemeinsamen Büro, aber ohne Maske) das sehr spezielle Thema diskutiert: Wer kann wen anstecken? Wer ist für wen gefährlich? Sollten wir uns auf drei Metern Entfernung acht Stunden am Tag gegenüber sitzen und uns unter einer widerlichen Maske bei der Arbeit abquälen?

Kein einfaches Thema: Sollte man das Virus mit einem unwirksamen Impfstoff, den man alle paar Wochen neu spritzen musste, gewissermaßen mit einer Art Dauerimpfschleife, bekämpfen? Oder sollte man auf die Eigenimmunisierung vertrauen, nachdem die erste und aggressivste Virusvariante durch war? Zu letzterem gab es eine Menge länderspezifischer Beispiele. Aber weder Ben noch ich hatten damals das Bedürfnis, uns mit dieser Frage als Hobbyforscher hervorzutun und das Laien-Spiel der »Alleswisser« auf Social Media mitzuspielen.

Und es interessiert mich im Moment auch wirklich nicht. Im Moment habe ich das Gefühl, mich durchs Dunkel zu bewegen, von einem leisen rhythmischen Geräusch begleitet, das nur ein quietschendes Rad sein kann.

Ich bin ziemlich sicher, dass ich mich ohne mein Zutun bewege. Und ich spüre mich; spüre meinen Körper von der rasierten Glatze bis zu den pedikürten kleinen Fußzehen. Ich glaube, etwas rundum riecht nach Gummi oder Vinyl – und dieser Geruch rollt mit mir. Das ist keine Bewusstlosigkeit; meine Empfindungen sind zu echt, um ein Traum zu sein.

Wo also bin ich?

Was passiert mit mir?

Bin ich der, den ich persönlich kenne, wenn ich noch in den Spiegel schauen könnte?

Seien Sie, verehrte Leser, bitte in den kommenden Minuten tapfer. Zumindest Sie sollten unerschrocken und bei Bewusstsein bleiben.

Wenigstens Sie!

Sie wissen, was auch ich weiß: Ich liege im Dunkeln und rolle und glaube, ich sei bewusstlos. Dann dämmert mir langsam, dass Bewusstlose nicht das Gefühl haben, sich durchs Dunkel zu bewegen, von einem leisen, rhythmischen Geräusch begleitet, das nur ein quietschendes Rad sein kann. Das idiotische Quietschen jenes dämlichen Rades verstummt, und ich höre plötzlich auf, mich zu bewegen. Der Gummigeruch bekommt eine zweite Dimension und wird als Knisterton hörbar. Kann so etwas sprechen? Oder ist das eine menschliche Stimme?

Stimme Eins: „Wohin soll er?“

Keine Antwort. (Versinkt jetzt mein Hörorgan in die besagte Bewusstlosigkeit?)

Nach langer Pause, Stimme Zwei: „In die 508, glaub‘ ich ...“ Erneute Pause, jedoch nicht so lange wie zuvor, dann: „Ja, doch, Tiefgeschoss, die Fünfhunderter-Abteilung.“

Ich werde wieder in Bewegung gesetzt, diesmal etwas langsamer. Da schlürfen Füße, wahrscheinlich in irgendwelchen Badelatschen, vielleicht in Clogs. Die Besitzer der Stimmen sind auch die Besitzer der Schuhe. Schon wieder halten sie inne und Stimme Eins sagt:

„Komisch, warum für das Tiefgeschoss die Raum-Nummern aus dem fünften Stock vergeben wurden.“

Stimme Zwei: „Weil es nur vier Stockwerke gibt, Blödmann!“

Ich kapiere das Ganze nicht; ich höre ein Geräusch, als drücke jemand auf einen schwergängigen Knopf, dann höre ich einen dumpfen Schlag, dem ein leises Zischen folgt. Aha, eine Sicherheitstür, die mit Druckluft geöffnet wird.

Hey, was ist hier los?, schreie ich, aber der Schrei tönt nur in mir, wahrscheinlich nur in meinem Kopf. Mein Mund bewegt sich nicht, ebenso wenig wie meine Lippen, die geschlossen bleiben, lose aufeinander liegend. Ich denke, ich kann sie fühlen – und meine bleierne Zunge, die wie eine Flunder auf dem Meeresboden meiner Mundhöhle liegt. Aber ich kann diese Flunder nicht aufscheuchen, nicht in Bewegung bringen. Trotz meiner starken Willenskraft bleibt sie einfach wie betäubt auf dem feuchten Boden und rührt sich nicht.

Das Ding, auf dem ich zu liegen scheine, kommt wieder in Fahrt. Ein großes rollendes Skateboard? Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich, das kenne ich nur aus der Simpson-Serie! Eher ein rollendes Bett. Ahhh, jetzt dämmert‘s mir: eine Krankentrage. Ich liege auf einer rollbaren Krankentrage. Damit habe ich mal auf einer Anti-Castor-Demo Bekanntschaft gemacht. Damals hatten sich die Sanitäter über meinen zusammengeschlagenen Zustand belustigt und dachten, ich würde sie nicht hören. Sei’s drum. Sehr unsensible Sani-Täter. Egal. Es ist Vergangenheit.

Das Letzte, was mit mir geschehen ist, woran ich mich im Moment erinnere, spielte sich an einem schönen Mai-Nachmittag in einer Kabine in jenem umgeräumten Möbelhaus Roller in Heuchelheim ab – später einmal werde ich behaupten »Heuchelheim« oder auch »Meuchelheim« seien geeigneten Namen für so ein Impfzentrum gewesen.

Ich versuche krampfhaft, mich zu erinnern, was geschehen ist. Da war zuerst der Arzt, der routinemäßig und ziemlich unbeteiligt nach meinen Vorerkrankungen fragte. Ich schilderte ihm ausführlich meine Bedenken. Zwischendurch kamen zwei Mädels in ihren sterilen Impfklamotten und fragten ihn irgendeinen organisatorischen Kram. Schließlich sagte er wie abwesend zu mir: „Alles kein Problem. Kabine 3 ist frei.“

Dann setzte er mir die Spritze. Das Schild auf seinem Kittel weist ihn als Dr. Widuweit aus. Der kurze Pieks, dann zehn Minuten abwarten. Und dann geschah es wohl. Was dann passierte, entzieht sich meiner Erinnerung.

Was mein Hier und Jetzt allerdings betrifft, wird mir aus den Reden der fremden Stimmen klar, dass ich im fünften Stock eines Krankenhauses bin, dass mir etwas sehr Schlimmes zugestoßen ist, und dass ich operiert werden soll. Andererseits liegt das fünfte Stockwerk im Tiefgeschoss … Wie geht das? Wie passt das zusammen?

Da sagt Stimme Eins: „Ist doch einfach Schwachsinn, dem Untergeschoss hohe Raum-Nummern zu verpassen.“

„Wegen der Angehörigen“, höre ich Stimme Zwei antworten. „Die brechen doch sonst in Tränen aus, wenn sie am Telefon erfahren, sie sollen mit dem Aufzug ins Untergeschoss auf -1 fahren, um dann Raum -13 aufzusuchen. Minusgeschosse, Hölle, Tod und Teufel und dazu diese martialische Unglückszahl – 13. Jeder gefühlvolle ärztliche Kondolenz-Versuch wäre für die Katz. Problem verstanden, Bubi?“

Meine Gedanken fliehen zurück zum Krankenhaus und überhören das Gehörte. In der Krankenhaus-Idee stecken viele beruhigende Gedanken. Ich habe keine Beschwerden, spüre keine Schmerzen. Von der Kleinigkeit abgesehen, dass ich in Todesangst schwebe, fühle ich mich total fit. Nur eines wirkt auf mich etwas beunruhigend: Wenn das Krankenpfleger sind, die mich in einen OP-Saal rollen, warum kann ich sie dann nicht sehen, obwohl, wie ich denke, meine Augen offen sind? Und warum kann ich nicht sprechen und sie fragen?

Eine dritte männliche Stimme ruft von etwas weiter her: „Hier zu mir, Jungs!“

Mein rollendes Bett wird in eine neue Richtung geschoben, und die Frage, die mir durch den Kopf geht, lautet: In welche Scheiße bin ich verwickelt?

Und wer hat meine Operation veranlasst?

Hängt das nicht davon ab, wer du bist, frage ich mich, denn das ist wenigstens etwas, was ich weiß, wie ich jetzt feststelle. Ich bin Stefan Koenig, das wird wohl stimmen. Aber was macht man hier mit mir?

Zweite Stimme (spricht direkt über meinem Kopf): „Hui, haben Sie die Haare schön, Frau Doktor!“

Vierte Stimme (weiblich, eher kühl): „Immer wieder nett, Ihre Komplimente, Pit. Aber könnten Sie sich eventuell ein wenig beeilen? Ich möchte gerne zu WER WIRD MILLIONÄR zu Hause sein und einen netten Abend mit meinem Gast aus Amerika verbringen.“

Die Jauch-Sendung um Viertel nach acht. Es muss ein Freitag sein. Es ist noch Nachmittag, vielleicht später Nachmittag, aber hier ist es rabenschwarz, Schwarzer Frühling 2022 hin oder her, warum ist ein Mai-Nachmittag total finster? Was geht hier vor? War ich wirklich im Impfzentrum, bevor ich hierher kam? Was habe ich gemacht? Oder anders gefragt: Was hat man mit mir gemacht? Warum habe ich nicht am PC gesessen und meine Covid-Story zu Ende gebracht? Oder habe ich sie gar schon bei Facebook eingestellt und ich habe ... habe ... habe vielleicht unangenehmen Besuch bekommen?

Ein Geräusch: KLACK! Ein Geräusch, das ich liebe. Ein Geräusch, bei dem ich mich sicher fühle. Ein Anschnallgurt. Aha, ich werde liegend im Auto gefahren. Ich werde wahrscheinlich jeden Moment zu Hause ankommen.

Eine Art Taxi-Service.

Aber alles totaler Quatsch, kann gar nicht sein, denn ein fahrendes Auto macht Geräusche einer anderen Art – das hier quietscht höchstens wie ein kaputtes Rad an einem Kettcar.

Ich werde an Schultern und Waden gepackt und hochgehoben. Das erschreckt mich furchtbar, und wieder versuche ich zu schreien. Wieder bleibt der Schrei irgendwo im Nirwana zwischen Wollen und Können stecken. Kein Ton verlässt meine tonformende Mundhöhle ... Oder vielleicht ein einziges winziges Quietschen nur, viel leiser als das des Rades unter mir. Wahrscheinlich nicht einmal das. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.

Warum tut meine Zunge nichts? Plötzlich schießt mir ein schrecklich obszönes Bild durch den Kopf, das eine befreundete Malerin für den Kunstverein Laubach, KVL, gemalt hatte. Kurz, sehr kurz, schießt die Erinnerung ein, wie sehr sich der örtliche Karnevalsverein und der Kunstverein um das Kürzel KVL stritten. Ich liebe Vereinsstreitereien. Sie beweisen immer wieder Einsteins Relativitätstheorie – denn es gibt sie tatsächlich, die relative Blödheit. Natürlich hat Einstein weit darüber hinaus gedacht, relativ gesehen. Letztlich entschied zwischen den konkurrierenden Vereinen das Los. Gezogen hatte ich (als neutraler Schriftsteller) jenes friedensstiftende Glückslos. Leider erinnere ich mich im Moment nicht mehr, wer sich nun glücklich fühlen und KVL nennen durfte.

Meine Gedanken reißen ab. Dann, mit einem Mal, werde ich in dem mich umgebenden Dunkel durch die Luft geschwungen. He, lasst mich nicht fallen, ich habe Rückenprobleme, versuche ich zu sagen. Es stimmt zwar nicht, doch wann taugen Notlügen, wenn nicht in dieser Situation? Und auch diesmal bewegen sich weder Lippen noch Zähne. Meine Zunge liegt weiter auf dem Meeresboden. Die Flunder ist inzwischen vielleicht für immer eingeschlafen, und ich habe jetzt einen schrecklichen Gedanken, der Angst auslöst, die fast schon einer gediegenen Panik gleicht: Was ist, wenn sie mich falsch hinlegen, wenn meine Zunge nach hinten rutscht und meine Luftröhre blockiert? Ich werde nicht mehr atmen können. Das meinen Leute, wenn sie sagen, jemand habe seine Zunge verschluckt, nicht wahr? Kein Atem, kein Leben. Kein Leben, kein Buch, kein Bericht über jenes Jahr 2034, von dem ich jetzt nicht einmal weiß, ob ich es je erleben werde. Langsam drehe ich am Rad ...

Ich rekapituliere nun ein drittes Mal, was bisher geschah: Ich glaube, ich bin bewusstlos und werde auf einer Krankenliege zum OP gefahren. Aber das kann nicht stimmen, denn Bewusstlose kriegen eigentlich nichts mit. Ich hingegen kriege allerhand mit. Ich höre mehrere Stimmen, und ich habe das Gefühl, dass ich Gefühle habe. Aber ich sehe nichts. Und ich kann nicht sprechen. Jedenfalls nicht wirklich. Ich spreche mehr in Gedanken. Alles, was sich Erinnerung nennt, besteht darin: Ich saß auf einem Plastikstuhl und starrte, nach der Impfspritze, zehn lange Minuten auf die große Uhr, die vor Bens und meiner Nase an der Frontseite der Beratungskabine tickte – wie eine Zeitbombe.

War das ein überirdischer Hinweis: Deine Zeit läuft ab?

Oder hatte ich einen besonders schwierigen Corona-Ausbruch und bin hinüber – und was ich wahrnehme entspricht jener bekannten Nahtod-Erfahrung?

Oder will man mich retten – wovor auch immer? Komme ich jetzt unters Messer? Warum? Wozu? Was ist hier wirklich los?

Zweite Stimme (Pit): „Der wird Ihnen gefallen, Frau Doktor, er sieht aus wie Stephan Remmler. Vielleicht ist er‘s. Seine Personalien und die Impfakte kommen in den nächsten dreißig Minuten, hat man uns versprochen.“

Ärztin: „Wer ist Remmler?“

Dritte Stimme, scheint ein junger Mann zu sein, kaum älter als ein Teenie: „Das ist dieser Sänger von der Gruppe TRIO. Ihr Jahrgang, Frau Doktor! Sind 1982 mit dem Hit »Da da da« groß rausgekommen. Ich glaub‘ aber nicht, dass er‘s hier ist.“

Das löst Gelächter aus, in das die weibliche Stimme einstimmt (eher zweifelnd), und als ich auf etwas gelegt werde, das sich wie ein ungepolsterter Stahltisch anfühlt, macht Pit bereits den nächsten köstlichen Witz. Er hat anscheinend ein ganzes Repertoire davon auf Lager; vielleicht sogar auswendig Gelerntes von der Facebook-Seite »Humor ist, wenn man trotzdem lacht«. Ich jedenfalls verpasse diese neuerliche Heiterkeit, weil mich jähes Entsetzen befällt. Wenn meine Zunge meine Luftröhre blockiert, werde ich nicht atmen können, das war der Gedanke, der mir noch eben durch den Kopf gegangen war. Aber was ist, wenn ich gar nicht atme?

Was ist, wenn ich tot bin? Was ist, wenn der Tod genauso aussieht? Man kann nicht mehr sprechen, kann nichts mehr sehen – außer schwärzestes Schwarz.

Das passt. Das passt mit schrecklicher Genauigkeit zu allem. Das unheimliche Dunkel. Der Gummigeruch – als Sanitäter bei der Bundeswehr hatte ich einmal eine Inventur für Leichensäcke durchführen müssen, natürlich ohne Leichen. Und jetzt erkenne ich dieses Gefühl, diesen Geruch plötzlich wieder.

Großer Gott, ich bin in einem Leichensack.

€12,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
310 S. 1 Illustration
ISBN:
9783754185223
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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