Buch lesen: «Warum leiden?»
Stefan Kiechle
Warum leiden?
Ignatianische Impulse
Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ
und Martin Müller SJ
Band 47
Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.
Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.
Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuiten-orden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.
Stefan Kiechle
Warum leiden?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de Umschlag: Roberto Meraner Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-429-03353-8 (print)
978-3-429-03354-5 (pdf)
978-3-429-06005-3 (epub)
Inhalt
1. Das Problem: Die Welt ist gut, aber verdorben
Das Leid wahrnehmen
Gut geschaffen auf das Ziel hin
Von der Freiheit des Menschen
Eine Unterscheidung: das moralisch Böse – das physisch Böse
2. Täter des Bösen
Von der Macht des Bösen und der Erbsünde
Täter, weil Opfer?
Sünde erkennen und bereuen
Vergebung erfahren und weiterschenken
3. Böses bekämpfen
Sich vom Bösen nicht bestimmen lassen
Entschieden für das Gute
Das Bessere wählen
Kämpfen gegen Böses
4. Opfer des Bösen
Sühne? – Vom Sinn des Kreuzes
Unsere Kreuze
Füreinander leiden
Vom Missbrauch des Kreuzes
Exkurs: Ignatius und das Kreuz
5. Leben in verdorbener und zugleich erlöster Welt
Über die Theodizee
Mühseliges Arbeiten
Trost und Trostlosigkeit
Die Opfer der Geschichte? – Gegen die Vertröstung auf das Diesseits
Literatur
Anmerkungen
1. Das Problem: Die Welt ist gut, aber verdorben
Ein alkoholisierter, in der Gegend als Raser bekannter Autofahrer prallt in einem riskanten Überholmanöver frontal auf ein entgegenkommendes Motorrad, der 19-jährige Fahrer stirbt. Ein Tsunami walzt hunderte Dörfer nieder, die Wassergewalt ertränkt Zehntausende. Ein Priester missbraucht über viele Jahre Ministranten; Gerüchte kursieren, aber man schaut weg, schweigt. In Ruanda ermorden einander in einem unfassbaren Blutrausch zehntausende Menschen, oft unter Nachbarn oder innerhalb der Familie. In den Slums von Cali vegetieren Hunderttausende dahin, ohne sauberes Wasser, ohne medizinische Versorgung, ohne Arbeit und Einkommen, beherrscht von Drogen und Gewalt, ausgenutzt von kriminellen Banden. Eine junge Mutter, die gerade ihr viertes Kind erwartet, bekommt Leukämie und stirbt qualvoll. Eine Militärdiktatur lässt Dissidenten über dem Meer lebend aus dem Flugzeug werfen. Eine schwer schizophrene Frau lebt über Jahrzehnte in der Klinik, schließlich nimmt sie sich das Leben. Im Bürgerkrieg im Südsudan werden tausende Frauen grausam vergewaltigt. Ein Drogenkartell in Kolumbien richtet Kinder als Mörder ab. Eine vereinsamte alte Frau stirbt allein in ihrer Wohnung; durch den Geruch alarmiert, findet man Monate später die Leiche. Ein Bankmanager, der sich immer als moralisch vorbildlich präsentierte, muss tausende Mitarbeiter entlassen; später wird ruchbar, dass er Millionen an Boni an der Steuer vorbei ins Ausland geschleust hat. Eine drogenkranke Mutter vernachlässigt ihre Kinder; diese versagen in der Schule und bleiben ihr Leben lang beschädigt.
Warum das Leiden? Warum lässt ein gütiger und allmächtiger Gott zu, dass Menschen Unsägliches leiden? Können wir Leiden »bewältigen«? Wie geht das, Leiden zu bewältigen? Wie das Leiden im Glauben deuten, mit ihm umgehen, es gar »annehmen«? Warum werden Menschen böse? Wann ist ein Mensch schuldig? Wie kann man Schuld überwinden, von ihr frei werden? Was tut Gott dafür? Kann der Blick auf das Kreuz Jesu helfen? Ist die Welt erlöst? Wie wird sie erlöst? Wie werden wir ganz und heil und frei? Erfahren die Opfer der Geschichte, all die unschuldig Ermordeten, nach dem Ende Gerechtigkeit?
Um diese und ähnliche Fragen geht es in diesem Buch. Es will helfen, sich dem schwierigen Thema des Leidens zu nähern und mit ihm im Glauben umzugehen. Das Sprachproblem springt sofort ins Auge: Wie angemessen über diese so intimen und heiklen Erfahrungen sprechen? Keine begriffliche Aussage wird der Komplexität und Tiefe der Phänomene gerecht. Vor dem Leiden versagt die Sprache. Missverständnisse sind vorprogrammiert. Gegen jeden Versuch einer »positiven« Aussage kann man sofort abgründige Erfahrungen ins Feld führen, die das gerade gewagte Wort absurd erscheinen lassen, es widerlegen, ersticken. Mit paradoxen Formulierungen – ganz zu vermeiden sind sie nicht – löst man das Problem nur scheinbar, denn Widersprüche sagen wenig, die Sprache beginnt, sich selbst aufzugeben. Selbstverständlich steht hinter dem Sprachproblem ein Denkproblem: Unser Verstehen und Begreifen stößt an Grenzen, es erweist sich immer wieder als hilflos, ohnmächtig. Ich möchte daher zurückhaltend formulieren, mich dem Thema eher annähern, es umkreisen, manches andeuten, auf Denkwege verweisen, die man lesend dann selbst zu gehen hat. Oft geht es weniger um Gedanken, mehr um Gefühle, die ich vorsichtig anspreche. Manche Frage, die sich aufdrängt, wird erst später wieder aufgegriffen, manche bleibt unbeantwortet. Ich bitte um Geduld, wenn einiges im ersten Aussprechen Widerstand erregt und erst nach einem mühsamen Denkweg fassbarer wird. Ich bitte um Nachsicht, wenn trotz aller Mühe manches missverständlich oder allzu offen oder strittig bleibt. Alle Beispiele sind aus dem realen Leben, meist anonymisiert.
Einige Begriffe möchte ich vorläufig zu bestimmen versuchen:
- Ein Übel ist etwas, das aus sich eine schädliche Wirkung auf den Menschen hat und ihn leiden lässt. »Übel« ist ein subjektiver Begriff, weil er sich auf das empfindende Subjekt bezieht, und er ist seinsmäßig (ontologisch), weil er das Negative der Sache selbst meint.
- Böses ist der von jemandem verursachte, zugefügte Schaden, bei dem es Täter und Opfer gibt. Böses soll nicht sein. »Böses« ist ein moralischer (ethischer) Begriff.
- Alles Böse ist Sünde, insofern es der schöpfungsgemäßen Bestimmung zum Guten widerspricht und so den es verursachenden Menschen in eine Schuld gegenüber Gott und den Menschen führt. »Sünde« meint Böses in seiner theologischen Qualität.
- Leid(en) ist die im Menschen durch Böses (Sünde) oder Übel erzeugte schmerzhafte Empfindung.
- Schmerz ist das seelische und/oder körperliche Gefühl, das durch das Leiden erzeugt wird.
- Schuld ist zum einen (als lat. debitum) der »zu be-zahlende« Schaden, den die böse Tat (die Sünde) erzeugt; zum anderen (als lat. culpa) ist sie ein Schaden, der, weil er nicht mehr bezahlt werden kann, der (ohne Gegenleistung gewährten, also gnadenhaften) Vergebung bedarf. Nur wenn die Schuld bezahlt oder vergeben ist, kann das Böse als überwunden und vernichtet gesehen werden.
Diese Begriffe sind nicht randscharf zu trennen, und im Sprechen werden sie sich bisweilen überschneiden. Manches wird im Verlauf des Gedankengangs deutlicher werden. Doch ihre Bestimmung möge helfen, in der hier oft wirren Rede klarer zu sprechen.
Die folgenden Gedanken habe ich nach dem Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola aufgebaut. Die fünf Kapitel entsprechen in lockerer Weise den fünf Phasen des Exerzitienweges: Dieses erste Kapitel orientiert sich am »Prinzip und Fundament«, die folgenden vier an den jeweiligen »Wochen« der Exerzitien. Auf Ignatius komme ich gelegentlich zu sprechen, in Kapitel vier gibt es einen Exkurs zu ihm. Wer die Exerzitien kennt, kann das Buch auf diesem Hintergrund lesen; wer sie nicht kennt, wird auch ohne sie das Buch verstehen und seinem Weg folgen können. Thesenartig fasse ich jeden Abschnitt am Ende zusammen.
Zum Thema gibt es seit Jahrhunderten eine umfassende, nicht nur theologische Literatur. Kein lesender Mensch wird sie ganz überblicken. Ausführlich auseinandersetzen werde ich mich in diesem Essay nicht mit ihr, ich füge jedoch gelegentlich Hinweise und Zitate ein. Einigen Werken verdanke ich viel, im Anhang wird auf sie verwiesen.
Schmerzhaft springt es ins Auge, das Leiden der Menschheit. Allen Versuchen, es zu erklären oder zu minimieren oder zu verdrängen, zum Trotz fordert es den denkenden, glaubenden, hoffenden, spirituell suchenden Menschen heraus. Aus ignatianischer Inspiration, sprachlich vorsichtig und ohne den Anspruch fertiger Lösungen will dieses Buch einen Weg zeigen, sich dem Leiden anzunähern und mit ihm im Glauben umzugehen.
Das Leid wahrnehmen
Ob man Leiden wahrnimmt – bei sich selbst, beim Nächsten, beim Fernen –, hängt an der Aufmerksamkeit dafür. Aufzumerken, achtsam zu sein ist die Grundhaltung des spirituellen Menschen, die wir ein Leben lang einzuüben und zu pflegen haben.
Leiden wegzuschieben oder ihm zu entfliehen ist ganz einfach. Die moderne Welt bietet eine unglaubliche Vielfalt von Mechanismen dafür, platte und subtile, direkte und indirekte, verlogene und ehrliche, sinnliche und geistige, kleinkarierte und großspurige, teure und billige und kostenlose. Was hilft zum Verdrängen? Konsum und Kommerz, die schöne heile Welt der Medien und das Wohlgefühl des Rausches; das Plappern und das Bloggen und das Twittern, das Simsen und das Surfen, das Schaffen und das Shoppen, das Essen und der Sex und das Hetzen, das Schönsein und das Wichtigsein; das abgeschottete Eigenheim oder der Luxusurlaub, die Flucht in ästhetischen Genuss oder die in spirituelle Sonderwelten; bisweilen auch – ganz subtil – die Flucht in Ressentiments und ins Rechthaben oder das Baden in Verletztheit oder umgekehrt – und manchmal zugleich – in Schuldgefühlen. Allerdings: Ein gewisses Maß an Verdrängung brauchen wir, sonst könnten wir den Alltag nicht bestehen; die Seele kennt hierfür selbsttätige und gesunde Wege. Würde jedoch alle dunkle Wirklichkeit verdrängt, wäre das Leben eine Lüge. Menschen mit Anlage zum Depressiven schaffen es zu wenig, das Leiden zu verdrängen, sie lassen sich durch jedes Übel »runterziehen«, dann jammern sie und klagen, manche nur nach innen, zu ihrer eigenen Qual, andere nach außen, zum Verdruss der Mitmenschen. Hingegen schaffen narzisstisch Veranlagte das Verdrängen des Leids umso besser, denn sie nehmen vor allem sich selbst wahr und kümmern sich sehr effizient darum, dass ihre Schmerzen minimiert und ihre Bedürfnisse gestillt werden; doch leiden sie danach selbst unter den Folgen ihres Narzissmus – unsere modern-postmoderne Lebenskultur ist in hohem Maß narzisstisch geprägt. Das Leiden wahrzunehmen heißt, es in Wahrheit zu nehmen: ehrlich die dunklen Gefühle anschauen, betroffen und verwirrt und hilflos sein dürfen, dunkle Fragen nicht gleich beantworten, schmerzhafte Wahrheit zulassen und annehmen. Um Leiden wahrzunehmen, sollten wir gelegentlich eine gute Zeitung lesen, im Bekanntenkreis den Gescheiterten und Kranken und Verzweifelten eben nicht aus dem Weg gehen, über die offene Drogenszene am Hauptbahnhof nicht hinwegschauen, eine arme, im Heim abgestellte alte Frau besuchen, die Fernsehreportage über den Südsudan nicht wegzappen, die Karfreitagsliturgie nicht überspringen, die Angst vor dem Sterben nicht mit coolen Sprüchen wegschieben, die manchmal in uns schreiende Stille nicht zudecken – das Leiden wahrzunehmen heißt meist, nicht wegzuschauen.
Meist sind Gut und Böse ja nicht so klar durchschaubar, nicht so einfach getrennt. Meist ist die Wirklichkeit vielschichtig, ambivalent: Was sich oben als gut und heilsam präsentiert, ist darunter doch gefährlich, doppelbödig, es kann leicht kippen in Unheiles und Krankes und Böses; das Gute hat oft eine Rückseite des Üblen. Umgekehrt hat manches, das wir als böse oder nur als langweilig bekämpfen, einen guten Kern, den wir nicht vorschnell entsorgen dürfen. Oft durchschauen wir dies nicht oder zu spät und laufen ins offene Messer, also wirft uns das Übel oder Böse umso stärker nieder. Wer sich aber getäuscht fühlt, ist in seiner Ehre verletzt, also gedemütigt; nun wird er argwöhnisch und misstrauisch, jähzornig und bitter. Aufmerksam sein müssen wir auf das Ambivalente und auf das Hintergründige, auf das zu Grobe und auf das zu Feine, auf das zu Sture und auf das zu Wachsweiche, auf die Verschiedenheit der Geister und auf die Strategie des Abergeistes: sein Täuschen und Blenden, sein Verführen und Kränken …
Jugendliche sind oft idealistisch: Sie stören sich am Leiden und stürzen sich voll Eifer in die Welt, um diese zu verändern und zu verbessern, auf dass Schmerzen und Leiden weniger werden. Dieser Idealismus ist gut und heilsam. Er treibt die Menschen an, sich nicht abzufinden mit dem Bösen und sich zu engagieren gegen das Leiden. Und doch: Zum Erwachsenwerden gehört, dass man im Weltverbessern gelegentlich auf die Nase fällt, dass man einige Male Ohnmacht, Hilflosigkeit, Trauer durchleidet, dass man bestimmte Verluste als unwiederbringlich und bestimmte Mängel als nicht überwindbar akzeptiert, dass der Idealismus geerdet wird. Eine zerbrochene Liebe, eine schwere Krankheit, der Tod eines nahen Menschen, ein Scheitern beruflicher Pläne …, solche Erfahrungen helfen, in der realen Welt anzukommen, nüchtern zu werden, auf letzte Fragen zu stoßen. Doch stellt sich die Frage: Brauchen wir Krisen und Schmerzen, um zu reifen? Und warum ist das so? Warum gibt es kein schmerzfreies Reifen? Wer so erwachsen wurde, kann in Resignation und Bitterkeit verfallen – oder er lernt, neu und anders auf die Welt zuzugehen. Wem schon als Kind schweres Leid zugefügt wurde, hat es besonders schwer: Misstrauen, Angst und Verletzung sitzen tief und sind oft kaum heilbar. Manches Opfer des Bösen wird später schnell zum Täter des Bösen. Warum diese fatale Abfolge? Liegt da eine Absicht in der Schöpfung? Sicher dürfen wir Leid nicht rein pädagogisch verstehen – aber wie dann?
Der Glaube thematisiert das Leiden. Kann er es erklären? Will er es erklären? Wie hilft er, das Leiden zu bewältigen? Darf oder soll das Leiden in die gelebte Beziehung zu Gott einfließen? Bewirkt dies etwas und was? Manchmal wird auch im Glauben das Leiden zu schnell weggeredet, wegspiritualisiert, wegästhetisiert – in tiefer Predigt, in stimmungsvoller Meditation, in schöner Liturgie und Musik. Schnelle Formeln und angenehme Gefühle sind jedoch schwache Trostpflästerchen – die Wunde bricht wieder auf, und dann sieht man sich getäuscht, legt die Religion gleich ganz beiseite, denn sie sei ja doch nur Opium für das leidende Volk. Auch lastet auf dem Glauben der schwere Vorwurf, er vertröste auf das Jenseits: Hier auf Erden müsse man das Leiden erdulden, Gott wolle das so, im Jenseits gibt es dafür ewigen Lohn – im Verlauf des Buches werden diese Fragen aufgegriffen.
Wer Leid nie wahrnimmt, lebt in der Lüge, nicht in der Wirklichkeit; folglich kann er diese nicht gestalten und seinem Auftrag nicht gerecht werden. Leid wahrzunehmen erfordert Mut und Kraft, Ehrlichkeit und Geduld, Hellsicht und Unterscheidung der Geister. Als Christen haben wir den Auftrag, Leid wahrzunehmen, denn Gott will das Leid nicht. Gott selbst nimmt Leid wahr und engagiert sich dagegen.
Gut geschaffen auf das Ziel hin
Aus Nichts hat Gott die Welt geschaffen. Nach dem Zeugnis der Bibel hat er sie gut geschaffen. Den Menschen zu bilden, war Schluss- und Höhepunkt der Schöpfung. Ist der Mensch wirklich Höhepunkt? Ebenbild Gottes soll er sein, also Person, Geist, in Freiheit, bewusst seiner selbst, mit einem sittlichen Anspruch, auf ein Du hin und vom Du her konstituiert. Gott wollte die Welt und den Menschen so und nur so erschaffen.
Der Mensch ist auf ein Ziel hin geschaffen. In den Exerzitien (»Prinzip und Fundament«, EB 231) beschreibt Ignatius das Ziel: »Der Mensch ist geschaffen, um Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten.« Diese Formulierung ist alte Theologie, und sie findet sich fast wörtlich in Katechismen und Schulbüchern. »Loben« und »Ehrfurcht erweisen« meint die freundschaftliche Beziehung zu Gott, voll des Dankes, des Respekts, der Freude und des preisenden Anerkennens des Guten, das man empfängt. »Dienen« meint die Mithilfe an der Arbeit Gottes in seiner Schöpfung (vgl. EB 236), das Reparieren und Vollenden dessen, was noch krank ist und nach Erlösung schreit. »Die Seele retten« ist nicht rein jenseitig gemeint, sondern auch diesseitig, denn »retten« (salvar, salvación) ist der umfassende irdische Frieden und Trost, der allerdings in der Ewigkeit unendlich vertieft und überboten wird. Der Ausdruck ist passivisch gemeint, denn Gott rettet die Seele – aus reiner Gnade. Der Mensch kann sich »mittels« seines Lobens und Dienens nur dieser Gnade öffnen – allerdings ist dieses Öffnen selbst noch einmal von Gott gnadenhaft in ihm gewirkt. Beschreibt man das Ziel des Menschen moderner und zugleich biblischer, so heißt es »Reich Gottes«: In diesem werden alle Menschen leben, von Gott geführt, in Frieden und in Gerechtigkeit, glaubend, hoffend und liebend, in Dank und in Freude, im trostvollen und erfüllten Miteinander und mit Gott.
So weit die gut gewollte und gute Schöpfung. Woher jedoch in ihr das Übel, das Böse, das Leiden? Zunächst weist Ignatius darauf hin, dass »die übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde« dafür geschaffen sind, dem Menschen »zur Erreichung seines Zieles zu helfen«. Man soll sie also schätzen, genießen und nutzen – aber auf das Ziel hin! Nun tragen die »Dinge« jedoch in sich eine Ambivalenz: Manche helfen zum Ziel, andere nicht. Deshalb soll man sie so weit gebrauchen, als sie zum Ziel helfen, und so weit lassen, als sie zum Ziel »hindern«. Inwiefern hindern sie?
Die Dinge hindern oder halten ab vom Ziel, wenn wir unser Herz an sie binden und sie als Werte in sich begehren, anstatt sie als Mittel zum Ziel zu nutzen. Ist das Herz an Dinge gebunden, ist es wie benebelt und sieht nicht mehr im Geschöpf den Schöpfer, sondern nur noch, wie es zu Besitz und Genuss gelangt. Im Begehren der Sache um ihrer selbst willen liegt Unfreiheit. Der Mensch hat keine Distanz mehr zu den Dingen, er kann nicht annehmen, was ihm geschenkt wird, sondern er begehrt immer mehr, fixiert sich auf das Haben und Gelten und Großsein (vgl. EB 142; Mt 4,1–11); das Essen muss immer noch raffinierter, das Auto schneller, der Job machtvoller, das Prestige großartiger werden. Weil die Dinge den Menschen versklaven, werden sie zum Übel und verführen zum Bösen.
Warum aber begehrt der Mensch immer mehr? Mehr an Besitz und Genuss und Lust, an Macht und Anerkennung, an Rechthaben und Wichtigsein? Grund ist nochmals genau die Gottebenbildlichkeit: Wir sind auf Unendliches und Ewiges, auf die Fülle und den Himmel, auf Göttliches und Gott hin angelegt. Spirituelle Meister sprechen von der Sehnsucht (Ignatius: span. deseo) nach Gott, Mystiker vom göttlichen Seelenfünklein. Diese – gute – Anlage motiviert uns, nach Gott und seinem Reich zu streben und uns um Vergöttlichung zu bemühen. Sie kippt aber allzu oft dahin um, dass wir die irdischen, geschöpflichen Grenzen nicht akzeptieren und jetzt schon sein wollen wie Gott, eben groß und reich und schön, schmerzfrei und immer jung, allwissend und allmächtig, perfekt und ewig. Die »Dinge« verheißen uns solche Glückseligkeit, deswegen verführen sie uns dazu, sie »ungeordnet« zu begehren, eben mehr, als unsere geschöpfliche Begrenztheit erlaubt.
Die Frage, woher das Leiden kommt, ist damit noch keineswegs beantwortet, sondern gerade erst gestellt: Warum hat Gott eine so unvollkommene Schöpfung geschaffen? Warum ist der Mensch schon auf den Himmel und dessen Glanz hin angelegt, muss aber noch so eng begrenzt auf Erden dahinvegetieren? Warum hat er so wenig Widerstandskraft gegen die Begierlichkeit, die ihn zum Bösen verführt? Warum gibt es in der doch guten Schöpfung so viel Krankheit und Not, so viel Mangel und Unrecht, so viel Neid und Ehrgeiz, so viel Fressen und Gefressenwerden? Warum schaut Gott nicht hin, wenn seine Geschöpfe aus Gier einander umbringen?
Was ist die rechte Haltung, in dieser guten und doch so ambivalenten Welt zu leben? Ignatius nennt sie »Indifferenz«: Was mir gegeben wird, nehme ich gerne an, was nicht, das lasse ich los; ob mein Leben lang ist oder kurz, gesund oder krank, reich oder arm, ist weniger wichtig. Ich erstrebe nur, was mir zum »Ziel« hin hilft, also zum Dienst und zum Lob Gottes. »Indifferent« meint bei ihm nicht »gleichgültig« – das wäre der moderne Begriff –, sondern »gleichförmig«: dem gegenüber, was mir – letztlich von Gott – zugedacht oder zugemutet wird. Der Indifferente ist frei von ungeordnetem persönlichem Begehren und daher verfügbar für den Dienst, der auf ihn zukommt. Indifferent zu werden ist ein lebenslanger Weg, der auf Erden nie beendet sein wird. Vor einer Entscheidung soll ich mich »indifferent machen« (EB 23), also gegenüber den konkreten Alternativen aktiv diese Haltung einnehmen; zugleich ist es eine allgemeine Grundhaltung, in der ich ein Leben lang wachsen und reifen soll. Das Ideal ist hoch – für die meisten unerreichbar? Warum ist es so schwer, indifferent und frei und verfügbar zu werden?
Die Welt ist gut geschaffen. Der Mensch ist Spitze der Schöpfung und Ebenbild Gottes, was ihm seine Größe und Würde verleiht, ihn aber auch dazu verführt, die geschöpflichen Grenzen zu überschreiten und sein zu wollen wie Gott, also mehr zu begehren, als ihm zusteht. Dies ist eine Quelle des Leidens. Der Mensch soll sich um Indifferenz bemühen, also um die innere Freiheit, nur das anzunehmen, was ihm zugedacht ist, und dieses zu nutzen auf sein Ziel hin, zufrieden und verfügbar.
Der kostenlose Auszug ist beendet.