Gott die Ehre

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2.Gottunmittelbar

Schöpfer und Herr. Erstaunliche 17-mal (23 u.a.) kommt für Gott dieser Titel im Exerzitienbuch vor; meist ist Gott „ihr“ – der Seele – oder „unser“ – der Exerzitanten – Schöpfer und Herr. Damit wird Gott für die Exerzitantin zum ureigenen Gott, der sich binden lässt fast so, wie sie einen Besitz an sich bindet. „Schöpfer“ (Creador) ist die respektvolle Anrede für den, von dem sie herkommt und in dem sie sich geborgen und beschützt weiß; „Schöpfer“ bezieht sich auf das Gottesverhältnis im bisherigen Leben und im jetzigen Dasein. „Herr“ (Señor) ist in der Ritterwelt die ehrfürchtige Anrede für einen Höhergestellten: Der Ritter bindet sich mit Lehnseid an seinen Herrn, er vertraut ihm, er setzt sich mit Hingabe für ihn ein, er lässt sich von ihm beschützen und in den Dienst, ins weite Land führen; „Herr“ bezieht sich auf das Gottesverhältnis in seinem jetzigen Tun und im zukünftigen Leben. Dass Gott bevorzugt als „Schöpfer und Herr“ der „Seele“ gesehen wird, kennzeichnet das Gottesbild der Exerzitien: In seiner Güte erschuf Gott den Menschen. Dieser ist offen für Gott und lebt Freundschaft mit ihm. Gott spricht ihn persönlich an und liebt und führt ihn. Gott hat jede menschliche Person geschaffen, um für sie Herr zu sein und ihr Gnade zu erweisen: gütig, heilend, rettend.21

Der Schöpfer unmittelbar mit dem Geschöpf. Dieses Wirken Gottes (15) kann sich die Exerzitantin in ihrer Phantasie bildhaft vorstellen. Der Schöpfer wirkt (obrar) mit dem Geschöpf unmittelbar, etwa so, wie sie als Mutter – oder ein Exerzitant als Vater – sich um ihr neu geborenes Kindlein sorgt: liebevoll, zärtlich, ganz hingegeben. „Unmittelbar“ (inmediante) bedeutet, dass dieser Gott weder Mittel noch Vermittlung verwendet, sondern gleichsam direkt an seinem Geschöpf und in ihm wirkt. Theologisch ungewöhnlich für die Zeit des Ignatius ist, dass es in dieser Gottunmittelbarkeit keine Kirche, keine Sakramente, keine Amtsträger, keine Lehre braucht, vermittels derer der Schöpfer an seinem Geschöpf wirkt.22 Die Gnade kommt nicht durch die enge, exklusiv von Amtsträgern besetzte Pforte zum Gläubigen, sondern direkt und frei, ohne Hierarchie, ohne Methodik, ohne Kontrolle, gleichsam charismatisch, geistgewirkt, in den Formen unendlich vielfältig. Darf man hier kühn den Bogen zu Martin Luther schlagen, der zur gleichen Zeit eine ähnliche Gottunmittelbarkeit lehrte? Es ist eine direkte, also mystische Gotteserfahrung, die Ignatius anzielt und für möglich hält.23 Allerdings relativiert er nicht Sakramente und kirchliches Amt – Luther tendiert später dazu –, sondern er integriert diese in seine Spiritualität und Mystik.

Das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn. Ignatius ergänzt diese Aussage durch die umgekehrte, noch ungewöhnlichere: dass das Geschöpf ebenso unmittelbar mit seinem Schöpfer und Herrn wirke (15).24 Offensichtlich bewirkt das Tun des Menschen auch etwas in Gott. Ignatius führt das nicht weiter aus, aber er könnte meinen, dass in der Gottesbeziehung wie in jeder Beziehung etwas ausgetauscht wird (vgl. 231), das beide Seiten verändert. Auch Gott wird bewegt – ist das deutbar im Sinn der „Regungen“ (mociones25)? Bewegt könnte er werden durch die betende Hinwendung der Exerzitantin zu ihm und durch ihr seelisches und mystisches Erleben, das von ihm gleichsam miterlebt wird – auch mitgenossen und miterlitten? Führt jedoch dieser Gedanke nicht zu einem ungehörigen Anthropomorphismus im ignatianischen Gottesbild? Auch wenn dem so wäre: Für die Exerzitantin ist es menschlicher, wenn ihre bewegte Beziehung zu Gott bei diesem – um bildhaft zu bleiben – nicht auf eine starre, unveränderliche, kalte Maske trifft, sondern auf ein Angesicht, das lebendig ist, sich bewegen lässt und in diesem Sinn emotional und geistig stützend, ja liebevoll mit ihrer Exerzitien-Bewegung mitgeht. In Christus zeigt ihr Gott dieses Angesicht.

Übungen geben. Die man heute „Exerzitienbegleiter“ und „Exerzitant“ nennt, heißen bei Ignatius einfach „der die Übungen gibt“ bzw. „der sie empfängt“ (6, 15 u.a.). Offensichtlich ist in allem methodisch ausgefeilten und intensiv gelehrten „Begleiten“ der wichtigste Akt der, Übungen für den Exerzitanten auszuwählen und sie ihm persönlich so zu geben, dass jener sie alleine und selbständig machen kann. Der die Übungen gibt, braucht selbstverständlich eine gute Kenntnis möglicher Übungen, ihrer Wirkungen und eines sinnvollen Ablaufs von Exerzitienbewegungen und -themen. Er braucht auch ein gutes Gespür für die Person, die die Übungen empfängt, für ihre Regungen und Bewegungen und dafür, welche Übung in welchem Moment weiterhelfen kann. Der die Übungen gibt, soll sie – meistens sind es Phantasieübungen, Schriftbetrachtungen oder Gebetsübungen – knapp zusammenfassen und erklären, so dass der Übende sie eigenständig machen kann, mit seiner Phantasie und mit seinen inneren Bewegungen (2). Der Geber dirigiert nicht, sondern geht empathisch mit; vor allem hilft er dem Empfänger, die Geister wahrzunehmen und zu unterscheiden. Die Beziehung, die eigentlich bewegt ist, ist die zwischen Gott und der „Seele“. Der Geber der Übungen ist gleichsam der Dritte im Bunde, der sich aber zurückhält, eben nicht wirkt, sondern wirken lässt und intensiv hinschauend dabei ist, selbst aber nicht eingreift: Der göttliche Geist wirkt „unmittelbar“ (15), und der Mensch lässt dies zu. Im Dreiecksverhältnis der Exerzitien wird der begleitende Dritte nicht zu einem diese Unmittelbarkeit der beiden Hauptakteure störenden Mittel. Er ist weniger wichtig, bleibt weitgehend passiv, und er will nichts – wenn ihm dies zur narzisstischen Kränkung wird, muss er sie tragen. Er ist mehr ein Ermöglicher als ein Akteur, mehr ein Schauer als ein Macher. Durch die Auswahl der Übungen – seiner einzigen wirklichen Aktivität – führt er den Übenden immer wieder in Gottes Unmittelbarkeit zurück. Er hilft ihm, Störendes beiseitezuräumen, ja er wirft ihn gleichsam auf Gott – damit dieser wirken darf und die Ehre bekommt.

Wie eine Waage. Die, die Übungen gibt, darf den Übenden nicht durch das Geben von bestimmten Inhalten in eine Richtung treiben, auch wenn sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung oder ihrer geistlichen Kenntnis weiß oder zu wissen meint, was für ihn besser wäre. Vor allem bei persönlichen Entscheidungen, die der Exerzitant im Gespräch mit Gott fällen will oder soll, hält sie sich zurück. Das Bild der Waage (15) bezieht sich auf einen beweglichen Balken, der schwebend mittig auf einem festen Punkt aufruht. An seinen beiden Enden hängen Schalen, die sich zunächst auf gleicher Höhe, eben waagerecht, halten und dann mit Gewichten beschwert werden. Das schwerere Gewicht drückt seine Schale nach unten und die andere nach oben. Wenn die Begleiterin „wie eine Waage“ agiert, bleibt sie beim Entscheiden strikt neutral: Der Exerzitant beschwert selbst die Waagschalen und entdeckt so – durch den Geist, der in ihm wirkt –, welcher seiner alternativen Wege der bessere ist. Befolgt werden soll der Wille Gottes, nicht der Wille der Begleiterin – Entscheidungswege non-direktiv und dennoch helfend zu begleiten gehört zur großen Kunst derer, die die Übungen gibt.26

Freund oder Herr? Ist Gott ein hoher Herr, von dem die Übende abhängt, der sie zwar beschützt und führt und mit Gaben beschenkt, vor dem sie aber auch in Demut und Gehorsam sich zu verneigen hat? Oder ist er ein Freund, mit dem sie sich in gegenseitiger Freiheit trifft und sich partnerschaftlich, gleichsam auf Augenhöhe, austauscht? Ist die Beziehung zu ihm asymmetrisch, ein Geschehen zwischen Ungleichen, oder ist sie symmetrisch, zwischen Gleichen? Bedeutet das „unmittelbar“ eine direkte und äquivalente, quasi auch symbiotische Nähe? – Nun hat Ignatius beide Gottesbilder: Wie aufgezeigt, spricht er oft von Gott als „Herr“ oder „Schöpfer und Herr“ – ihm ist mit Respekt und Vertrauen, auch mit Ehrfurcht und Gehorsam zu begegnen. Allerdings begegnet ihm die Exerzitantin an wenigen, doch bedeutsamen Orten als ihrem „Freund“ – dieses Gottesbild wird immer christologisch gezeichnet: Sie geht ins Gespräch mit dem Gekreuzigten, mit dem man „wie ein Freund zu einem anderen spricht oder ein Diener zu seinem Herrn“ (54) – hier werden ausdrücklich beide Möglichkeiten zur Auswahl gegeben; ähnlich bei der Übung der „Zwei Banner“, in der Christus seine Rede an „alle seine Diener und Freunde“ hält (146); später bringt der Auferstandene „ein Amt zu trösten“, dabei soll man „vergleichen, wie Freunde einander zu trösten pflegen“ (224) – ist Christus als Auferstandener also nicht mehr Herr, sondern immer Freund? Ohne der Versuchung des Überinterpretierens nachzugeben, kann man wohl sagen: Je nach persönlicher Situation darf sich die Exerzitantin Gott als ihrem Herrn oder als ihrem Freund nähern. Als Freund zeigt sich Gott eher in Jesus Christus als im Vater und im Geist: Jesus ist das Gesicht Gottes, mit dem Gott Augenhöhe und Nähe, Partnerschaft und Unmittelbarkeit, ja auch Intimität und „Symbiose“ – enges Zusammenleben – zeigt. In seinem Trösteramt wird der Auferstandene zum Freund der Menschen; das wird noch genauer auszulegen sein. Gott ist Herr und Freund – man braucht die Bilder ja nicht unnötig in Gegensatz zu bringen. Als Herr meint er es so gut wie als Freund: Er erschafft und führt, er heilt und rettet, er tröstet und liebt.

Gott zeigt sich als Schöpfer und Herr. Die Exerzitantin darf ihm unmittelbar begegnen – auch ohne Vermittlung durch Amt und Sakrament. Gott bewegt sie, sie bewegt ihn. Die Begleiterin gibt ihr die Übungen und hilft ihr zur Begegnung, aber sie bleibt wie eine Waage, entscheidet nicht, steuert nicht. In dieser Mystik der Unmittelbarkeit kann Gott dem Menschen Herr oder Freund sein.

 

21In den Satzungen der Gesellschaft Jesu wird „Schöpfer und Herr“ auch direkt für Jesus Christus angewandt. Beispiele: „in dieser Gesellschaft Jesu unseres Schöpfers und Herrn“ (Sa 51, GG 603); „… um in allem unserem Schöpfer und Herrn zu dienen, der für sie gekreuzigt wurde“ (Sa 66, GG 608); „… dass größerer Lobpreis Christi unseres Schöpfers und Herrn folge“ (Sa 602, GG 755). – Bei Ignatius ist theologische Rede oft auch christologisch deutbar, selbst wenn er selbst diesen Transfer nicht macht.

22Die Inquisition verdächtigte Ignatius wegen dieses Ansatzes, ein Alumbrado zu sein.

23Karl Rahner dazu bewegend in seiner „Rede des Ignatius von Loyola an einen Jesuiten von heute“, in SW 25, 299 ff.

24Dieser Satz wird m. W. von den Kommentatoren vollständig übergangen.

25Näheres bei der Unterscheidung der Geister, Kap. 9.

26Hierzu mehr in Kap. 14. Wenn die „Seele“ sensibel oder unreif ist oder vom Begleiter emotional abhängig wird, kann dieser sie, indem er das Bild der Waage ignoriert, leicht manipulieren und in eine Richtung drängen – hier beginnt der Missbrauch geistlicher Macht, oft subtil und lange unbemerkt.

3.Die Dinge der Welt

Nutzen zum Ziel. „Die übrigen Dinge (cosas) auf dem Angesicht der Welt sind für den Menschen geschaffen und damit sie ihm bei der Verfolgung des Ziels helfen, zu dem er geschaffen ist“ (23). Das klingt arg anthropozentrisch: Haben die „Dinge“ keinen Eigenwert, werden sie nur für den Menschen und nur funktional, instrumentell geschaffen, und dienen sie ausschließlich seinem Nießbrauch? Öffnet Ignatius hier Tür und Tor dafür, die Welt wie mit einem Ritterheer zu erobern, gar die Völker zu unterjochen und sie und die Natur auszubeuten und zu zerstören – mit der bald folgenden Kolonialgeschichte und den heutigen ökologischen Problemen? Nun darf man auch hier nicht überinterpretieren. Ignatius spricht zunächst vom persönlichen Weg des Einzelnen. Mit Karl Rahner kann man von der „ignatianischen Mystik der Weltfreudigkeit“27 sprechen: Die „Dinge der Welt“ sind zunächst nicht verdorben und verführerisch, sondern gut und hilfreich. Der Mensch soll sich an ihnen freuen, sie genießen und nutzen – für sein gegebenes Ziel: Gott zu loben und ihm und den Menschen zu dienen. Dabei ist an ein pflegliches und wertschätzendes Umgehen mit den „Dingen“ zu denken: Vom Schöpfer sind sie geschaffen, damit sie dem Geschöpf Mensch helfen – diese Realität des gemeinsamen Geschaffenseins führt zum wertschätzenden Gebrauchen, dankbar und zielorientiert. Gelobt wird Gott nicht durch zerstörte, sondern durch blühende und singende Natur. Der Exerzitant besinnt sich, welche „Dinge“ – Leib, Seele und Geist; Beziehungen und besondere Gaben; Materielles und die Natur; Lebenschancen aller Art – er von Gott bekam und wie er sie künftig besser nutzen wird, für sich und für andere.

In allem Gott. Weil alle Dinge von Gott kommen, ist Gott „in allen Dingen“ präsent und spürbar. Zum Schwören etwa schreibt Ignatius, dass man nicht bei Geschöpfen schwören soll, denn man binde sich leicht an sie; die „Vollkommenen“ freilich dürften das, denn „… sie betrachten mehr, dass Gott, unser Herr, gemäß seiner eigenen Wesenheit, Gegenwart und Macht in jedem Geschöpf ist“ (39). Am Ende der Exerzitien lässt Ignatius „schauen, wie Gott in allen Geschöpfen wohnt“ – und er beschreibt die verschiedenen Arten von Geschöpfen, bis hin zum Menschen: „… indem er einen Tempel aus mir macht, da ich nach dem Gleichnis und Bild seiner göttlichen Majestät geschaffen bin“ (235). Ignatius kennt mehr die Immanenz Gottes – Gott in den Dingen – als die Transzendenz der Dinge – die Dinge in Gott. Er hält die heikle Balance zwischen zu viel Identität Gottes mit der Welt und zu viel Abstand beider. Freilich wollen Ignatius’ Andeutungen dazu keine Theorie entwickeln, sondern sie regen zur Betrachtung an – mit seinen Andeutungen befindet er sich auf gutem Boden der zeitgenössischen Theologie.28 Übrigens weist er selbst darauf hin, dass die „positiven Lehrer“ – er meint die Kirchenväter – mehr als die scholastischen Theologen „das Verlangen bewegen, in allem Gott, unseren Herrn, zu lieben und ihm zu dienen“ (363).

Ambivalent. Weil von Gott geschaffen, sind die Dinge zunächst gut und heilig und Orte der Gegenwart Gottes. Aber sie tragen auch eine Ambivalenz in sich: Sie können das Herz des Menschen binden, so dass er sie „in sich liebt“ und nicht „im Schöpfer von ihnen allen“ (316). Also begehrt er sie für sich, oft exklusiv und gierig und auf Kosten anderer, anstatt sie frei anzunehmen und zu genießen, sie zu teilen und für den Dienst einzusetzen. Indem er die Dinge nicht mehr als Geschöpfe Gottes dankbar wahrnimmt, sieht er nicht mehr den Schöpfer in ihnen, sondern sie bekommen einen Eigenwert, werden zum Ziel und Inhalt seines Begehrens und Agierens und führen ihn von Gott weg. In diesem Fall „hindern“ sie ihn „für sein Ziel“, „zu dem er geschaffen ist“ – er soll sie weglassen (23). Um die Dinge zu schätzen, aber zugleich ihrer Verführungskraft zu widerstehen, um also die rechte Balance zwischen Weltfreudigkeit und Weltflucht zu finden, braucht die Exerzitantin Unterscheidung der Geister, die sie auf dem Exerzitienweg einübt und ausübt. Mit Blick auf Novizen – sie sind ja der Urtyp des Exerzitanten – schreibt Ignatius in den Satzungen des Jesuitenordens: „Man ermahne sie häufig, in allen Dingen Gott unseren Herrn zu suchen, indem sie, sosehr es möglich ist, die Liebe zu allen Geschöpfen von sich entfernen, um sie auf deren Schöpfer zu richten und ihn in allen Dingen zu lieben und alle in ihm, gemäß seinem heiligsten und göttlichen Willen.“29

Indifferent/frei. Es ist „nötig, dass wir uns gegenüber allen geschaffenen Dingen … frei (indiferentes) machen“ (23). Dieser ignatianische Hauptbegriff – er zieht sich durch alle Theologie der Exerzitien – meint, dass die Exerzitantin die für sie attraktiven Dinge nicht einfachhin zu kriegen anstrebt, sondern ihnen gegenüber so gleichmütig und unabhängig, ja so distanziert und innerlich frei30 bleibt, dass sie, wenn sie Zugriff bekommt, diese Dinge annehmen kann oder auch nicht – je nachdem, ob sie ihr zur Verfolgung des Ziels ihres Daseins helfen oder nicht. Dabei bleiben gute Dinge für sie gut und anstrebenswert, sie geht weder abwertend noch ängstlich mit ihnen um, und sie freut sich, wenn sie einiges davon bekommt, aber das Kriterium ihrer Annahme oder Ablehnung ist ausschließlich deren Helfen bzw. Hindern zum Ziel. Ignatius wechselt übrigens an dieser Stelle von „der Mensch“ zum „wir“: Von allgemeiner anthropologischer Aussage geht er zur persönlicheren Form über und spricht vor allem jene Menschen an, die sich auf den Exerzitienweg begeben. Innere Freiheit – so ist „Indifferenz“ wohl am besten übersetzt – ist schwer zu erringen, sie muss durch den ganzen Exerzitienweg und ein Leben lang wachsen, sicher auch immer wieder mit Rückschritten und Umwegen. Zum einen ist sie eine innere Haltung, die die Exerzitantin grundsätzlich und nachhaltig anstrebt, zum anderen „macht“ sich die Exerzitantin (vgl. hacernos, 23) immer dann, wenn sie vor einer Entscheidung steht, für diese neu indifferent.31 Das Gegenbild des indifferent-freien Menschen wäre der Süchtige, der von Mitteln, die ja in der Regel in sich gut sind, so abhängt und sie unter Druck und im Übermaß konsumiert, dass sie ihn einengen und schädigen; er ist nicht nur unfrei in dem, was er entscheidet, sondern er entscheidet nicht mehr. Frei ist der Mensch, der Gutes und Hilfreiches mit Dank, mit Genuss, im rechten Maß, mit Selbstlosigkeit und mit wirklichem Nutzen für sich und für andere annimmt und gebraucht.32

Gott erschafft die Dinge der Welt, auf dass der Mensch sie dankbar genieße und nutze, für gute, göttliche Ziele. In allem ist Gott gegenwärtig und erkennbar. Weil der Mensch jedoch dazu tendiert, sich ungeordnet an Dinge zu binden und sich so von Gott wegführen zu lassen, soll er sich ihnen gegenüber innerlich frei machen. In Exerzitien arbeitet er an dieser im Grunde lebenslangen Aufgabe.

27Karl Rahner, Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit, in: SW 7, 279–293.

28Rainer Carls (2017) untersucht, ob und inwieweit der ignatianische Ansatz „panentheistisch“ ist. Er zeigt, dass dieser Begriff aus späterer Zeit stammt und auf Ignatius nur eingeschränkt angewandt werden kann, auch wenn er manches erklärt. Carls zeigt auch auf, wie Ignatius in seinem Ansatz aus Augustinus, Thomas von Aquin und Petrus Lombardus schöpft. Die heutige Frage, ob Gott – wenn er in allem ist – auch in Dingen sein kann, die krank oder böse oder tot sind, wird von Ignatius nicht gestellt.

29Sa 288, GG 670.

30Im Deutschen ist die ignatianische „Indifferenz“ zu unterscheiden vom allgemeinen Sprachgebrauch, in dem sie ja abwertend etwas wie Gleichgültigkeit bezeichnet: Wer beispielsweise religiös indifferent ist, hat kein Interesse an Religion, sie ist ihm gleichgültig. Positiv kann „gleichgültig“ freilich auch wie „indifferent“ verstanden werden: Mehrere Dinge sind zunächst einmal gleich gültig.

31Ob Indifferenz das eine oder das andere ist, wurde in der Interpretationsgeschichte kontrovers diskutiert. M.E. spricht nichts dagegen, dass sie beides in Ergänzung und Integration sein kann.

32Dominik Terstriep (2009, 8) schreibt: „Indifferenz wird mal Ausflucht, mal anspruchsvolles Suchen und Unterscheiden. Sie ist vorübergehende Schwebe. Es gelingt ihr, den Differenzen schöpferisch standzuhalten, wenn sie nicht der Gefahr der Vergleichgültigung erliegt. Eine anspruchsvolle Haltung, die gleichermaßen geistliche, geistige, politische, moralische und alltägliche Lebenswelten prägt.“

4.Sehnsucht nach Gott

Deseo/Sehnsucht. Dieser alte Begriff der Spiritualität (lat. desiderium) bedeutet so etwas wie Begehren, Wunsch, Verlangen; am häufigsten wird er deutsch mit „Sehnsucht“ wiedergegeben, die allerdings nicht zu sehr emotional oder romantisch verklärend zu verstehen ist, sondern als ein inniges, meist unerfülltes oder irdisch unerfüllbares schmerzhaftes Verlangen nach einer Person oder einem Zustand. Aus einer tief empfundenen Leere sehnt sich der Mensch nach Fülle. Existentielle Sehnsucht kann zur Todessehnsucht werden oder auch, bisweilen zugleich, zur Sehnsucht nach dem Himmel und nach Gott. Ignatius spricht oft vom Ersehnen (desear) und meint meist konkrete geistliche Erfahrungen, um die man ausdrücklich bitten soll, verschieden je nach Exerzitienphase und Betrachtungsthema (48, 73, 87, 98, 130 u.a.). In seiner Korrespondenz betont er immer wieder, dass man die Sehnsucht nach geistlichen Gütern und nach Gott lebendig halten und pflegen soll.33 Kandidaten des Ordens sollen „mit allen nur möglichen Kräften das ersehnen, was Christus unser Herr geliebt und umarmt hat … und sich mit derselben Kleidung und Diensttracht unseres Herrn kleiden“34. Wenn aber diese Sehnsucht nicht oder noch nicht „entzündet“ ist? Dann soll man erspüren, ob zumindest eine Sehnsucht nach der Sehnsucht35 vorhanden ist, und mit dieser weitergehen. Die Sehnsucht nach Gott ist das innerste Motiv für den Exerzitienweg, daher soll die Exerzitantin sie stärken und sich aus ihr im Gebet an Gott wenden. Am Ende der Exerzitien fokussiert sie ihre Sehnsucht, hinaus über konkrete geistliche Güter, auf den Grund ihrer Gottesbeziehung, indem sie „mit viel Verlangen“ (afectandose mucho) spricht: „… gib mir Deine Liebe und Gnade, denn diese genügt mir“ (234).

Die Sehnsucht ordnen. Wo es um ein Verlangen geht, das auf konkrete Ziele oder Dinge gerichtet ist, spricht Ignatius, wie angedeutet, auch vom Anhängen (afecto/afección).36 Wenn dieses nach Dingen verlangt, die zum Ziel hindern, nennt er es „ungeordnete Anhänglichkeit“ (afección desordenada, 21 u.a.) – sie würde, gäbe man ihr nach, die Ordnung des Geschöpfes auf Gott hin, der ja sein Ziel ist, stören. Daher muss dieses Anhängen geordnet werden: Ungeordnete Anhänglichkeiten – Ignatius ist da nicht ganz kohärent – sollen zum einen „entfernt“ werden (quitar de sí, 1), zum anderen soll man sich von ihnen „nicht bestimmen lassen“ (sin determinarse, 21). Der Widerspruch könnte anzeigen, dass im Laufe des Wegs die Erkenntnis fortschreitet: Der Exerzitant wird entdecken, dass das anfangs gewünschte Entfernen der ungeordneten Anhänglichkeiten auch bei intensivem Üben nicht in seiner Macht steht. Stattdessen lernt er, ihnen weniger Macht über sich zu geben, sich also von ihnen in seinen Entscheidungen nicht bestimmen zu lassen. Sie dürfen da sein, aber er folgt ihren Handlungsimpulsen nicht. Was dafür helfen kann: Er versucht, sich zeitweise zum Gegenteil des ungeordnet angestrebten Guts hinzuneigen (16), um sich innerlich von der Anhänglichkeit zu befreien, oder besser: um sich befreien zu lassen, denn auch hier wirkt im Letzten nur Gott. Geordnet wird die Sehnsucht, indem sie sich immer mehr von solchen irdischen Gütern löst, die einengen und schädigen, und immer mehr sich auf Gott und seine Gaben und Gnaden richtet.

 

Sehnsucht Gottes. Hat auch Gott eine Sehnsucht nach dem Menschen? Bei Ignatius würde man diesen Gedanken zunächst nicht vermuten, aber in zumindest zwei wichtigen Texten ist er vorhanden: In der Betrachtung von der Menschwerdung (101 ff.) schaut die Exerzitantin, wie der dreifaltige Gott vom Himmel auf die Erde sieht, wie er gleichsam erschrickt über so viel Unordnung und Sünde, so viel Leid und Verlorenheit und Tod und wie er dann beschließt, „dass die zweite Person Mensch werde, um das Menschengeschlecht zu retten“ (102) – Gott hat gleichsam eine Sehnsucht, die von ihm geschaffene und geliebte Menschheit nicht zugrunde gehen zu lassen, und wird deswegen mit seinem großen Erlösungswerk aktiv. Und am Ende der Exerzitien betrachtet die Exerzitantin, wie „der Herr sich danach sehnt (desea), sich mir zu geben, nach seiner göttlichen Anordnung, sosehr er kann“ (234): Sie gibt sich ihm, er gibt sich ihr, in gegenseitigem Verlangen, zu einem liebevollen Austauschen dessen, was beide haben und sind.37

Großmut und Freigebigkeit. Mit welcher Haltung tritt der Exerzitant in die Übungen ein? Ignatius spricht zuerst von ánimo (5), das so etwas wie den klaren und großen Mut meint. Dieser gründet auf Selbstvertrauen und leitet zum Vertrauen auf Gott, auf seinen Schutz und seine Führung hin, wobei auch das Selbstvertrauen nicht selbstgemacht ist, sondern in Gott gründet. Der gute Geist ist es, der dem Trostlosen Mut (ánimo) schenkt, außerdem Kräfte und Tröstungen, Tränen und Eingebungen (315). Auch der, der die Übungen gibt, soll dem Exerzitanten, wenn dieser unruhig oder trostlos ist, „für künftig Mut und Kräfte geben“ (7). Liberalidad (5) ist die zweite Haltung des Exerzitanten: Das spanische Wort meint die Tugend, großzügig Güter zu verteilen, ohne eine Wiedergutmachung zu erwarten – gratis, aber nicht exzessiv. Die Kultur des 16. Jahrhunderts meinte mit dem Wort jene gewisse Vornehmheit des Freien, der überhaupt Güter besitzt, und dazu die Freiheit, diese zu verschenken: zugewandt, doch auch distanziert, weder verschwenderisch noch geizig, also mit „geordneten Affekten“, und freigebig in dem Sinn, dass er in Freiheit gibt, verfügbar, dienstbereit, liebevoll.38 Sind damit Exerzitien nur möglich für Menschen, die frei über Güter verfügen, also für Reiche? Ignatius präzisiert jedoch: „… indem er ihm (nämlich Gott) sein ganzes Wollen und seine Freiheit anbietet, damit seine göttliche Majestät sich sowohl seiner Person wie alles dessen, was er hat, entsprechend ihrem heiligsten Willen bediene“ (5). Ob arm oder reich: Vor allem seine Person bietet der Exerzitant Gott an, außerdem sein freies Wollen, so dass Gott über ihn verfügen kann (vgl. 23, 234). Großmütig und freigebig geht er in die Exerzitien – wobei nur der vertrauend Mutige wirklich freigebig gibt und nur der Freigebige wirklich den Mut hat, seine Gaben, seine Freiheit und sich selbst anzubieten.

Gott pflanzt dem Menschen eine Sehnsucht ein, die ihn zu ihm zieht. Sie motiviert ihn zu Exerzitien. Zugleich sehnt sich Gott danach, den Menschen aus dem Dunkel seiner Existenz zu befreien und sich ihm zu schenken. Menschliche Sehnsucht muss geordnet werden auf Gott hin, damit man sich von Ungeordnetem nicht bestimmen lässt. Großmütig und freigebig soll man in Exerzitien eintreten.

33Hinweise und Texte dazu in DEI 565 f.

34Sa 101, GG 617.

35Sa 102, GG 617.

36Afecto ist ins Deutsche nicht als „Affekt“ zu übersetzen, denn dieser wäre deutlicher impulsiv und zerstörerisch, sondern eher als „Affektivität“; das auf Konkretes gerichtete Emotionale und Willentliche ist darin stärker als beim deseo.

37Als einen dritten Text dazu könnte man das schon in Kap. 2 erwähnte doppelte Wirken des Schöpfers mit seinem Geschöpf und des Geschöpfs mit seinem Schöpfer (15) erwähnen: Aus Sehnsucht nach seinem Geschöpf wirkt Gott unmittelbar in der Seele; die Seele ist dadurch ebenfalls zur Sehnsucht bewegt und wirkt auf Gott zurück – zwei Liebende verstärken ihre Sehnsucht füreinander.

38In den Briefen schreibt Ignatius öfters von der liberalidad Gottes (vgl. DEI 1124 f.). In den Satzungen fordert er auf, Gott für die Gönner des Ordens zu bitten, „er möge ihnen … mit seiner unendlichen und höchsten Freigebigkeit mit ewiger Belohnung die Freigebigkeit vergelten, die sie gegenüber der Gesellschaft Jesu um seiner göttlichen Liebe und Ehrfurcht willen geübt haben“ (Sa 640, GG 770).

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