Buch lesen: «Der rote Elvis»

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Stefan Ernsting

Der rote Elvis

Dean Reed – Cowboy · Rockstar · Sozialist

FUEGO

– Über dieses Buch –

Dean Reed ist der unbekanntesten Superstar aller Zeiten und sein Tod gab immer wieder Anlass zu wilden Spekulationen. Der Sänger und Cowboydarsteller aus Colorado, der im Kalten Krieg zum sowjetischen Propagandamaskottchen avancierte und 1986 in Ost-Berlin ums Leben kam, war lange Zeit vergessen. Seit Tom Hanks aber einen Spielfilm über den berühmtesten Amerikaner östlich der Mauer angekündigt hat, ist das Interesse groß.

Dean Reed spielte in 18 Filmen mit, produzierte 13 LPs und gab Konzerte in 32 Ländern. Obwohl er von den westlichen Medien ignoriert wurde, hielt ihn ein Drittel der Menschheit einst für den größten Popstar aller Zeiten. Er lebte in Chile, Mexiko, Argentinien, Spanien, Italien und zuletzt in der DDR. Dean Reed protestierte international gegen Atomkraft, Militär Juntas oder den Krieg in Vietnam und gab Konzerte in Ländern wie dem Irak, Libanon, Nicaragua, Kuba oder Bangladesch. Bei keinen anderen Weltstar verliefen die Grenzen zwischen Pop und Propaganda so fließend. Dean Reed hatte Kontakte zu hochrangigen Oppositionellen aus aller Welt, KGB-Agenten und Politikern wie Salvador Allende, Daniel Ortega oder Yassir Arafat. Der Stasi galt er als zuverlässiger Informant und den obersten Strategen des Warschauer Paktes als Geschenk des Himmels.

Parallel zu diesem Buch entstand der gleichnamige Dokumentarfilm von Leopold Grün (Totho / Neue Vision), der 2007 im Panorama der 57. Berlinale seine Premiere feiern durfte.

– P R E S S E S T I M M E N –

»Die Geschichte vom Amerikaner, der über das große Wasser in die DDR kam, um dort in einem kleinen See zu ertrinken. Stefan Ernsting hat Reed ein ausgewogenes, faires Denkmal gesetzt.«

Richard David Precht, Literaturen

»Pop war in der DDR nur in einer Placebovariante gestattet, und eine dieser Episoden hat Stefan Ernsting in der Biographie ›Der rote Elvis‹ aufgearbeitet.«

Financial Times

»Hervorragend recherchiert und flüssig geschrieben. Darüber hinaus erfährt der Leser auf beiläufige Weise zahlreiche interessante Details aus Film- und Musikgeschichte.«

Das Parlament

Für meinen Vater, der mir erklärt hat,

daß die Bösen meist Anzüge tragen.

»Von der Berliner Mauer bis Sibirien, Dean Reed aus Colorado ist der größte Star der Popmusik. Reed wird von Russen und anderen Osteuropäern als der prominenteste Amerikaner nach Präsident Ford und Henry Kissinger genannt.«

(People Magazine, 16. Februar 1976)

»Ich hatte noch nie von ihm gehört, bis ich 1979 als Delegierter zum Internationalen Filmfestival Moskau eingeladen war. Ich ging mit meinem Dolmetscher über den Roten Platz, als ich einen Mann sah, der von seinen Fans fast erdrückt wurde. Ich fragte, wer ist das denn, und man sagte, ›Oh, mein Gott, es ist Dean Reed, der berühmteste Amerikaner der Welt!‹«

(Filmemacher Will Roberts beim Boulder Film Festival 2001 in den USA)

»Wenn es um Frieden geht, sollte einem jeder recht sein!«

(Karl-Eduard von Schnitzler)

Einführung:
Der unbekannte Cowboy

»Dies ist der Westen. Wenn die Legende zur Wirklichkeit wird, drucken wir die Legende.«

(Der Zeitungsverleger in Der Mann, der Liberty Valance erschoß)

Am 17. Juni 1986 um 10. 30 Uhr wurde im Zeuthener See bei Berlin die Leiche des amerikanischen Schauspielers und Sängers Dean Reed gefunden. Er war die größte Popikone, die der Sozialismus hervorgebracht hatte, aber im Westen hatte kaum jemand von ihm gehört. Nicht weit entfernt vom Ufer des Sees hatten Volkspolizisten zwei Tage zuvor sein Auto entdeckt. Dean Reed hinterließ einen Abschiedsbrief auf der Rückseite des Drehbuches für seinen Film Blutiges Herz über die Vorfälle in Wounded Knee Anfang der 1970er. Am 24. Juni 1986 hätten auf der Krim die Dreharbeiten beginnen sollen, aber die Produktion war in Zeiten der Perestroika längst nicht mehr erwünscht. Die neuen Männer in Moskau hatten ihn unverhohlen »einen Lakaien Breshnews« genannt und deutlich gemacht, dass in der Sowjetuinion ein neuer Wind wehte.

Aber Dean Reed war längst zu seinem eigenen Mythos geworden und der Tod des Amerikaners wurde zum Politikum erster Güte. Freunde, Verwandte und Fans standen vor einem Rätsel. Die staatlichen Medien der DDR sprachen von einem tragischen Unfall, um eine öffentliche Diskussion zu vermeiden. Vertuschungsmanöver und die Gerüchte um einen mysteriösen Abschiedsbrief nährten einschlägige Verschwörungstheorien, die sich schon bald um den Tod von Dean Reed rankten. Niemand mochte so recht glauben, daß ein durchtrainierter Endvierziger wie er versehentlich in knietiefes Wasser fiel und ertrank. Man wußte, daß man nur einen Teil der Geschichte kannte und die Wahrheit vermutlich nie ans Licht kommen würde.

Je länger ich die Geschichte von Dean Reed recherchierte, desto dubioser erschien sie. Legendenbildung und Wunschdenken dichteten Dean Reed nachträglich eine Schlüsselrolle im Kalten Krieg an, die kaum zu überprüfen war. Verschwundene Stasiakten, Kontakte zu zweitrangigem Geheimdienstpersonal und Geschichten aus dritter Hand schienen sich zu einem Spionagethriller zu vermengen. Die Handlung: Ein Mann wird bei seinem einsamen Kampf an der unsichtbaren Grenze von Freund und Feind gleichermaßen verraten.

Dean Reed war der unbekannteste Superstar aller Zeiten. Er spielte in 18 Filmen mit, produzierte mehr als ein Dutzend Langspielplatten und pflegte Kontakte zu Politikern wie Salvador Allende oder Yassir Arafat. Für viele Menschen im Ostblock war er der erste amerikanische Rockstar gewesen, den sie zu Gesicht bekamen. Reed drehte an der Seite von Yul Brynner, Anita Ekberg, Lana Turner, Franco Citti, Armin Mueller-Stahl oder Trashgrößen wie Elisabeth Campbell, Sal Borgese und Cris Huerta, aber sein Name war lange Zeit nur als kuriose Randnotiz im Internet verzeichnet.

Dean Reed gab als erster Amerikaner Konzerte hinter dem Eisernen Vorhang und tourte durch 32 Länder. Er spielte Songs von Elvis und den Beatles, trug »richtige« Jeans und war ein echter Amerikaner wie aus dem Bilderbuch. Charisma, gutes Aussehen und ein makelloses Lächeln hatten ihm bereits 1959 einen Plattenvertrag bei Capitol Records in Hollywood beschert. Ab 1960 lebte Dean Reed in Chile, Argentinien und Peru, drehte in Italien eine Reihe von Spaghettiwestern und war ansonsten beständig auf Tourneen unterwegs.

1972 hatte er seinen Wohnsitz in die DDR verlegt und verhalf dem grauen sozialistischen Alltag zu ein wenig Glamour. Als revolutionäres Vorbild für die Jugend mauserte er sich schnell zum parteitreuen Bürger und reckte bei jeder Gelegenheit die Faust in die Kameras.

Dank der für ihn unbeschränkten Reisefreiheit konnte er auch nach seiner Übersiedlung in die DDR international gegen Atomkraft, die chilenische Militärjunta oder den Krieg in Vietnam protestieren. Er spielte im Irak, in Nicaragua, auf Kuba oder in Bangladesch, wusch Flaggen vor amerikanischen Konsulaten, schrieb öffentliche Protestbriefe an den amerikanischen Präsidenten, unterstützte die prosowjetische Volkspartei in Afghanistan und ließ sich im Libanon mit umgehängtem Maschinengewehr und Palästinensertuch fotografieren. Wo auch immer die USA sozialistische Regierungen zu unterwandern versuchten, inszenierte sich Dean Reed als Blockadebrecher im Auftrag des Rock ’n’ Roll.

Bei keinem anderen Weltstar verliefen die Grenzen zwischen Pop und Propaganda so fließend wie im Falle von Dean Reed. Sein Erfolg in den Siebzigern und sein späteres Scheitern an den eigenen Ansprüchen stand stellvertretend für das Scheitern einer staatlichen Kulturpropaganda, die jungen Menschen im ehemaligen Ostblock einen Hauch von weiter Welt vermitteln sollte und dabei unfähig blieb, eine eigene Popkultur zu entwickeln.

Es waren weniger seine Cowboyfilme oder seine Countrysongs, die Dean Reed zum Star machten, als die einfache Tatsache, daß er aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten in den Osten gekommen war. Sein globaler Freiheitskampf wurde von den Ostmedien in Szene gesetzt, und man entwickelte um ihn einen Starkult, der sich kaum von den westlichen Inszenierungen zu kommerziellen Zwecken unterschied. Die falsch verstandene Akzeptanz durch hochrangige SED-Parteibonzen korrespondierte dabei mit Dean Reeds Unvermögen, die eigene künstlerische Mittelmäßigkeit zu überwinden.

Die Rolle, die Reed in der Realität spielte, nährte seinen Mythos vom unbeugsamen Cowboy weit stärker als die Figuren, die er auf der Leinwand darzustellen hatte. Er war ein perfekter Repräsentant der Popmoderne, einem Zeitalter, das lediglich den Unterhaltungsfaktor als Meßlatte gelten lassen mochte und Politik in Show verwandelt hatte. Eine künstlich geschaffene Ikone spielte in der Realität und auf der Leinwand die Rolle des abenteuerlichen Helden mit sozialistischem Auftrag. Die Grenze zwischen Pop und Propaganda verschwamm.

Dean Reed sprach von sich selbst oft in der dritten Person. Er kannte die Wirkung seines medial erschaffenen Alter ego und ließ sich mit Vorliebe an der Seite politischer Ikonen ablichten. Irgendwann verschmolz Dean Reed mit seinem Image als Freiheitskämpfer und Popikone und verlor den Bezug zur Realität. Sein Erfolg im Ostblock hatte ihn blind gemacht für die politischen Mißstände dort. Seine »natürlichen« Privilegien als Amerikaner ließen ihn jegliches Maß verlieren, um künstlerisch zu verwirklichen, wovon er träumte. »You can take the boy out of the country, but you can’t take the country out of the boy«, kommentierte Reed seinen Spagat zwischen den Welten. Die Erinnerung an die weiten Prärien seiner Heimat Colorado ließ ihn nicht los. Am Ende seiner Karriere dachte er sogar über eine Rückkehr in die USA nach, doch als überzeugter Marxist hatte er dort keine Aussicht auf Erfolg.

Seine Geschichte ist auch die des Kalten Krieges, der den Erfolg von Dean Reed begünstigt und befördert hat. Zu keiner anderen Zeit wäre seine Inszenierung möglich gewesen und so wurde es in den 1980ern stiller um Dean Reed. Als die hilflose Ikonographie sozialistischer Popkultur immer stärker unter dem Einbruch der politischen Realität litt, war auch der linientreue Countrysänger schnell zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Spätestens mit der aufkommenden Perestroika hatte man keinen Bedarf mehr für einen singenden Freiheitskämpfer, der die Unfreiheit in der DDR immer ignoriert hatte.

Die Geschichte von Dean Reed schien ideal, um sich nebenbei mit dem Amerika des 20. Jahrhunderts anzulegen und seinen Erfolg vor dem Hintergrund amerikanischer Popular-Mythen zu untersuchen, deren Ursprünge im Wilden Westen zu suchen sind. So ist dieses Buch auch die Geschichte vom Scheitern des amerikanischen Traumes und seinem Fortleben in den Welten von Hollywood, die das globale Bewußtsein prägten und prägen.

Das 20. Jahrhundert stand im Zeichen des Buffalo-Bill-Effektes. Es ging darum, zu sein, was man vorgab, und man wurde, was die Massen sehen wollten. William F. Cody, der vom Herumtreiber zum Filmstar und Zirkusdirektor Buffalo Bill aufstieg, war nur der Darsteller eines Helden aus Groschenromanen. Codys Westernzirkus, sein »National Entertainment«, prägte aber weltweit die Vorstellung eines historischen Amerikas mit braven Siedlern und wilden Eingeborenen. Lebensentwürfe orientierten sich immer mehr an den Produkten der Massenmedien, vor allem an denen der Traumfabrik Hollywood. Cody zerbrach am Ende ebenso wie Dean Reed an einem Film, der das wahre Leben der Indianer zeigen sollte. Er kämpfte gegen seinen eigenen Mythos, aber das Publikum bevorzugte die Märchen aus dem wilden Westen und ignorierte Codys ambitionierten Versuch, der historischen Wahrheit etwas näher zu kommen.

Die Popkultur diente einer Verschleierung der Realität. Politik wurde Unterhaltung und Pop zu Propaganda. Wo jeder Aspekt des Lebens der maximalen Unterhaltung dienen sollte, verloren die Unterschiede zwischen den einzelnen Sphären an Bedeutung.

Dean Reed, der strahlende Sonnyboy, der seiner Heimat den Rücken gekehrt hatte, um im Osten für den Sozialismus zu kämpfen, funktionierte nach diesen uramerikanischen Unterhaltungsmustern. Als singender Cowboy mit rotem Stern am Revers seiner Lederjacke repräsentierte er einen grotesken Gegenentwurf zum Westernmythos, der ebenso unrealistisch war wie die Filme eines Elvis Presley, fungierte aber gleichzeitig als Dauerwerbung für den amerikanischen Traum eines Jungen vom Lande, der es »geschafft« hatte.

Die Eroberung der Wirklichkeit reichte dabei in den USA vom frühen Westernfilm zu den Auswüchsen des Action-Kinos im frühen 21. Jahrhundert. Was mit dem »National Entertainment« von Buffalo Bill begann, endete mit einer Geschichtsschreibung, die von Hollywood übernommen wurde. Motive aus Westernfilmen wurden als politische Strategien ausgegeben. Die Welt bekam eine Sichtweise vorgesetzt, die jede Realität durch »brutalstmögliches« Wunschdenken ersetzte. Spätestens seit es John Rambo gelungen war, den Vietnamkrieg nachträglich im Kino zu gewinnen und man für das erfolgreiche Historiendrama Pearl Harbour (2001) einen neuen Schluß schrieb, der einen amerikanischen Rachefeldzug mit großem Showdown beinhaltete, war die Realität im neuen Jahrtausend kaum noch von der Fiktion zu unterscheiden.

Dean Reed selbst geizte nie mit Anekdoten und Übertreibungen, die seine Legendenbildung beförderten. Er ließ sich als Hollywood-Deserteur feiern, der aus politischen Gründen auf eine große Karriere in den USA verzichtet hatte, und präsentierte sich als großer Spieler, der den Mächtigen auf der Nase herumrumtanzte. Seine Biographie liest sich wie ein Drehbuch, und sein mysteriöser Tod bietet mehr als genug Raum für Spekulationen aller Art. Dean Reed wurde von seinem Mythos überschattet und mutierte posthum zu einer Projektionsfläche für abenteuerliche Geschichten jeglicher Couleur.

Es galt deshalb vor allem, zwischen Propaganda, Pop, Promotion, Bildzeitung, Wunschvorstellung, Hollywood, Hirngespinsten und politischer Intrige zu unterscheiden, um zu beleuchten, was für ein Mensch Dean Reed tatsächlich war. Was hat ihn beeinflußt? Woher kam er, und wie erfolgreich war er in den USA wirklich? War Dean Reed der Liebe wegen in die DDR gezogen, oder hatte die Stasi ein wenig nachgeholfen? Hat er wirklich Selbstmord begangen und warum? Was hat er in den letzten 24 Stunden vor seinem Tode getan? Galt der Mann in Geheimdienstkreisen nur als kleiner Informant der Stasi, war er ein mit allen Wassern gewaschener CIA-Spion oder gar Doppelagent zwischen den Fronten des Kalten Krieges? Wurde er am Ende tatsächlich verfolgt und umgebracht?

Wieviel von der Legende entsprach den Tatsachen, und was eignete sich einfach nur für eine gute Geschichte?

Es verwundert nicht, daß im neuen Jahrtausend auch Hollywood auf die Geschichte von Dean Reed aufmerksam wurde. Martin Scorsese, Blake Edwards, Ed Pressman oder auch Stewart Copeland, ehemaliger Drummer von The Police, interessierten sich zeitweise für eine Verfilmung. In Deutschland verfaßten zwei prominente Drehbuchautoren 1999 für einen Privatsender ein surreales Spielfilmkonzept mit dem Titel The Man in Red. Reeds Mutter Ruth Anna Brown schwebte eine TV-Saga über die ganze Familie Reed vor und auch David Hasselhoff will irgendwann im Gespräch gewesen sein, Dean Reed auf der großen Leinwand zu spielen. Alle Projekte schienen jedoch daran zu scheitern, daß man aus Dean Reed ständig etwas machen wollte, was er nie gewesen war. Zum Schluß machte sich Tom Hanks an die Geschichte und plant mit Comrade Rockstar seine erste Regiearbeit. Steven Spielberg soll seit 2003 als Produzent fungieren und die Firma Dreamworks hat das Projekt seitdem in der Vorproduktion. Angeblich soll inzwischen ein Drehbuch von Sacha Gervasi (Anvil, Hitchcock) fertig sein. Tom Hanks gastiert regelmäßig mit neuen Filmen in Berlin und wird dort auf fast jeder Pressekonferenz nach Comrade Rockstar gefragt. Hanks, der sich immer wieder mit einzelnen Zeitzeugen getroffen hat und bereits beim »Location Scouting« in Eisenhüttenstadt gesichtet wurde, hat dabei bis 2014 immer wieder öffentlich bekundet, dass er den Film nach wie vor drehen will.

Stefan Ernsting, Kathmandu, April 2014

1. Kapitel:
Die Totengräber warten schon

»Was, wenn die Welt eine Art Show wäre! … Was, wenn wir alle nur Talente wären, vom großen Talentsucher da oben zusammengestellt? Die große Show des Lebens! Jeder ein Schauspieler! Was, wenn Unterhaltung der Sinn des Lebens wäre!«

(Philip Roth, »On the Air«, 1970)

Dicker Nebel liegt über dem Zeuthener See, und ein empfindlich kühler Wind zieht durch den Berliner Stadtforst bei Schmöckwitz. Vom Endbahnhof der Tramlinie 68 waren es nur ein paar Schritte zum Schmöckwitzer Damm 6a, der letzten Adresse von Dean Reed. Als es noch eine Mauer gab und West-Berlin auf DDR-Stadtplänen als graue Fläche dargestellt wurde, war dieses Waldgebiet für West-Besucher mit Tagesvisum tabu. Schmöckwitz ist der letzte Schauplatz einer Geschichte aus dem Kalten Krieg, die vor allem dadurch bestach, daß es darauf ankam, wie man sie erzählte. 1986 wurden in der DDR Untersuchungen im Falle Dean Reed angestellt, die von oberster Stelle vertuscht wurden. Der Tod des prominentesten Amerikaners östlich der Mauer wurde abgehandelt wie ein Verkehrsunfall in der Provinz. Ermittlungsergebnisse und ein ominöser Abschiedsbrief wurden im persönlichen Panzerschrank von Erich Honecker verschlossen. Erst am 20. September 1990 druckte »Das Blatt«, eine kurzlebige Zeitung aus Berlin, lange Auszüge aus Dean Reeds Abschiedsbrief und sprach erstmals öffentlich von einem Selbstmord des Entertainers. Die wahre Geschichte des Mannes aus Colorado, der dem Osten einen Hauch von Glamour und weiter Welt gebracht hatte, kam erst sehr viel später ans Licht.

Der Junge vom Lande

Dean Reed wurde am 22. September 1938 in Lakewood am Rande der Verwaltungsmetropole Denver geboren und wohnte mit seinen zwei Brüdern am 3905 Wadsworth Boulevard in Wheat Ridge. Er wuchs in einer staubigen Gegend auf, die erst sechzig Jahre zuvor aus dem Wilden Westen in die Zivilisation gefunden hatte: Colorado, eine amerikanische Provinz wie aus dem Bilderbuch.

Das weite Land und die Rocky Mountains machen glauben, daß es in der Welt noch Platz für ehrliche Rauhbeine gibt, die den lieben langen Tag im Sattel sitzen, um abends im Saloon von ihren Abenteuern zu berichten. Der Landstrich galt als verschlafen. In den Fünfzigern ritt man in Wheat Ridge noch mit dem Pferd in die Stadt. Die engstirnige Provinzialität des Mittleren Westens der USA, der christliche Fundamentalismus und die Rüstungsindustrie erzeugten zusätzlich ein Klima, das auch über die fünfziger Jahre hinaus keinen Platz für Andersdenkende hatte.

Dean Reed galt als fröhliches Kind. Sein Spitzname war Slim. Er hatte Segelohren und konnte mehr Eis essen als alle anderen Kinder in Wheat Ridge. Als Mitglied der Pfadfinder und der Future Farmers of America entwickelte er schon früh eine soziale Ader. Wenn er etwas Geld verdiente, spendete er einen Teil davon der amerikanischen Krebsforschung.


1. Familie Reed Ende der 1950er: Vernon, Dale, Dean, Ruth Anna und Cyril (v.l.)

Der Stammbaum der Familie Reed ist typisch amerikanisch. Er beginnt mit dem ersten Ahnen, der in »God’s own country« das Licht der Welt erblickt hatte. Europäische Vorfahren blieben unberücksichtigt. Die Familie ließ sich bis zu Thomas Reed zurückverfolgen, der 1783 in Pennsylvania geboren und am 21. Dezember 1853 in Ashmore, Illinois, begraben wurde. Dean Reeds Großvater Thomas Riley Reed wurde am 9. Juli 1877 in Ashmore geboren und starb am 8. August 1927 an Asthma, ohne je seinen Heimatort verlassen zu haben. Erst sein Vater Cyril Dale Reed, geboren am 20. Mai 1903, verließ die kleine Siedlung in Illinois, um sich als Lehrer bei Denver in Colorado niederzulassen, wo er am 5. August 1932 seine Schülerin Ruth Anna Hansen ehelichte.

Cyril Reed galt als »Womanizer« und wohnte auf einer kleinen Hühnerfarm. Er arbeitete als Mathematik- und Geschichtslehrer an der lokalen High School. Ruth Anna Hanse, geboren am 15. Juni 1914 in Port Chester, New York, war die Tochter dänischer Einwanderer und hatte eine Ausbildung zur Ballettänzerin absolviert. Sie verbrachte die Jahre nach ihrer Hochzeit als Hausfrau. Am 8. Juni 1935 wurde ihr erster Sohn Dale Robert geboren. Am 22. September 1938 folgte Dean und am 13. November 1943 kam mit Vernon Ray der dritte Junge zur Welt.

Colorado war einer der US-Bundesstaaten, die erst relativ spät besiedelt wurden. Die Army hatte zunächst gründlich mit den Ureinwohnern aufräumen müssen, bevor sich weiße Siedler überhaupt in die Region wagten. Die Gegend war bekannt für ihre Vielfalt an Indianerstämmen. Cheyenne, Arapaho, Comanche, Pawnee, Sioux und Kiowa waren nur die größten Stämme, die Colorado als ihre Heimat betrachteten. 1803 etablierte sich die Staatsgrenze mit der ersten Ansiedlung in Conejos im San Luis Valley. Die Region wurde zum Umschlagplatz und Handelszentrum für Felle und zur neuen Heimat fanatischer Büffeljäger.

Cyril Reed gab seine Hühnerfarm auf und begann im kalifornischen El Monte wieder als Lehrer zu arbeiten. Alle paar Jahre zog die Familie um. Über Salt Lake City ging es bald weiter durch diverse Städte in Arizona nach Pomona bei Los Angeles, wo Cyril Reed ein Geschäft für Rasenmäher eröffnete. Seine Söhne halfen im Laden mit aus, aber auch die Rasenmäher sollten den ehrgeizigen Cyril Reed irgendwann langweilen. Als Dean zehn Jahre alt war, zog die Familie zurück nach Denver, wo Vater Reed erneut als Lehrer arbeitete.

Nicht weit entfernt von Dean Reeds Heimatdorf Wheat Ridge stand Fort Laramie, einer der wichtigsten Army-Stützpunkte seit der Eroberung des Westens, der Millionen von Ureinwohnern zum Opfer gefallen waren. Zwischen 1941 und 1945 waren die militärischen Ansiedlungen im Colorado Mushroom weiter gewachsen. Der gesamte Bundesstaat verwandelte sich in eine Bastion der Rüstungsindustrie. 1951 baute man am Rande von Denver zusätzlich ein gewaltiges Atomkraftwerk, welches am 6. Juni 1989 vom FBI gestürmt und Mittelpunkt eines bundesweiten Plutonium-Skandals wurde.

Für das Kind Dean Reed war Colorado das Land des Wilden Westens aus dem Kino, und sein größter Wunsch war – natürlich – ein Pferd. Sein Vater jedoch hatte für solche Wildwestphantasien wenig Verständnis. Er schickte den Sohn statt dessen mit zehn Jahren auf eine Kadettenschule. Dean Reed lernte bei den Kadetten zwar das Reiten, aber das Militär war ihm zutiefst verhaßt. Ein Jahr lang ertrug er den Drill, bevor er zu rebellieren begann. Mit Unterstützung seiner Mutter konnte er an die heimische Wheat Ridge High School wechseln, wo er sich als guter Langstreckenläufer erwies. Möglicherweise waren die Magengeschwüre, an denen er in dieser Zeit litt – er mußte sich deswegen einer schweren Operation unterziehen – auch eine Folge des verhaßten Kadettendrills.

Dean Reeds Bruder Dale erinnerte sich in einer Nachricht im Forum von deanreed.de noch gut an seine Jugend, die von musischer Erziehung mit einem gewissen Drill geprägt war: »Unsere Eltern suchten ständig nach Möglichkeiten, den Horizont der Söhne zu erweitern. Vernon, Dean und ich selber mußten echte Arbeit leisten, aber dabei hatten wir auch Spaß. Unsere Mutter brachte z. B. zwölf Jungs aus der Nachbarschaft zusammen und bildete eine Indianer-Tanzgruppe. Wir haben unsere eigene authentische Indianerkleidung hergestellt sowie Trommeln und sonstiges Zubehör. Dazu haben wir Bücher aus der Stadtbibliothek geholt, um daraus Indianertänze zu erlernen.« Am 14. Juni 1950 berichtete auch die »Denver Post« von Ruth Anna Reed und ihrer Tanzgruppe, den Busy Bees. Ihr Tanztheaterstück A Pageant About Indians vertrat Denver gar in einem bundesweiten Theaterwettbewerb. Hier hatte Dean Reed seinen ersten Bühnenauftritt und sammelte weitere Erfahrungen in der Theatergruppe seiner High School.

Mit elf Jahren hatte er genug Geld gespart, um sich ein eigenes Pferd zu kaufen. Er hatte Stunde um Stunde die Rasen der Nachbarn gemäht, Wege von Schnee befreit, Weihnachtsbäume verkauft und Gitarre gespielt, bis er die 150 Dollar zusammenhatte. In einem Interview vom 7. Oktober 1982 im Berliner Rundfunk erinnerte er sich: »Ich bin mit meiner Gitarre von Restaurant zu Restaurant gegangen. Und ich bin immer reingegangen. Ich habe gesagt, ich bin bereit, umsonst zu spielen und zu singen, nur für Kleingeld. Und manchmal haben sie ›ja‹ gesagt, und manchmal haben sie ›nein‹ gesagt. Aber wenn sie ›ja‹ gesagt haben, bin ich von Tisch zu Tisch gegangen und habe besonders für die kleinen Kinder gesungen. Ich habe immer gemerkt, wenn man zu den kleinen Kindern singt, gibt der Vater immer gutes Kleingeld dafür. Mit diesem Geld habe ich mein erstes Pferd gekauft.«

Das Pferd, ein Falbe mit heller Mähne, wurde nach einer Comicfigur Blondie getauft, und der Elfjährige entwikkelte unbändigen Ehrgeiz, ein guter Sportreiter zu werden. Schon bald saß er sicherer im Sattel als manch Erwachsener. Später hatte er noch ein zweites Pferd namens Dagwood, das nach dem trotteligen Ehemann der Comicblondine benannt war. Blondie soll zeitweilig 1,80 Meter hoch gesprungen sein, und nicht selten gewann sie für ihren Herrn Wettbewerbe im Springreiten. Die Liebe zum Reiten hat Dean Reed nie verloren. Noch viele Jahre später erinnerte er sich wehmütig an die unbändige Weite von Colorado und endlose Ausritte.

Wie jeder andere Junge, der in der Nachkriegszeit aufwuchs, war Dean Reed ein Fan von Westernfilmen, wenn er auch nicht genau verstand, was aus den Indianern geworden war, denen er mit authentisch gebasteltem Zubehör nacheiferte. Schon bald beherrschte er die gängigen Country-Akkorde und gab den singenden Cowboy, der im Kino zwischen zwei Songs für Gerechtigkeit kämpfte und entführte Lehrerinnen befreite. Abends fuhr er allein in die Berge und spielte nur für sich selbst sehnsüchtige Lieder.

€6,99

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Umfang:
337 S. 29 Illustrationen
ISBN:
9783862871155
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Bookwire
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