Buch lesen: «Der Schnupfen»

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Stanisław Lem

Der Schnupfen

Roman

Aus dem Polnischen

von Klaus Staemmler


Titel der Originalausgabe: »Kalar«

Copyright © Estate Stanisław Lem

Copyright © der deutschen Übersetzung: Suhrkamp Verlag Berlin

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-26-2

NEAPEL – ROM

Der letzte Tag zog sich unheimlich in die Länge. Nicht weil ich Lampenfieber hatte oder Angst. Dafür gab es ja auch keinen Grund. Immer fühlte ich mich einsam in der vielsprachigen Menge. Niemand beachtete mich. Meine Beschützer hielten sich unauffällig in der Entfernung, ich kannte sie übrigens gar nicht. Und da ich nicht an einen Fluch glaubte, den ich auf mich ziehen könnte, nur weil ich in Adams’ Pyjama schlief, mich mit seinem Apparat rasierte und auf seinen Spuren an der Bucht entlangging, hätte ich mich erleichtert fühlen müssen, weil ich am nächsten Tag die falsche Haut abstreifen würde. Auch für unterwegs rechnete ich mit keiner unangenehmen Überraschung. Ihm war ja auf der Autostrada kein Haar gekrümmt worden. Und die einzige Nacht in Rom sollte ich unter besonderem Schutz verbringen. Ich redete mir ein, das sei nur der Wunsch, die Aktion zu beenden, weil sie sich als verfehlt erwiesen hatte. Ich redete mir viele vernünftige Dinge ein und verletzte doch ständig die Tageseinteilung.

Nach dem Baden sollte ich um drei Uhr ins ›Vesuvio‹ zurückkehren, aber ich befand mich schon zwanzig Minuten nach zwei in der Nähe des Hotels, als hätte mich etwas dorthin getrieben. Im Zimmer konnte bestimmt nichts passiert sein, also lief ich die Straße auf und ab. Die Umgebung kannte ich auswendig. An der Ecke ein Friseurbetrieb, dann ein Tabakladen, ein Reisebüro, dort fing der Hotelparkplatz an, der sich in eine Häuserlücke schob. Ging man am Hotel vorbei bergan, kam man zu dem Sattler, bei dem sich Adams den abgerissenen Griff seines Koffers hatte annähen lassen, sowie zu einem kleinen Nonstop-Kino. Fast wäre ich dort am ersten Abend hineingegangen, weil ich die rosa Kugeln auf dem Plakat für Planeten gehalten hatte. Erst unmittelbar vor der Kasse bemerkte ich meinen Fehler. Es war ein riesengroßer Hintern. Jetzt ging ich in der stehenden Hitze bis zur Ecke und kehrte bei dem Straßenhändler um, der gebrannte Mandeln feilbot. Die Kastanien vom vorigen Jahr waren schon aufgebraucht. Nachdem ich mir die Pfeifen angeschaut hatte, betrat ich den Tabaksladen und kaufte ein Päckchen Kool, obwohl ich gewöhnlich keine Mentholzigaretten rauche. Trotz des Straßenlärms klang vom Kinolautsprecher das Stöhnen und Röcheln wie aus einem Schlachthof zu mir herüber. Der Mandelverkäufer schob seinen Karren in den Schatten des überdachten Eingangs zum ›Vesuvio‹. Vielleicht war das einst ein vornehmes Hotel gewesen, doch die Nachbarschaft zeugte von seinem langsamen Verfall. Das Foyer stand fast leer. Der Fahrstuhl war kühler als mein Zimmer. In solcher Glut die Koffer zu packen, bedeutete einen Schweißausbruch, und dann würden die Elektroden nicht mehr halten. Ich verlegte das Packen in das Badezimmer, das in diesem alten Hotel fast so groß war wie das Zimmer selbst. Auch dort war es stickig, aber es gab einen Marmorfußboden. Ich duschte mich in der mit Löwenfüßen verzierten Badewanne, trocknete mich absichtlich nicht ab und begann, die Sachen in den Koffer zu legen, barfuß, um wenigstens ein bisschen Kühle zu genießen. Im Necessaire stieß ich auf ein hartes Bündel. Der Revolver. Ich hatte ihn ganz vergessen. Am liebsten hätte ich ihn unter die Wanne geworfen. Ich legte ihn auf den Boden des größeren Koffers unter die Hemden, wischte mir sorgfältig die Brust und trat vor den Spiegel, um die Elektroden anzulegen. Früher hatte ich an diesen Stellen Male am Körper, doch sie waren verschwunden. Ich ertastete den Herzspitzenstoß zwischen den Rippen für die erste Elektrode. Die zweite, in der Schlüsselbeingrube, wollte nicht halten. Ich trocknete mich noch einmal ab und drückte das Pflaster von beiden Seiten an, damit die Elektrode nicht über dem Schlüsselbein hervortrat. Ich hatte keine Übung, weil ich das früher nicht selbst gemacht hatte. Nun das Hemd, die Hosen, die Hosenträger. Ich trug sie seit der Rückkehr auf die Erde. Das ist bequem. Man greift sich nicht ständig an die Hosen, weil man den Eindruck hat, sie fielen herunter. Im Weltraum hat der Anzug kein Gewicht, und wenn man zurückkommt, entsteht dieser ›Hosenreflex‹, deshalb die Hosenträger.

Ich war fertig. Den Plan hatte ich vollständig im Kopf. Drei Viertelstunden für das Mittagessen, das Bezahlen der Rechnung und Abholen der Schlüssel, wegen des Hauptverkehrs, eine halbe Stunde zur Autostrada, zehn Minuten Reserve. Ich sah in die Schränke, stellte die Koffer an die Tür, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, überprüfte im Spiegel, ob man die Elektroden auch nicht sah, und fuhr hinunter. Das Restaurant war bereits überfüllt. Der schweißtriefende Kellner stellte einen Chianti vor mich hin, ich bat um Pasta mit Basilikum und Kaffee für die Thermosflasche. Ich war schon mit dem Essen fertig und schaute nach der Uhr, als der Lautsprecher murmelte: »Herr Adams, bitte ans Telefon!« Ich sah, wie sich die Härchen auf meinem Handrücken aufrichteten. Gehen oder nicht gehen? An einem Tisch neben dem Fenster erhob sich ein Dickwanst mit pfauenbuntem Hemd und ging zur Kabine. Ein anderer Adams. Es gibt viele Adams. Ich merkte bereits, nichts passierte, aber ich war böse auf mich. Meine Ruhe war oberflächlich. Ich wischte mir das Speiseöl vom Mund, nahm eine bittere grüne Pille, trank den Rest Wein aus und ging zur Rezeption. Das Hotel hielt sich noch etwas zugute auf Plüsch, Samt und Stuck, doch aus den Seitenflügeln roch es nach Küchendunst. Als käme einem Aristokraten der Sauerkohl hoch. Das war der ganze Abschied. Hinter dem Portier, der meine Koffer auf einer Karre rollte, ging ich hinaus in die harte Hitze. Der Mietwagen von Hertz stand mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig. Ein Hornet, schwarz wie ein Leichenauto. Ich erlaubte dem Portier nicht, das Gepäck in den Kofferraum zu legen, weil dort der Sender sein konnte, schickte ihn mit einem Geldschein fort und stieg in den Wagen wie in einen Ofen. Augenblicklich in Schweiß gebadet, griff ich in die Tasche nach den Handschuhen. Nicht nötig, das Steuer war mit Leder überzogen. Der Kofferraum war leer – wo ist der Verstärker? Auf dem Fußboden vor dem Beifahrersitz, bedeckt mit dem Umschlag eines Magazins, von dem mich eine nackte Blondine mit herausgestreckter, speichelglänzender Zunge kalt anblickte. Eigentlich gab ich keinen Ton von mir, aber irgendetwas seufzte leise in mir, als ich mich in den laufenden Verkehr einfädelte. Eine einzige Kolonne von Verkehrsampel zu Verkehrsampel. Ich war zwar ausgeruht und locker, aber auch ein bisschen verdrossen, ein bisschen albern lachlustig, vielleicht weil ich einen großen Teller Makkaroni gegessen hatte, die ich nicht mag. Bis jetzt hatte die bedrohliche Lage nur dazu geführt, dass ich zunahm. Hinter der nächsten Kreuzung schaltete ich das Gebläse an. Kochende Abgase wehten herein. Ich schaltete das Gebläse wieder aus. Die Autos drängten sich auf italienische Weise. Umleitung. In den Spiegeln nur Kühler und Dächer. La potente benzina italiana roch nach Kohlenoxyd. Ich hielt hinter einem Autobus, in seinem stinkenden Auspuff. Kinder in gleichartigen grünen Mützen starrten mich durch die Rückscheibe an. Im Magen spürte ich einen Kloß, im Kopf Glut, am Herzen die Elektrode, die durch das Hemd hindurch bei jeder Lenkraddrehung hinter den Hosenträger hakte. Ich riss ein Päckchen Kleenex auf und legte die Taschentücher auf den Mitteltunnel, denn es kribbelte mir in der Nase wie vor einem Gewitter. Ich nieste einmal und noch einmal und war so mit Niesen beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie Neapel zurückblieb und im Küstenblau verschwand. Ich rollte bereits über die Strada del Sol. Für die Hauptverkehrszeit war sie relativ frei. Merkwürdig, als hätte ich überhaupt kein Plimasin eingenommen. Es kitzelte in den Augen, die Nase lief, dafür war der Mund trocken. Ein Kaffee täte gut, obwohl ich im Hotel zwei Cappuccini getrunken hatte, aber Kaffeezeit ist erst bei Maddalena. Wegen irgendeines Streiks hatte es am Kiosk wieder keinen ›Herald‹ gegeben. Zwischen dampfenden kleinen Fiats und einem Mercedes schaltete ich das Radio ein. Nachrichten. Ich verstand sie nur ungenau. Demonstranten hatten etwas angezündet. Der Sprecher einer Privatpolizei hatte eine Erklärung abgegeben. Die feministische Untergrundbewegung kündigte eine neue Aktion an. Mit tiefem Alt las die Sprecherin die Deklaration der Terroristinnen, die Verdammung des Papstes, eins nach dem anderen, dann Pressestimmen. Weiblicher Untergrund. Man wundert sich über gar nichts mehr. Man hat uns die Fähigkeit genommen, uns zu wundern. Wogegen kämpfen sie eigentlich, gegen die Tyrannei der Männer? Ich fühlte mich nicht als Tyrann. Niemand fühlt sich so. Wehe den Playboys! Was werden sie mit ihnen tun? Werden sie auch Kleriker entführen? Ich schaltete das Radio aus, wie man einen Müllschlucker zuklappt.

In Neapel sein und den Vesuv nicht sehen – ich habe ihn nicht gesehen. Mein Verhältnis zu Vulkanen ist voller Freundlichkeit. Mein Vater hat mir von ihnen vor dem Einschlafen erzählt, das ist fast ein halbes Jahrhundert her. Bald werde ich ein alter Mann sein, dachte ich, und das überraschte mich, als hätte ich gesagt, ich würde in Kürze eine Kuh sein. Vulkane, das war etwas Solides, Vertrauenerweckendes. Die Erde platzt, die Lava fließt, die Häuser stürzen ein. Alles ist klar und wundervoll, wenn man fünf Jahre alt ist. Ich hatte erwartet, durch den Krater könne man in die Mitte der Erde hinuntersteigen. Mein Vater bestritt das. Schade, dass er nicht länger gelebt hat, er hätte sich über mich gefreut. Man denkt nicht an die entsetzliche Stille dieser unendlichen Räume, wenn man den herrlichen Laut beim Einrasten der Kupplung hört, die den Träger an der Raumstation festmacht. Allerdings, meine Karriere dauerte nicht lange. Ich habe mich des Mars nicht würdig erwiesen. Für meinen Vater wäre das wohl schlimmer gewesen, als es für mich war. Nun ja, hätte er nach meinem ersten Flug sterben sollen? Zu wünschen, dass er die Augen schließt, während er an mich glaubt, ist das zynisch oder nur dumm? Übrigens, würden Sie so freundlich sein, ein wenig auf den Verkehr zu achten? Beim Einscheren in die Lücke hinter einem psychedelischen Lancia blickte ich in den Rückspiegel. Von einem Hertz’schen Chrysler keine Spur. Weit hinten bei Marianelli blitzte kurz etwas auf, aber ich war nicht sicher, ob sie das waren, der Wagen verschwand sofort wieder. Die banale, gar nicht lange Strecke, voll von einer geschäftigen Menge auf Rädern, verlieh mir allein das Privileg eines lauernden Geheimnisses, das sämtliche Polizeien der Alten und Neuen Welt nicht begriffen, ich allein hatte Luftmatratze, Surfbrett, Federballschläger nicht deshalb im Kofferraum, um mich zu erholen, sondern um einen Schlag aus dem Ungewissen auf mich zu ziehen. So versuchte ich, mich anzuregen, doch der Zauber dieser Eskapade war schon längst verweht, ich dachte nicht mehr über das Rätsel der todbringenden Verschwörung nach, sondern darüber, ob ich nicht ein zweites Plimasin nehmen sollte, weil mir die Nase ständig lief. Egal, wo der Chrysler ist. Der Sender hat eine begrenzte Reichweite. Und meine Großmutter hatte auf dem Dachboden Schlüpfer in der Farbe dieses Lancia hängen. Um sechs Uhr zwanzig fing ich an zu rasen. Eine Zeit lang hing ich hinter einem Volkswagen, er hatte hinten große Schafsaugen aufgemalt, die mich mit zärtlichem Vorwurf anschauten. Das Auto als Persönlichkeitsverstärker. Dann gelangte ich in die Lücke hinter einem Landsmann aus Arizona mit dem Aufkleber HAVE A NICE DAY auf der Stoßstange. Hinter und vor mir türmten sich auf den Dächern Motorboote, Wasserskier, Säcke, Angelzeug, Schwimmbretter, himbeerrote und orangegelbe Bündel, Europa presste seine Gedärme heraus, um a nice day zu haben. Sechs Uhr fünfundzwanzig. Ich hob wie schon hundert Mal die rechte, dann die linke Hand und musterte meine ausgestreckten Finger. Sie zitterten nicht. Das sollte das erste Anzeichen sein. Aber war das sicher? Niemand weiß es ja. Und wenn ich nun für eine Minute den Atem anhielte – wie sehr würde Randy erschrecken. Was für ein idiotischer Einfall!

Ein Viadukt. Der Fahrtwind rappelte an den Betonpfeilern. Ich warf einen verstohlenen Blick in die Landschaft. Die grüne Leere bis zu den Bergen am Horizont wirkte wundervoll. Ein Ferrari, flach wie eine Wanze, vertrieb mich von der Überholspur. Wieder nieste ich in Salven, als ob ich fluchte. Fliegenreste punktierten meine Windschutzscheibe, die Hosenbeine klebten mir an den Waden, die Wischer reflektierten mir Sonnenstrahlen in die Augen. Ich putzte mir die Nase, das Kleenex-Päckchen fiel zwischen die Sitze und raschelte im Durchzug. Wer beschreibt das Stillleben auf der Erdumlaufbahn? Wenn der Mensch meint, er habe nun alles angebunden, magnetisiert, befestigt, mit Tesafilm festgeklebt, beginnt ein wahrer Geistertanz, das Ausschwärmen der Filzstifte und Brillen, lockere Kabelenden winden sich wie Eidechsen, und das Schlimmste sind die Krümel. Die Jagd mit dem Staubsauger auf Zwieback … Und die Haarschuppen? Das wird verschwiegen, diese Kulissen der kosmischen Schritte der Menschheit. Nur Kinder fragen als Erstes, wie man auf dem Mond pinkelt …

Die Berge wuchsen, braun, ruhig, schwer und gewissermaßen vertraut. Eine der besseren Gegenden der Erde. Die Straße änderte ihre Richtung, die Sonne schob sich in Quadraten durch das Wageninnere, und auch das ließ mich an den stummen, majestätischen Umlauf der Lichter in der Kabine denken. Der Tag inmitten der Nacht, eines zusammen mit dem anderen, wie vor der Erschaffung der Welt, und der Traum vom Fliegen, der Wirklichkeit wird, und die Verwirrung, die Verblüffung des Körpers, dass es so ist, wie es nicht sein kann. Ich habe Vorträge über die See und Luftkrankheit gehört, mir aber mein Teil dabei gedacht. Das waren keine gewöhnlichen Übelkeiten, das war eine Panik des Gedärms und der Milz, die gewöhnlich nicht spürbaren Eingeweide gerieten durcheinander und meldeten Protest an. Sie taten mir geradezu leid. Während wir uns am Kosmos erfreuten, wurde unseren Körpern von ihm unwohl. Sie konnten ihn nicht vertragen. Wir schleppten sie dorthin, und sie bäumten sich auf. Gewiss, Training schafft eine Menge. Man kann ja auch einem Bären das Radfahren beibringen, aber ist der Bär dazu bestimmt? Es ist doch nur zum Lachen. Wir gaben nicht auf, der Blutandrang zum Kopf und das Erstarren der Därme vergingen, aber es war nur ein Vertagen der Abrechnung, denn schließlich mussten wir zurückkehren. Die Erde begrüßte uns mit einer mörderischen Presse, das Strecken der Knie, des Rückens wurde zu einer verzweifelten Anstrengung, der Kopf rollte nach allen Seiten wie eine Bleikugel. Ich wusste, dass es so kommen würde, ich hatte gesehen, wie athletische Männer sich schämten, weil sie keinen Schritt gehen konnten, ich hatte sie selbst in Wannen gelegt, das Wasser befreite sie vorübergehend vom Körpergewicht, aber weiß der Teufel, warum ich geglaubt hatte, mir würde es nicht so ergehen.

Der Psychologe mit dem Bart sagte, so ergehe es jedem. Und später, als man sich wieder an die Schwerkraft gewöhnt hatte, kehrte die Gewichtslosigkeit in der Umlaufbahn als Sehnsucht im Traum wieder. Wir eignen uns nicht für den Kosmos, und gerade deshalb verzichten wir nicht auf ihn. Ein rotes Aufleuchten floss mir ins Bein, ohne das Bewusstsein zu berühren. Eine Sekunde verging, ehe ich begriff, dass ich bremste. Die Reifen knirschten auf verstreutem Reis, die Körner wurden immer größer wie Hagel. Nein, Glas. Die Kolonne bremste ab. Auf der rechten Seite Warnkegel. Ich versuchte, einen Blick aus dem Autogedränge heraus zu erhaschen. Wo denn? Auf dem Feld ließ sich langsam ein gelber Hubschrauber herab, unter seinem Leib ballte sich Staub, wie Mehl. Zwei ineinander verkeilte Kästen mit aufgerissenen Motorhauben. Wie weit von der Straße? Und die Menschen? Wieder knirschten die Reifen auf Glas, wir fuhren im Schritttempo an Polizisten vorbei, die mit den Händen winkten: »Schneller! Schneller!« Polizeihelme, Krankenwagen, Bahren, die Räder eines umgestürzten Autos drehten sich, der Blinker funktionierte noch. Rauch auf der Fahrbahn. Der Asphalt? Nein, vermutlich Benzin. Die Kolonne kehrte auf die rechte Fahrbahn zurück, wegen der Schnelligkeit konnte man leichter atmen. Der Voraussage nach erwartete man vierzig Tote. Ein Brückenrestaurant tauchte auf, nebenan sprühten aus dem Dämmer der Hallen einer großen Area di Servicio wütende Schweißfunken. Ich blickte auf den Kilometerzähler. Bald kommt Cassino. In der ersten Kurve hörte plötzlich das Kitzeln in der Nase auf, als wäre das Plimasin erst jetzt durch die Makkaroni gedrungen.

Die zweite Kurve. Ich fuhr zusammen, denn ich spürte jemandes Blick, der auf unmögliche Weise von unten her kam, als läge dieser Jemand auf dem Rücken und schaute unter dem Sitz hervor mich beobachtend an. Die Sonne war auf den Magazinumschlag mit der Blondine gefallen, die ihre Zunge herausstreckte. Ohne hinzusehen, beugte ich mich vor und drehte das glatte Heft auf die andere Seite. Sie haben ein zu reiches Innenleben für einen Astronauten, hatte der Psychologe nach dem Rorschachtest zu mir gesagt. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch. Aber vielleicht verwickelte er mich. Er meinte, es gäbe zwei Sorten Angst, eine hohe, von der Fantasie her, und eine tiefe, direkt aus den Därmen. Vielleicht wollte er mich auf diese Weise trösten und mir beibringen, ich sei zu gut?

Der Himmel presste Wolken aus sich heraus, die zu einer weißen Fläche verliefen. Die Tankstelle näherte sich. Ich bremste. Dabei überholte mich ein jugendlicher Alter, sein langes graues Haar flatterte im Wind, er hetzte voran mit einer heiseren Fanfare, ein greiser Wotan. Ich bog zu den Zapfsäulen ab. Während des Tankens trank ich die ganze Thermosflasche mit dem braun gewordenen Zucker am Boden leer. Niemand wischte mir die fett- und blutbespritzte Windschutzscheibe. Ich fuhr weiter bis zu einer Baustelle, stieg aus und vertrat mir die Beine. Hier stand ein großer, verglaster Verkaufspavillon. Adams hatte dort ein Kartenspiel gekauft, die Nachahmung italienischer Barockkarten aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Die Tankstelle befand sich im Ausbau, rund um die Grube für den neuen Geschäftsraum lag weißer, noch nicht ausgewalzter Kies. Glasscheiben glitten vor mir zur Seite. Ich trat ein. Niemand war da. Siesta? Die Zeit ist schon vorbei. Ich ging zwischen Stapeln von bunten Schachteln und künstlichen Früchten hindurch. Die weiße Rolltreppe zum ersten Stock setzte sich in Bewegung, als ich mich näherte, und blieb stehen, als ich sie umging. Ich sah mich in einem Monitor neben den Vitrinen, das schwarzweiße Bild bebte in den Sonnenreflexen, ich sah mich im Profil. In Wirklichkeit war ich wohl nicht dermaßen blass. Kein einziger Verkäufer. Auf den Tischen türmte sich der Andenkenschund, Stöße von Postkarten, vermutlich von einer Sorte. Ich suchte in der Tasche nach Kleingeld und blickte mich nach einem Verkäufer um, als draußen der Kies unter Autorädern knirschte. Aus einem weißen Opel, der mit Schwung anhielt, stieg ein Mädchen in Jeans, umging die Grube und betrat den Pavillon. Ich stand mit dem Rücken zu ihr und sah sie im Monitor. Ohne sich zu rühren, verharrte sie ein Dutzend Schritte von mir entfernt. Ich nahm die Nachahmung eines alten Holzschnittes vom Tisch, ein rauchender Vesuv über dem Golf, es gab dort auch Ansichtskarten mit Reproduktionen pompejanischer Fresken, wie sie bei unseren Vätern Anstoß erregten. Das Mädchen ging ein paar Schritte auf mich zu, unsicher, ob ich ein Verkäufer sei. Die Rolltreppe lief an. Sie bewegte sich leise, das Mädchen aber blieb stehen, eine schmale Figur in Hosen. Ich machte kehrt, um hinauszugehen. Daran war nichts Besonderes. Sie hatte ein kindliches, unausgeprägtes Gesicht, einen kleinen Mund, und nur dass sie mit runden Augen durch mich hindurchsah und dabei mit dem Finger am Kragen ihrer weißen Bluse kratzte, bewirkte, dass ich im Vorbeigehen den Schritt verlangsamte; da fiel sie lautlos mit unbewegtem Gesicht nach hinten. Ich war so unvorbereitet, dass sie wie ein Klotz zu Boden stürzte, bevor ich zuspringen konnte. Es gelang mir nicht, sie aufzufangen, sondern nur ihren Fall zu mildern und sie bei den Armen zu fassen, als legte ich sie mit ihrem Einverständnis auf den Rücken. Da lag sie wie eine Puppe. Wer von außen hereinsah, hätte meinen können, ich kniete vor einer umgefallenen Schaufensterpuppe, denn zu beiden Seiten der Fenster standen Puppen in neapolitanischer Tracht, und ich kniete mitten dazwischen, über die eine gebeugt. Ich fasste nach ihrem Handgelenk. Der Puls ging schwach, aber regelmäßig. Sie lag mit leicht geöffnetem Mund, man sah das Weiße in ihrem Auge, als schliefe sie mit halb geschlossenen Lidern. Hundert Meter weiter fuhren die Autos bei der Tankstelle vor, drehten dann sofort ab und kehrten in weißen Staubwolken zurück zum dröhnenden Strom der Strada del Sol. Nur zwei Wagen standen vor dem Pavillon, meiner und der des Mädchens. Langsam richtete ich mich auf. Noch einmal musterte ich die Liegende. Der Unterarm mit dem schmalen Handrücken, den ich losgelassen hatte, schwang langsam zur Seite. Als er den Oberarm nach sich zog und die hellen Härchen der entblößten Achselhöhle enthüllte, bemerkte ich dicht unter ihnen zwei Zeichen, kleine Kratzer oder winzige Tätowierungen. Ich hatte einmal Ähnliches bei gefangenen SS-Leuten gesehen, ihre Blutgruppe. Hier aber war es wohl ein gewöhnliches Muttermal. Meine Beine bebten in dem Wunsch, erneut hinzuknien, doch ich zügelte diesen Reflex und ging zur Tür. Wie um zu unterstreichen, dass die Szene beendet sei, blieb die lautlos gleitende Rolltreppe stehen. An der Schwelle blickte ich mich um. Ein Haufen bunter Luftballons verdeckte die Liegende, aber ich sah sie im fernen Monitor. Das Bild zitterte. Mir schien, als zitterte sie. Ich wartete zwei oder drei Sekunden. Nichts. Die Glastür ließ mich diensteifrig durch. Ich sprang über die Grube, stieg in den Hornet und setzte zurück, um das Kennzeichen des Opels zu sehen. Es war ein deutsches. Aus einem bunten Durcheinander von Dingen ragte ein Golfstock. Ich hatte nun an etwas anderes zu denken, während ich mich in den Verkehr einfädelte. Es sah nach einem stillen epileptischen Anfall aus, un petit mal. Es gibt solche, ganz ohne Krämpfe. Sie konnte die Vorzeichen bemerkt und deshalb angehalten haben, und als sie den Pavillon betrat, verlor sie das Bewusstsein. Daher der nichts sehende Blick und die insektenhafte Kratzbewegung am Kragen. Aber es konnte auch eine Vortäuschung gewesen sein. Ich hatte ihren Opel unterwegs nicht bemerkt. Allerdings, allzu aufmerksam war ich nicht gewesen, und derartige Autos – weiß mit kantigen Linien – hatte ich viele getroffen. Wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtete ich jede Einzelheit, die mir im Gedächtnis haftengeblieben war. In dem Pavillon musste es mindestens zwei, vielleicht auch drei Verkäufer geben. Und die waren alle gleichzeitig zu einem Drink gegangen? Seltsam. Obwohl – heute ist auch das möglich. Sie waren ins Café gegangen, weil sie wussten, dass zu dieser Tageszeit niemand den Pavillon aufsucht, und das Mädchen war vorgefahren, weil sie es für besser hielt, wenn es dort über sie kam und nicht in der Tankstelle. Sie wollte den Burschen in den Overalls von Supercortemaggiore keine Vorstellung geben. Wie natürlich sich das alles fügte. Nicht wahr? Oder etwa allzu natürlich? Sie war allein. Wer fährt in solcher Lage allein? Na und? Wäre sie wieder aufgewacht, hätte ich sie nicht zu ihrem Wagen geleitet. Ich hätte versucht, ihr das Weiterfahren auszureden. Also? Ich hätte ihr geraten, den Opel stehenzulassen und bei mir einzusteigen. So hätte jeder gehandelt. Und ich hätte es bestimmt getan, wäre ich als Tourist hier gewesen. Mir wurde heiß. Ich hätte doch dableiben und mich mit der Sache abgeben müssen, falls es da eine Sache gab. Dazu war ich doch da! Zum Teufel! Ich redete mir immer eifriger ein, sie hätte wirklich das Bewusstsein verloren, und ich war immer weniger davon überzeugt. Nicht nur davon. Man lässt doch einen Verkaufspavillon nicht so stehen, das ist doch beinahe ein Kaufhaus. Wenigstens die Kassiererin hätte an ihrem Platz sein müssen. Aber an der Kasse war niemand. Man konnte jedoch das ganze Innere vom Café über die Grube hinweg überblicken. Wer aber konnte wissen, dass ich hier halten würde? Niemand. So oder so, das zielte nicht auf mich ab. Sollte ich ein anonymes Opfer werden? Wessen Opfer eigentlich? Wie denn, die Verkäufer, die Kassiererin, das Mädchen – alle unter einer Decke? Das ist mir zu fantastisch. Also ein gewöhnlicher Zufall. Und so immer wieder von vorn. Adams war heil nach Rom gekommen. Und allein. Aber die anderen? Plötzlich erinnerte ich mich an den Golfstock im Opel. Großer Gott, solche Stöcke waren doch …

Ich beschloss, mich zusammenzunehmen, auch wenn ich schon völlig verrückt geworden war. Wie ein schlechter, aber hartnäckiger Schauspieler kehrte ich zurück zu der geschmissenen Rolle. An der nächsten Tankstelle bat ich, ohne auszusteigen, um einen Schlauch. Ein gut aussehender Brünetter im Overall musterte meine Reifen: »Sie haben schlauchlose.« Aber ich brauchte einen Schlauch. Ich zahlte mit dem Blick zur Autobahn, um den Chrysler nicht zu übersehen, doch er kam nicht. Neun Meilen weiter tauschte ich ein gutes Rad gegen das Reserverad aus. Ich tat es, weil Adams das getan hatte. Als ich mich am Wagenheber hinhockte, schlug mir die Hitze tüchtig entgegen. Der Wagenheber war nicht geschmiert und quietschte, unsichtbare Düsenjäger schlitzten über meinem Kopf den Himmel auf, und ihr Donnergetöse erinnerte mich an die Schiffsartillerie, die den Brückenkopf in der Normandie deckte. Woher kommt diese Erinnerung? Ich war auch später noch in Europa gewesen, aber als offizielles Ausstellungsstück, zweiter Klasse zwar, weil zur Reserve gehörig oder beinahe fiktiv, ein Mitglied des Marsprojekts. Europa hatte mir seine Schokoladenseite präsentiert, erst jetzt lernte ich es, wenn nicht besser, so doch ohne Gala kennen, die nach Urin stinkenden Gassen Neapels, ihre grässlichen Prostituierten, das Hotel, das sich noch mit Sternen aufspielte, vermorschte bereits, die Hökerinnen krochen heran, das Pornokino wäre früher neben einer solchen Stätte undenkbar gewesen. Doch vielleicht war es anders, vielleicht hatten die recht, die sagten, Europa zerfalle vom Kopf, von oben her? Das Blech und das Werkzeug waren glühend heiß. Ich reinigte mir die Hände mit Krem, wischte sie mit einem Kleenextuch ab und stieg ein. Es dauerte eine Weile, bis ich die an der Tankstelle gekaufte Schweppesflasche aufgemacht hatte, weil mir das Taschenmesser mit dem Öffner abhanden gekommen war, endlich schluckte ich die bittere Flüssigkeit und dachte dabei an Randy, der irgendwo auf der Strecke hörte, wie ich trank. Die Kopfstütze hatte sich in der Sonne erhitzt und glühte. Meine Haut im Genick war verbrannt. Auf dem Asphalt am Horizont schwamm ein metallisches Gleißen, als gäbe es dort Wasser. Ein Donner? Ja, es donnerte. Wahrscheinlich hatte es schon früher gedonnert, nachdem die Düsenjäger fortgeflogen waren, doch die Autobahn hatte alle schwächeren Laute mit ihrem Grollen übertönt. Jetzt übertönte der Donner ihr Dröhnen und brach in den Himmel mit den goldgelben Wolken ein; über den Bergen verwandelte sich das Gold bereits in ein stechendes Gelb.

Tafeln kündigten Frosinone an. Der Schweiß lief mir den Rücken hinunter, als striche mir jemand mit einer Feder zwischen den Schulterblättern entlang, und das Gewitter, theatralisch wie die Italiener, drohte, statt sich zu entladen, nur mit dumpfem Rollen ohne einen Tropfen Regen vorüberzuziehen. Doch wehten graue Mähnen wie Herbstrauch durch die Landschaft, und einmal, als ich in eine langgezogene Kurve einbog, sah ich sogar eine Stelle, wo ein schräg herabhängender Wirbel eine Wolke zur Autobahn schleppte. Erleichtert begrüßte ich das Zerspritzen der ersten dicken Tropfen auf der Windschutzscheibe. Plötzlich goss es wie aus Zubern.

Die Scheibe war ein wahres Schlachtfeld, ich schaltete also die Wischer nicht sofort ein; dann kratzten sie den Insektenkot ab, ich schaltete sie aus und fuhr auf den Seitenstreifen. Eine geschlagene Stunde sollte ich halten. Der Regen kam in Wellen, er trommelte auf das Dach, die vorbeifahrenden Autos zogen trübe Streifen funkelnder Wassertropfen hinter sich her und wirbelten den Regen hoch, ich aber atmete tief. Durch das geöffnete Fenster goss es mir in Strömen auf das Knie. Ich zündete mir eine Zigarette an und hielt sie in der hohlen Hand, damit sie nicht nass wurde; sie schmeckte mir nicht, Mentol. Ein Chrysler in Metallic fuhr vorbei, doch lief so viel Wasser an der Seite herab, dass ich nicht sicher war, ob es der Richtige sei. Es wurde immer dunkler. Blitze, Krachen wie reißendes Blech, aus Langeweile zählte ich die Sekunden zwischen Aufleuchten und Knall, die Autobahn grollte und dröhnte, und nichts war imstande, sie lahmzulegen. Der Zeiger überschritt die Sieben – es war Zeit. Mit einem Seufzer stieg ich aus. Die kalte Dusche war zunächst nicht angenehm, doch bald fühlte ich mich frischer. Ich manipulierte an den Scheibenwischern, als müsste ich sie reparieren, und beobachtete dabei die Fahrbahn, aber niemand kümmerte sich um mich, auch von der Polizei war nichts zu sehen. Nass bis auf die Haut, stieg ich ein und fuhr los. Das Gewitter ließ nach, doch wurde es immer dunkler, hinter Frosinone tröpfelte es nicht einmal, der Asphalt war getrocknet, von den Pfützen an der Seite stieg ein niedriger, weißer Dampf auf, in den die Scheinwerfer eintauchten, bis die Sonne hinter den Wolken hervorkam, als wollte sich die Landschaft vor der Nacht noch einen Augenblick lang in neuem Licht zeigen. Unter einem unirdischen rosa Glanz bog ich ab auf den Parkplatz von Pavesis Brückenrestaurant, löste das an meinem Körper klebende Hemd, damit man die Elektroden nicht sah, und ging nach oben. Den Chrysler hatte ich auf dem Platz nicht bemerkt. Oben plapperte die Menge in zehn Sprachen und aß, ohne auf die Autos zu achten, die unten wie die Kegelkugeln vorbeisausten. In mir war, ich weiß nicht wann, eine Veränderung vorgegangen, ich hatte mich beruhigt, eigentlich war mir alles gleichgültig geworden, an das Mädchen dachte ich, als wäre das vor Jahren passiert, ich trank zwei Tassen Kaffee, einen Schweppes mit Zitrone, vielleicht hätte ich in diesem Anfall von Faulheit noch länger dort gesessen, doch fiel mir ein, dass das Gebäude aus Eisenbeton war, also keine Funkwellen durchließ, sie konnten deshalb nicht erfahren, wie es meinem Herzen ging. Zwischen Houston und dem Mond gibt es derartige Probleme nicht. Beim Hinausgehen wusch ich mir in der Toilette Hände und Gesicht. Vor dem Spiegel strich ich mir das Haar glatt, schaute mich selbst nicht eben freundlich an und machte mich auf den Weg.

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