Israel

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

WORÜBER LACHEN JUDEN, WENN SIE LACHEN?


EIN ALTER Jude ist mit einer jungen, attraktiven Frau verheiratet, die ihn ständig betrügt. Shlomo, ein Freund des Betrogenen, will diesen darüber aufklären, worauf der Gehörnte sagt: „Es ist doch besser, mit 20 Prozent an einer guten Sache beteiligt zu sein, als mit 100 an einer scheußlichen.“2

Im Gegensatz zu den meisten Gesellschaften, deren Witz häufig darauf abzielt, andere zu verhöhnen, lachen Juden oft – und oft auch über sich selbst. Der Humor ist geistreich, hintergründig und voller Lebensweisheit. Der jüdische Witz diene weniger der Unterhaltung, als dass er eine Ventilfunktion ausübe, erklärt die Soziologin Salcia Landmann, der wir eine reiche Sammlung von Judenwitzen zu verdanken haben. Der jüdische Witz sei ein Kampf gegen die feindliche Umwelt, gegen die übermächtige eigene Tradition, ein Kampf gegen die schweren Bürden des Alltags und für mehr Freiheit. Thematisch kreisen die Witze um menschliche Schwächen, vermeintliche Eigenschaften wie Geiz und Geschäftssinn, das Ehe- und Sexualleben und vor allem die Religion. Auch wenn Juden die religiöse Praxis oft sehr ernst nehmen, so ist doch erlaubt, was in anderen Glaubensgemeinschaften streng verpönt ist: sich über Religionsgesetze, Inhalte des Glaubens und auch über Gläubige lustig zu machen.

Geht ein Jude in eine Fleischerei und sieht in der Vitrine eine saftige Schweinsstelze liegen. „Geb er mir ein Kilo von dem Fisch“, sagt er zum Fleischhacker, der darauf antwortet: „Das ist kein Fisch, sondern eine Schweinsstelze.“ Darauf der Jude: „Hab ich ihn gefragt, wie der Fisch heißt? Geben soll er mir ein Kilo.“

Warum sind Juden beschnitten? Weil Frauen lieber zu reduzierter Ware greifen.

Eine Frau läuft zum Rabbi, weil ihr Kind Durchfall hat. Dieser empfiehlt: „Sprich Tehillim!“ (Bete die Psalmen!) Die Jüdin folgt dem Rat, das Kind wird gesund. Wenig später leidet es an Verstopfung. Wieder fragt die verzweifelte Mutter den Rabbi um Rat, der erneut empfiehlt: „Sprich Tehillim!“ „Aber Rabbi“, ruft die Frau entsetzt, „Tehillim stopfen doch!“

Die Tatsache, dass es bei vielen Religionsgesetzen auch eine raffinierte Form der Umgehung gibt, illustriert folgende Geschichte von zwei Rabbinern. Zu deren Verständnis muss man allerdings wissen, dass der Schabbat eintritt, wenn die ersten drei Sterne am Himmel erkennbar sind. Dann ist es nicht mehr erlaubt, weiter als bis zur Synagoge zu gehen.

Zwei Rabbinerschüler unterhalten sich, wessen Rabbi der bedeutendere sei. Moischele: „Stell dir vor, mein Rabbi und ich gehen an einem sonnigen Tag spazieren und erläutern die Tora. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel, es fängt an zu regnen. Was macht mein Rabbi? Er breitet die Hände aus, er segnet das Land und links ist Regen und rechts ist Regen und wir gehen trockenen Fußes in der Mitte hindurch.“ Darauf Shlomo: „Das ist gar nichts. Mein Rabbi und ich gehen an einem Freitag nach dem Mittagessen spazieren. Auch wir erläutern die Tora: Plötzlich wird es finster, die ersten Gestirne sind am Himmel erkennbar, es ist Schabbat. Was macht mein Rabbi? Er breitet seine Hände aus und segnet das Land. Und links war Schabbat und rechts war Schabbat und wir gehen in der Mitte durch.“

Moses hat gerade am Berg Sinai die Zehn Gebote Gottes erhalten und wendet sich nun an sein Volk: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für euch. Die gute ist, dass ich Gott auf zehn Gebote runterhandeln konnte. Die schlechte: Das sechste (Du sollst nicht ehebrechen) ist immer noch drin.“

Juden betrachten auch andere Religionen kritisch:

Sitzen ein Rabbi und ein katholischer Priester bei einem Festessen zusammen. Beginnt der Pfarrer zu stänkern: „Wann werden Sie endlich Schweinefleisch essen, Rabbi?“ Dieser antwortet: „Bei Ihrer Hochzeit, Hochwürden.“

Eine eigene Kategorie stellen Witze über jene Juden dar, die zum Christentum übergetreten sind, um so ihre Herkunft zu verbergen. Heinrich Heine sprach vom Judentum als einer „angeborenen Krankheit“, der man durch die Taufe entfliehen könne, um das „Eintrittsbillett in die europäische Zivilisation“ zu lösen.

Shlomo steht vor der Taufe und weiß nicht so recht, was er anziehen soll. Er fragt einen christlichen Freund um Rat. Der antwortet: „Keine Ahnung. WIR tragen Windeln.“

WARUM IST DER PLATZ DES FELSENDOMS AUCH JUDEN HEILIG?



Die Antwort finden Sie auf Seite 101.

Im Krisenjahr 1929 gehen zwei Juden über die 5th Avenue in New York, wo sie ein Transparent über die Straße gespannt sehen: „Jeder Jude, der sich taufen lässt, bekommt 50 Dollar.“ Shlomo und Moischele überlegen nicht lange und beschließen, dass sich einer taufen lässt und dann mit dem anderen die 50 Dollar teilt. Nach 20 Minuten kommt Moischele aus der Kirche, die Pejes kleben vom Taufwasser noch an seinen Wangen, als Shlomo seinen Anteil einfordert. Moischele antwortet gereizt: „Das ist es, was wir Christen an euch Juden nicht mögen: das ewige Schnorren.“

Das Thema Taufe macht auch vor dem lieben Gott nicht halt, vor dessen Richterthron ein kürzlich verstorbener, völlig zerknirschter Rabbi klagt:

„Stellen Sie sich vor, mein Sohn hat sich taufen lassen.“ Darauf der liebe Gott: „Na und?“ „Meiner auch.“ Darauf der Rabbi: „Was haben Sie dann gemacht?“ Gott: „Ein Neues Testament.“

Eine Kategorie von Witzen widmet sich dem Thema Antisemitismus, den manche Juden immer und überall wittern.

Chaim, der gerade aus dem Funkhaus kommt, trifft seinen Freund Shmuel. Dieser fragt den stotternden Chaim, was er denn beim Radio gemacht habe. Chaim antwortet: „I-ch. I-ch ha-be mich um die Ste-lle ei-nes A-an-sa-gers be-worben.“ „Und, hast du den Job bekommen?“ „N-ein, d-as si-nd al-les A-a-a-nti-se-miten.“

New York, 1938: In der U-Bahn sitzen sich zwei gerade aus Deutschland eingewanderte Juden gegenüber. Grün liest die jüdische Zeitung „Forverts“, Blau das NS-Hetzblatt „Der Stürmer“. „Wieso lesen Sie dieses furchtbare Blatt?“, fragt Grün. Darauf Blau: „Schauen Sie, was in Ihrer Zeitung steht. Überall sind die Juden Flüchtlinge, man verfolgt sie, wirft Bomben in ihre Synagogen. Da lese ich lieber die Nazi-Postille, denn die ist zuversichtlicher. Die schreibt, dass wir die Banken besitzen, auch Zeitungen und viele große Firmen. Wir beherrschen die Welt.“

Jüdischer Humor ist oft auch bitter. So bitter, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt.

In einem osteuropäischen Städtchen verbreitet sich die Nachricht, dass ein Kind ermordet worden sei. Die entsetzten Juden packen ihre Sachen zusammen und bereiten sich auf die Flucht vor. Da kommt der Synagogendiener. Schreiend läuft er durchs Getto und verkündet: „Gute Nachricht: Das ermordete Kind war jüdisch.“

Die Unterstellung, Juden würden christliche Kinder entführen und deren Blut zur Zubereitung ihrer ungesäuerten Pessach-Brote verwenden, hat in der Geschichte oft zu grausamen Judenverfolgungen geführt. Heinrich Heine beschreibt eine solche in seiner Erzählung „Der Rabbi von Bacharach“. Somit ist die Nachricht, dass es sich bei dem toten Kind um ein Judenkind handelt, tatsächlich eine gute. Lächeln oder gar lachen kann man darüber freilich nur schwer. Schon Sigmund Freud meinte: „Der Witz ist die letzte Waffe der Wehrlosen.“

Zahlreiche Witze zielen auf die Beziehung zwischen Eheleuten ab.

Sara, für den Abend in großer Garderobe, sagt zu ihrem Mann: „Moischele, du musst doch zugeben, hübsch bin ich noch immer, nicht?“ Moischele: „Du hast recht, hübsch bist du noch immer nicht.“

Eine Frau betrachtet sich im Spiegel und sagt mit Genugtuung: „Dieses Ekel gönne ich ihm!“

„Itzig, warum hast du dir eine so hässliche Frau genommen?“ „Weißt du, sie ist innerlich schön.“ Darauf sein Freund: „Nu, lass sie wenden!“

Beliebt sind auch jene Witze, die Namensänderungen zum Inhalt haben. Viele sind allein schon wegen des jiddischen Sprachidioms unterhaltsam.

Treffen sich zwei Juden und stellen sich gegenseitig vor: „Angenehm, Eisenstein.“ Worauf der zweite antwortet: „Angenehm, Asch.“ Der erste: „Darf ich fragen, was sie gezahlt haben, um loszuwerden das R?“

Wien, wenige Tage nach dem Anschluss 1938. Adolf Stinkfuß geht zum Magistratsbeamten und bittet darum, seinen Namen ändern zu dürfen. Dieser zögert, willigt aber dann doch ein und fragt den Antragsteller, wie er künftig heißen möchte: „Moritz Stinkfuß“, sagt dieser.

Oft erzählt ein Witz mehr über die Lebenswelt einer Gesellschaft als eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Kombination aus allgemein gültiger menschlicher Erfahrung und spezieller Lebenssituation der Juden macht ihren Witz so einzigartig.

 

Ein Christ, ein Moslem und ein Jude unterhalten sich über der Frage, wann das menschliche Leben eigentlich beginne. Für den Christen ist es der Zeitpunkt, in dem Ei- und Samenzelle verschmelzen. Der Moslem meint, mit der Geburt. Der Jude sagt: „Das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund gestorben ist.“


SIND JUDEN INTELLIGENTER ALS NICHTJUDEN?


HÄUFIG, WENN ich auf die großen Leistungen des Staates Israel oder auch auf jene der Juden in der Geschichte verweise, wird dies mit „Kein Wunder – die sind doch intelligenter als wir!“, kommentiert. Und jedes Mal beschleicht mich ein Unbehagen, denn nie kann ich mir sicher sein, ob dies ein Ausdruck der Wertschätzung und Bewunderung oder ein von Neid beseelter Ausdruck einer antijüdischen Gesinnung ist.

Betrachtet man die Vergabe der Nobelpreise seit dem Jahr 1901 als Gradmesser für die allgemeine Intelligenz eines Volkes, so ist die jüdische Überlegenheit offenkundig, denn etwa ein Drittel aller Preisträger waren beziehungsweise sind Juden. Exakter: Es waren bislang 15, die ihn für Literatur erhielten und neun, die sich für ihre Bemühungen um den Frieden in dieser Welt verdient machten. 35-mal ist die höchste Auszeichnung dieser Welt jüdischen Chemikern, 54-mal Physikern, 27-mal Wirtschaftswissenschaftlern und gar 57-mal Medizinern verliehen worden. Zum Vergleich: Bislang wurde der Preis erst elf Muslimen zuerkannt, dazu kommen noch zwei arabische Christen. Stellt man die Bevölkerungszahlen gegenüber, dann wird die Diskrepanz noch deutlicher. 1,6 Milliarden Muslime stehen gerade einmal 15 Millionen Juden gegenüber.

Die Zahlen sind unbestritten, deren Interpretation ist es nicht. Rechte, aber auch linke antisemitische Kreise im Westen, vor allem aber manche Muslime sehen darin eine biologische Überlegenheit der jüdischen Kultur, die es zu bekämpfen gilt. Diese ziele darauf ab, andere Völker zu unterjochen, auszubeuten, zu versklaven. Sie argumentieren vermutlich aus einem kulturellen Minderwertigkeitsgefühl heraus. Zum Vergleich: Seit dem Jahr 1901 gab es je einen muslimischen Preisträger in Chemie und Physik, zwei weitere im Bereich der Literatur und sieben für den Frieden.

Als ich den bekannten israelischen Historiker Yehuda Bauer fragte, ob Juden intelligenter seien als Nichtjuden, lachte er laut auf und antwortete kurz und entschlossen: „Nein, das sind sie nicht.“3 Die Ergebnisse der Intelligenzforschung würden das klar belegen, einzig das Wissen habe sich ganz anders entwickelt. Dessen Grundlage wiederum sei das Lernen. So habe es bei den Juden nie Analphabetismus gegeben, auch bei den Frauen nicht. Bauer: „Im Gegensatz zur christlichen Welt, wo der Priester Texte vorlas und das Volk nur vorformulierte Kurzantworten gab, haben im Judentum Männer und Frauen die Thora und die Gebetbücher immer selbst gelesen.“4 Es ist eine etwa 2500-jährige Lehrtradition, die auf das Deuteronomium (6,4 ff) zurückgeht, wo es heißt: „Du sollst deine Kinder belehren.“ Zumindest dreimal am Tag, wenn Juden das „Schma Israel, Adonai Eloheinum Adonai Echad“, das „Höre Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“, erklären, sprechen sie auch davon, ihren Kinder Wissen zu vermitteln. Schon in der Zeit des babylonischen Exils begriff das Volk Israel, dass es nur überleben würde, wenn es seine Traditionen aufrechterhält. Die beste Methode, diese weiterzuführen, bestand darin, sie zu studieren und zu lehren.

Die Lehrtradition im Christentum ist wesentlich jünger. In Österreich geht sie auf den 6. Dezember 1774 zurück, als Maria Theresia für alle habsburgischen Länder die „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen“ erließ. Wie wenig das Gesetz befolgt wurde, zeigt sich am Beispiel des 100 Jahre später geborenen steirischen Schriftstellers Peter Rosegger, dessen Werke immerhin in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Der zu seiner Zeit (1843–1918) hoch angesehene Literat war zwar sechs Jahre bei einem Wanderlehrer eingeschrieben, er besuchte den Unterricht aber nur gelegentlich, weil er am elterlichen Hof arbeiten musste.

Auf Rosegger, der geradezu privilegiert war, traf zu, was der Schriftsteller Amos Oz (1939–2018) und seine Tochter, die Historikerin Fania Oz-Salzberger, in dem Buch „Juden und Worte“ beschreiben: „Während in anderen Kulturen die Buben der Obhut ihrer Mütter überlassen wurden, bis sie alt genug waren, einen Pflug zu ziehen oder ein Schwert zu schwingen, begann bei den Juden die Akkulturation der jungen Generation in die alte Überlieferung, sobald die Knirpse mit etwa zwei Jahren Wörter verstehen und nicht selten im Alter von drei Jahren auch lesen konnten. Der Unterricht begann, kurz gesagt, bald nach dem Abstillen.“5

Die Knaben gingen ab dem dritten, spätestens ab dem fünften Jahr in den Cheder, wo ihnen der Lehrer die hebräische Schrift und Sprache an Hand von Bibeltexten beibrachte. Mit acht, neun Jahren, konnten die begabteren Buben bereits ganze Teile der Tora auswendig. Danach folgte die höhere Stufe, jene der Kommentierung der Bibel. Dabei wurden die Kinder in den Disziplinen Erinnern, Lernen und Disputieren unterrichtet. Die Begabteren setzten das Studium in einer Torahochschule, einer Yeshiwa, fort. Und das ist kein leichtes Studium, denn der Tag beginnt um 7.00 Uhr und endet kaum vor 23.00 Uhr. In einem Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“ bekennt ein Gastautor: „Viele können sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie schwierig und hart und intensiv das Talmudstudium ist. Nichts von dem, was ich an der Universität durchgemacht habe, ist vergleichbar mit den hohen Ansprüchen des Torastudiums und der Disziplin, die es fordert. Darin liegt einer der Gründe für die Tatsache, dass so viele, die durch diese harte Lehre gingen, es draußen in der Welt, im beruflichen und wirtschaftlichen Wettbewerb, so weit bringen.“6

Bei diesem Studium in einer Yeshiwa wird den jungen Männern beigebracht, wie man vom Kleineren auf das Größere schließt und wie es geht, dass man von der allgemeinen Situation Rückschlüsse auf besondere Lebensumstände zieht. Zentrales Anliegen war es auch, immer wieder Fragen zu stellen. So entstand eine dialogische, ironische, in sich immer wieder gebrochene Welt des Denkens, deren Ziel nicht die Anhäufung von kognitivem Wissen, sondern die intellektuelle Beweglichkeit war. Freilich: Dafür bedarf es auch eines besonderen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler. Der Lehrende ist – so klug er auch sein mag – nicht die unangreifbare Autorität. Ganz im Gegenteil: „Die jüdische Tradition gestattet, ja ermutigt den Schüler, sich gegen den Lehrer zu stellen, ihm zu widersprechen und bis zu einem gewissen Punkt darzulegen, dass er unrecht hat. Das ist bis zu einem gewissen Grad der Schlüssel zur Erneuerung“7 befinden Oz und Oz-Salzberger. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis besteht also nicht in einer hierarchischen Abhängigkeit, sondern in einem wechselseitigen, gemeinsamen Lernprozess. Und so wird von jedem 13-jährigen Juden, der seine Bar Mitzwa feiert, erwartet, dass er einen „chidusch“, eine neue Erkenntnis bei der Interpretation der ihm vorgelegten Torastelle, beisteuert. Er soll etwas Neues herausfinden und nicht bloß Altbekanntes wiedergeben. Und die einzigartige Besonderheit daran: Er darf mit seinen Ideen auch falsch liegen, ohne sofort zurechtgewiesen zu werden. Dies nimmt die Angst vor Fehlentscheidungen und gesellschaftlichen Verurteilungen. Die Tradition der jahrhundertealten Lernpraxis führte auch dazu, dass Israel eine höchst erfolgreiche Start-up-Nation ist. Amos Oz weist darauf hin, dass das Judentum stets „eine Kultur des Zweifels und der Diskussion gepflegt hat, ein offenes Spiel der Deutungen und Gegendeutungen, Umdeutungen und widersprüchlicher Deutungen. Die jüdische Zivilisation zeichnet sich von Anfang an durch ihre Streitlust aus.“8

Grundlage dieses Lernens sind die Bücher. Weit vom Jerusalemer Tempel entfernt, zerstreut in alle Welt, blieben den Juden nur die Bücher. Juden hatten keine Reliquien, keine apostolische Erbfolge, keine Heiligenstatuen oder Bilder – alles, was ihnen blieb, waren Bücher. Wenn Juden bei Pogromen um ihr Leben rannten, aus dem brennenden Haus oder der brennenden Synagoge flüchteten, nahmen sie stets das Wertvollste, ihre Kinder und ihre Bücher, mit.

Das Wort ist also der Schlüssel zur Kontinuität im Judentum. Juden tragen ihren Gott in Form der Tora bei sich. Heinrich Heine spricht in diesem Zusammenhang vom „portablen Gott“. Texte und Bücher sind es auch – bei aller Unterschiedlichkeit der Interpretationen –, die das Judentum zusammenhalten. So treffen sich ein Jude aus Buenos Aires, einer aus Novosibirsk und ein deutscher Jecke, bei aller Verschiedenheit, die ein Russe, ein Argentinier und ein Deutscher aufweisen, doch auf einer gemeinsamen Ebene. Auf der Basis der gemeinsamen Kultur, die von den gemeinsam gelesenen Büchern ausgeht. Diese Kultur mag widersprüchlich sein, aber es bleibt dennoch dieselbe Kultur.

Lust an der intellektuellen Auseinandersetzung, aber auch der den Juden eigene Humor, bringen einen besonderen Charakterzug hervor: die Chuzpe. Unter Chuzpe versteht man eine Mischung aus intelligenter Unverschämtheit, Charme und unwiderstehlicher Dreistigkeit. So nehmen Juden Könige und Rabbiner, Glaubensgenossen und Andersgläubige aufs Korn und machen dabei selbst vor Gott nicht halt. Das wiederum bedeutet: Es gibt keine Tabus im Denken. Ein Beispiel: Ursprünglich galt Gott als alleiniger Schöpfer. Seit der Erschaffung von Adam und Eva kann er aber nicht mehr allein agieren. Adam und Eva sind zu zweit, Gott steht allein. Auch sind seine Gebote „nicht mehr im Himmel“, wie es im Buch Deuteronomium (30,11) heißt. Das wiederum befähigt die numerische Mehrheit der Juden gegenüber dem einen Gott über die Tora und deren Interpretation allein zu entscheiden. Bei so viel Chuzpe fragen sich die Juden natürlich: Was denkt Gott über seine Entmachtung? Die Antwort kann man im Talmud nachlesen: „Rabbi Nathan begegnete dem unsterblichen Propheten Elia und fragte ihn: ,Was tat der Heilige, gelobt sei Er, zu eben jener Stunde?‘ Er antwortete: ,Er lachte und sprach: Meine Kinder haben mich besiegt.‘“

Wenn fromme Juden lernen, dann geht es nicht darum, jüdische Geschichte nach rein objektivierbaren Kriterien zu begreifen, sondern es geht „um ein Wissen, bei dem das Schaffen des Menschen dargestellt und zugleich ein Gespür für eine göttliche Gegenwart vermittelt wird“, legen Oz und Oz-Salzberger dar. Lernen sei also Gottesdienst und Gottesdienst sei immer auch Erkenntnisgewinn.

Nach diesem Exkurs sollte klar sein: Die hohe Zahl der Nobelpreisträger beruht nicht auf Chromosomen, sondern auf einer jahrhundertealten Tradition des Lernens. Eines Lernens, das nicht als notwendige und zeitweilige Beschäftigung gesehen wird, die später vom „richtigen Leben“ abgelöst wird. Lernen ist im Judentum existenziell.


Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?