Buch lesen: «Onnen Visser»
1
Über den Wassern der Nordsee stand ein schweres Gewitter. Träge lief die Flut an den Strand von Norderney, tiefe Finsternis bedeckte Erde und Meer; die immer so stille, weltabgeschiedene Insel schien in dieser Frühlingsnacht wie ausgestorben.
Und doch regte sich auf dem Wasser ein dunkler Körper, ein Kanonenboot, dessen Besatzung emsig spähend nach allen Seiten ausblickte. Einer der bärtigen Soldaten legte beide Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme in die Finsternis hinaus:
»Qui vive?« (Wer da?)
Keine Antwort. Das kleine Boot, welches dicht unter dem Bug des Franzosen dahinglitt, schien steuerlos zu treiben; auch das schärfste Auge hätte in dem Rund desselben keinen Menschen entdeckt, keine Bewegung wahrgenommen. Leise wiegend und schaukelnd führten es die Wellen hinaus bis in das offene Meer, der äußersten Landspitze der Insel entgegen.
Auf dem Kanonenboot ballte der Soldat die Faust. »Alle tausend Teufel«, rief er, »ich habe doch eine Nußschale von einem Fahrzeug hier vorbeischwimmen sehen – wo ist denn nun das Ding geblieben?«
»Flucht nicht so lästerlich!« mahnte eine andere Stimme. »Jeden Augenblick kann der erste Blitz vom Himmel herabfahren; gebt lieber einen Schuß ab und bohrt das Schmugglerboot in den Grund. Sie paschen doch alle, diese langen deutschen Lümmel mit ihren blauen Augen und ihren Bärenkräften.«
Der Soldat ließ sich den Befehl nicht zweimal geben. »Sehr wohl, Unteroffizier Durand«, rief er, »die Kanaille soll es haben, daß ihr Funken und Tropfen zugleich um die Ohren spritzen.«
Er hantierte einen Augenblick bei den Geschützen herum, dann kommandierte er selbst: »Feuer!« und der Schuß krachte donnernd durch die stille Nacht dahin, daß in den Dünen am Strande die kleinen Vögel erschreckt auffuhren und durch die Luft schwirrten. Fast im gleichen Augenblick schrie der Franzose laut auf:
»Mille tonnerres! da ist das Boot wieder. Ein Knabe liegt darin!«
Er wollte den zweiten Schuß abgeben, aber Unteroffizier Durand fiel ihm hastig in den Arm.
»Laßt es bleiben, Chatellier – ich habe die Erscheinung auch bemerkt. Das da ist kein Mensch.«
Der Soldat sah sich plötzlich um, als vermute er, daß jemand ihm in den Rücken fallen werde. »Aber was könnte es denn sein, Unteroffizier?« fragte er flüsternd.
»Ein Geist! Wir haben kürzlich zur Kirchzeit mit dieser selben Kanone ein Boot in den Grund gebohrt, wie Ihr wißt – da unten an der Wattgrenze – es war nur ein Knabe darin, ein armes Kind, das für die Badegäste Seeteufel und Muscheln gesammelt hatte, aber wir konnten natürlich das Geschehene nicht ungeschehen machen, der Junge starb und sah mich fest an – die Glocken da unten im Dorfe läuteten – er hielt im Todeskampfe den Blick auf meine Stirn geheftet. – Wißt Ihr noch, Chatellier, wir warfen den Körper ins Meer. Das Läuten wollte an jenem Tage gar kein Ende nehmen.«
Der Soldat bekreuzigte sich. »Und Ihr glaubt, daß das sein Geist war, Unteroffizier Durand?«
Der andere nickte. »Gerade so lag er in seinem Boot! – Er will uns hinauslocken, bis der Sturm losbricht – kein Splitter würde von der ›Hortense‹ heil bleiben, ich sage es Euch.«
»Die heilige Jungfrau beschütze uns. Soll ich das Steuer wenden?«
Der Unteroffizier nickte. »Das Gewitter zieht herauf, alle Offiziere sind in Norden auf dem Balle, ich mag die Verantwortung nicht tragen. Bergen wir uns, solange es Zeit ist.«
Das Steuer der »Hortense« wurde gedreht, alle Segel vor den, übrigens kaum bemerkbaren, Wind gebracht und der Rückweg zur schützenden Reede angetreten. Wenige Minuten später war das Kanonenboot verschwunden.
Aus dem kleinen Fahrzeuge erhob sich langsam, vorsichtig spähend die schlanke Gestalt eines etwa sechzehnjährigen Knaben. Das hübsche Gesicht lachte, die Finger machten den Franzosen eine lange Nase.
»Ihr Esel! also das ist eure ganze Schießkunst. Ha, ha, ha, schwimme vier Fuß unter den Planken des Schiffes vorüber und ihr schleudert die Ladung fast ebenso viele Hunderte weit ins Meer hinein. Tröpfe! Welsche Schnattergänse!«
Nachdem er sich diesen Ausbruch spöttischen Zornes gestattet hatte, ergriff der junge Norderneyer seine beiden, auf dem Grunde des Fahrzeuges versteckten Ruder und holte aus, daß sich leuchtende Streifen durch das Wasser zogen.
Es war die Gegend unter der heutigen »Giftbude« am Herrenstrand, wo sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts diese Szene zutrug. Die Kontinentalsperre1806 hatte Napoleon I. die Einfuhr englischer Waren in das von ihm beherrschte Kontinental-Europa verboten. hatte ein ausgedehntes Schmugglerwesen zur Folge gehabt, französische Kanonenboote kreuzten überall zwischen den ostfriesischen Inseln und hatten häufig kleine Gefechte sowohl mit den Bewohnern derselben, als auch mit englischen Fahrzeugen, welche den Schmuggelhandel unterstützten. Damals galt eben für Deutschland als Gesetz, was Napoleons Willkür beliebte – kein Wunder also, daß sich auch hier, wie überall im Leben, die List der Tyrannei entgegenstellte.
Unser junger Freund ruderte so hastig, wie es seine Kräfte erlaubten. Am Himmel zuckten zuweilen einzelne Blitze durch das Gewölk, der Ausbruch des eigentlichen Gewitters aber schien noch fern, und eben diese Pause mußte er benutzen, um vorwärtszukommen. Der Strohhut flog auf die Bank, das Halstuch mit der Jacke folgte nach, immer schärfer und schärfer spannte der Knabe seine kräftigen Muskeln.
Plötzlich schien es ihm, als bewege stärkerer Wellenschlag seinen Kahn. Er hielt inne und horchte, das weit geöffnete Auge sandte spähende Blicke voraus über das stille dunkle Meer.
Ob nicht in geringer Entfernung ein Etwas, ein schwarzer Schiffsrumpf auf den Wogen lag?
Ein Blitz zerriß die Wolken, nur ein schwacher gelber Schimmer, nicht kräftig genug, um zu leuchten, aber dennoch glaubte der Knabe, während dieses kurzen Augenblicks ein weißes Segel gesehen zu haben.
Er trocknete den Schweiß von der Stirn, dann brachte er den kleinen Finger in den Mund und langgezogen schrillte ein lauter Ton über das Meer.
Es war das Geschrei des Regenpfeifers.
Sekunden vergingen, dann, während der Knabe atemlos, mit klopfendem Herzen lauschte, erklang aus ziemlicher Nähe derselbe Ton, nur anhaltender, durchdringender, als befinde sich das Tier in großer Aufregung.
Der Knabe lächelte. Jetzt veränderte er seine Stimme. Das eintönige, ermüdende Geschrei der kleinen Möwe erfüllte die Finsternis.
Es blieb unbeantwortet, aber statt jedes anderen Zeichens erschien auf dem Wasser ein rotes Licht, das eine Schanzkleidung und die nächsten Segel und Taue der Takelage beleuchtete. Das Gesicht eines älteren Mannes sah ängstlich über Bord.
»Onnen«, sagte eine Stimme, »Onnen, bist du es?«
»Allstunds, Vater!« war die Antwort. »Nehmt mich an Deck!«
Die Schaluppe legte back und das Fallreep wurde herabgelassen, während der junge Mensch sein Boot mittels einiger geschickter Ruderschläge unter den Stern brachte. Es an das Fahrzeug zu befestigen war Sache einer halben Minute, dann kletterte er wie eine Katze zum Deck hinauf.
Wenigstens zehn Männer empfingen ihn; sein Vater, der Kapitän des Schiffes, streckte ihm beide Hände entgegen.
»Um Himmels willen, Onnen, was tust du hier?« »Bringst sicherlich böse Botschaft, nicht wahr?«
»Nur heraus damit, Junge, was ist geschehen?«
Es war ein eigentümliches Bild, das sich jetzt den Blicken des Knaben darbot. Überall an Deck standen und lagen Kaufmannsgüter jeder Art, Zuckerhüte, Kaffeesäcke, Tranfässer, Teekisten und unzählige Ballen Tabak. Zwischen diesen Gegenständen drängten sich Männer mit unruhigen, erwartungsvollen Gesichtern, während nur eine einzige kleine rote Lampe die ganze Szene mit ihrem rubinfarbenen Schimmer notdürftig erhellte.
Onnen sah in diesem Augenblick sehr ernst aus. »Ich bringe wirklich schlimme Kunde«, sagte er, »sehr schlimme. Die Insel hat heute abend eine französische Besatzung erhalten.« »Landmilitär? – Gott verderbe die Elenden!« »Ja, es ist eine Kompanie des in Norden liegenden Regimentes unter Oberst Jouffrin, den sie dort den Schinder nennen.« Klaus Visser, der Kapitän, schüttelte den Kopf. »Bös genug, wenn wir jetzt auch noch eine Besatzung durchfüttern müssen«, sagte er, »aber bei alledem sehe ich nicht ein, weshalb du dich in dem kleinen Boote auf das Meer hinauswagtest, mein Junge. Die Kanonenboote mußten dir ja doch den Weg versperren.« Onnen lachte belustigt. »Ich bin unter dem Bug der ›Hortense‹ hindurchgefahren – die Kerle haben mir auch eine Kugel über den Kopf weggeschossen.«
»Herrgott, Kind!«
»Schadet ja nicht, Vater! Ich mußte euch um jeden Preis warnen; seht, ihr könnt die Waren auf keinen Fall in das Dorf bringen – überall stehen Wachtposten.«
Diese Nachricht fiel wie ein Stein auf die Herzen der Männer; ein lähmendes Schweigen folgte den Worten des Knaben.
»Ganz umstellt ist das Dorf?« fragte endlich der Kapitän.
»Ganz umstellt.«
»Und wo haben die Franzosen Quartier genommen?«
»Im Badehause. Das ganze Dorf ist auf den Beinen – dreihundert Betten mußten noch vor Abend abgeliefert werden, sechshundert Handtücher, Kochgeräte, Stroh, Brennmaterial – der alte Amtsvogt war so außer sich, daß er weinte.«
»Und er hat dich zu uns geschickt, Onnen, mein Junge?«
»Nein, Vater, ich schlich mich heimlich fort, als die Wachtposten alle Straßen besetzten. Die ›Taube‹ muß gewendet werden und bis zur Wattgrenze gehen, – dann bringen wir in meinem Boot die Waren aufs Land und in die Dünen.«
»Wo der nächste Regen alles verdirbt! – das gibt möglicherweise einen Schaden von Tausenden.«
»Ihr müßt Fischernetze darüber legen, alte Segel und dergleichen. Es ist ja doch alles bestimmt, um über das Watt nach Hilgenriedersiel und von dort in das Binnenland zu wandern, nicht wahr?« »Bis auf das, was wir hier an Ort und Stelle brauchen, ja. Kornelius Houtrouv in Emden hat die ganze Ladung der ›Queen Elizabeth‹ gekauft, sie liegt auf Baltrum sicher geborgen – und nun müssen uns die Franzosen den Weg abschneiden.« »Der Teufel hole sie alle!«
Wieder folgte ein längeres Schweigen, dann sagte endlich der Kapitän: »Nun, Kinder, wir müssen uns ruhig fügen, das geht nicht anders. Ehe der neue Tag beginnt, sollen die Waren sicher versteckt sein, das bedenkt.«
Niemand antwortete ihm, aber mehrere Hände griffen zu, als er die Schaluppe zu wenden begann; eine Stunde später lag sie unweit jener Stelle, an der heute der Leuchtturm steht und die damals ganz öde, ganz verlassen war, nur von Seehunden und großen Seevögeln bewohnt.
Die schwierige Arbeit der Ausschiffung nahm ihren Anfang. Das Boot brachte Faß auf Faß, Ballen auf Ballen auf den festen Saugsand des Watts, dann trugen die Schmuggler mit vereinten Kräften alles hinein in das unwegsame Gewirre der Dünen.
Wer jemals auf Norderney seinen Weg über das mittlere Innere der Insel nahm, wer halb fallend, halb gleitend, immer sprungbereit, immer treulos verlassen von dem vermeintlich festen Boden unter seinen Füßen atemlos vorwärts keuchte, nicht selten der Länge nach in den Sand fallend – der kennt die Riesenarbeit, welche jetzt von den verwegenen Schmugglern vollführt wurde.
Es gab ein Tal, von hohen Wänden umschattet, ein tiefes Tal, zu dem der Pfad durch losen Flugsand führte – dahin brachten die Männer ihr Eigentum. Der nächste Windstoß verwischte die Spur; es war unmöglich, das Nest zu entdecken.
Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag dem andern; später prasselte auch der Regen herab. »Gott sorgt für Beleuchtung«, meinte der Kapitän. »Hurtig, Kameraden, jetzt ist die Sache bald getan.« Der Sturm wirbelte ganze Wolken von Sand empor, donnernd und brausend schlug das Meer an seine Ufer; nun brach der Aufruhr der Elemente los, daß es fast unmöglich wurde, sich überhaupt aufrecht zu halten.
Alle verfügbaren Fischernetze waren mitgebracht und über die besseren Waren gedeckt worden; eine Schicht Sand verhüllte zuletzt alles bis zur gänzlichen Unerkennbarkeit. Die Taschenuhr des Kapitäns zeigte auf zwei, als der Heimweg angetreten werden konnte.
Jetzt zu Fuß; die »Taube« hatten einige der Verbündeten an ihren Ankerplatz gebracht und waren dann wieder zu den übrigen gestoßen.
Der Weg von der äußersten Landspitze der Insel bis in das Dorf, vorüber an Dünen und immer wieder Dünen, der lange, ermüdende Weg war damals dasselbe, was er heute noch ist, aber von der Bootsbauerei und der Windmühle stand kein Stein, es gab vielmehr an diesem so einsamen, so todstillen Orte nur eine einzige halbverfallene niedere Bretterhütte, die ehemals von den Fischern als Aufbewahrungsort für allerlei Geräte benutzt worden war und die man dann einer krüppelhaften uralten Frau aus dem Dorfe als Wohnsitz überlassen hatte.
Die alte Aheltje wurde von den Bewohnern Norderneys sorgfältig gemieden, es ging die Rede, daß sie hexen könne, daß es überhaupt mit ihr nicht so recht geheuer sei, weshalb man denn sehr froh war, sich ihrer in dieser Weise entledigen zu können. Die alte Frau lebte von dem, was an jedem Tage zweimal die zurückweichende Flut auf dem Sande übrig ließ und was so viele Geschöpfe, Menschen und Tiere jahraus, jahrein ernährt – Fische, Taschenkrebse und Muscheln, daneben alle jene Geschöpfe, welche in trockenem Zustande von den damals schon seit einigen Jahren die Insel besuchenden Badegästen gekauft und gut bezahlt wurden: Seeigel, Drachen und Teufel, die hübschen Seesterne und die feinen zierlichen Algen.
Zuweilen humpelte Aheltje in das Dorf und brachte den Händlern ihre Beute, dann gab es Geld und die Alte konnte ein Stück Fleisch kaufen, nicht für sich selbst, sondern für einen großen grauen Kater, das einzige Wesen, welches sie liebte, dem ihr einsames verarmtes Herz warm entgegenschlug und das sie auch auf jedem solchen Wege wie ein Schatten, geräuschlos schleichend, begleitete.
Gleich nachdem links der heute noch gebräuchliche Ankerplatz der Schaluppen passiert war, kam zwischen zwei bewachsenen Dünen die Hütte der Hexe zum Vorschein; Onnen sah zuerst, daß aus dem einzigen halbzerbrochenen Fenster noch Licht hervorschimmerte.
»Aheltje wacht bereits«, sagte er.
In diesem Augenblick legte plötzlich der Kapitän die Hand auf seines Begleiters Schulter; ein stummer Wink genügte, um diesen und alle übrigen zu verständigen.
In der Entfernung von kaum fünfzig Schritten stand ein in seinen Mantel gehüllter französischer Wachtposten. »Still! – Um Gottes willen, keinen Laut.« Sie schlichen alle ohne weitere Verabredung nach rechts, so nahe wie möglich an die Dünen heran, um abermals diesen beschwerlichen Weg zu verfolgen, da ihnen jetzt für die letzte Strecke bis zum Dorfe der offene Strand verschlossen blieb. Ihrer neun kletterten sie, ermüdet und durchnäßt bis auf die Haut, von Klippe zu Klippe, hart an der Hütte der Hexe vorüber.
Rings herrschte das Dämmerlicht des beginnenden Frühlingsmorgens. Grau und trostlos lehnte halbzerfallen das Bretterhaus an den Sandmauern, auf dem schiefen Dache wuchs Dünengras und Moos, die Tür knarrte in ihren verrosteten Angeln, so oft der Wind mit donnernder Gewalt an dem morschen Bau zu rütteln begann.
Onnen legte den Finger auf die Lippen. »Stimmen!« flüsterte er. »Aheltje hat Besuch.«
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Das kümmert uns nicht. Junge. Wir müssen so schnell wie möglich vorübergehen.« Onnen horchte noch immer. »Da wurde eben dein Name genannt, Vater – und Eurer, Heye Wessel – es ist Peter Witt, der da drinnen spricht.«
»Alle Teufel – der französische Spürhund!«
»Aber was will er bei der alten Strandläuferin?«
Sie umringten nun, für den französischen Wachtposten unsichtbar, die Bretterhütte; der Kapitän und noch ein anderer gewannen durch das zerbrochene Fenster einen Blick in das Innere dieser trostlosen Behausung, und was sie entdeckten, war nicht geeignet, ihre einmal erwachte Unruhe wieder zu entkräften. Auf einem niederen Holzschemel saß die alte Aheltje und hielt in ihrer Rechten eine Anzahl zerrissener, fast schwarzer Spielkarten; neben ihr stand ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, groß und stattlich, in städtischer Kleidung, mit einem blitzenden Ordensstern auf der Brust – er sah aus, als sei ihm etwas Unangenehmes gesagt worden. »Dummes Zeug, alte Hexe, lauter Unsinn – ich bin ein reicher Mann, schwer reich sogar, ich besitze die Gunst Seiner Majestät des Kaisers, das siehst du wohl an diesem Orden! was könnte mir also geschehen?«
Die Strandläuferin wiegte den Kopf. »Hier steht es, Peter Witt, die Karten kümmern sich nicht um arm oder reich! Du mußt durch Blut und Tränen gehen, du mußt leiden, leiden – anderes kann ich dir nicht berichten.«
Der Mann schnippte mit den Fingern. »Deine ganze Kunst ist keinen roten Heller wert, Alte – wer hat dich denn um meine Zukunft befragt, he? Du sollst mir einzig und allein sagen, ob es gelingen wird, Klaus Visser und seine Genossen bei ihren Schmugglerfahrten zu ertappen, so daß man sie anzeigen könnte. Weiter will ich nichts wissen.«
Die Strandläuferin klappte ihre Karten zusammen. »Dann erkundige dich bei Leuten, die dir darauf einen sicheren Bescheid geben können, Peter Witt. Ich halte den Kapitän für einen Ehrenmann, für einen Ostfriesen vom alten tüchtigen Schlage, er wird wissen, was erlaubt ist und was nicht. Wolltest du ihn etwa den Franzosen in die Hände liefern, Mann?«
Peter Witt lachte. »Natürlich, Alte. Sieh nur, da auf meiner Brust ist noch Raum für mehr als einen Orden.«
Aheltje schüttelte verächtlich den Kopf. »Solch ein buntes Ding – ein Spielzeug! Und dafür wollte ein Norderneyer Kind das andere ins Verderben stürzen? Pfui!«
Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. »Potz Blitz, Alte, nimm dich in acht!« rief er erbost. »Ich bin hier auf der Insel der reichste Mann!«
»Und ein Strohkopf dazu, Peter Witt, das laß dir gesagt sein. Mich kannst du nicht schrecken, die Gemeindevorsteher haben mir dies Haus zinsfrei überlassen, so lange ich lebe – und den weiten offenen Strand mit seinen Gaben schenkt mir Gott; weiter als das ist nichts auf Erden mein eigen. Und nun geh, Peter Witt – ich will hinaus, mir im Freien mein Frühstück zu sammeln.«
Der Mann schoß einen giftigen Blick. »Stehst wohl auch mit den Schmugglern in Verbindung, Hexe, was? Spionierst für sie, machst Gelegenheit, he? – Wahre deinen Kopf, die Herren Franzosen pflegen sich nicht lange bei der Vorrede aufzuhalten.«
Mit diesen zornigen Worten öffnete er plötzlich die Tür und trat hinaus ins Freie, dem Kapitän gerade entgegen. Ein halberstickter Schreckensschrei brach über seine Lippen, er taumelte einige Schritte zurück. »Klaus Visser!« sagte er stammelnd.
Der Fischer nickte. »Morgen, Witt. Laß dich nicht stören, Mann.«
Der Überraschte rang noch immer mit dem ersten heftigen Erschrecken. »Was tut ihr denn sämtlich so früh hier draußen?« fragte er hämisch.
Der Kapitän sah ihm fest und offen ins Auge. »Wollen uns wahrsagen lassen, Peter Witt, wollen Aheltjes Karten befragen, wann endlich auf Norderney alle Schufte und Vaterlandsverräter an den Galgen kommen!«
Das Gesicht Peter Witts wurde fahl. »Spaß!« brachte er mühsam hervor.
»Du wirst den bitteren Ernst früh genug kennenlernen, Witt. – Adjes für diesmal!«
Er zog ein Geldstück aus der Tasche, um es dem alten Weibe in den Schoß zu werfen, dann gingen alle über die Fläche, welche heute das Ruppertsburger Gehölz umschließt, durch die Gegend der Winterstraße und der jetzt so eleganten vornehm-ruhigen Bismarckstraße in das Dorf hinab, jeder einzelne im Herzen beunruhigt und unangenehm berührt von dem lauernden, boshaften Blick des Franzosenfreundes. Noch wußte er offenbar nichts, aber er spionierte, und es galt der nahenden Gefahr gegenüber auf der Hut zu sein.
Stumm teilten sich nach kurzer Wanderung die Genossen des nächtlichen Zuges. Hier verschwand im Morgengrauen hinter einer niederen Tür der eine, dort der andere, zuletzt Kapitän Visser und sein Sohn, die in der Campstraße wohnten.
Hinter den verhüllten Fenstern der Fischerhütte glänzte noch Licht. Von den sechs- bis siebenhundert Menschen, welche damals das Inseldorf bewohnten, hatte wohl kein einziger während dieser Nacht wirklich geschlafen, am wenigsten aber Frau Douwe, Onnens Mutter, die jetzt weinend, mit ausgebreiteten Annen den beiden Ankömmlingen entgegenging.
»Gottlob, daß ihr da seid, Vater, du und Onnen! Ach, wie habe ich mich geängstigst, als der Kanonenschuß fiel! – Mein Kind, mein einziger Junge!«
Sie schluchzte so heftig, daß sich der Kapitän gerührt fühlte. »Ich hab‘ mich selbst gehörig erschrocken, als Onnen so unvermutet erschien, Mutter, aber seine Entschlossenheit wurde unsere Rettung. Am Strande stehen französische Wachtposten.« »Ach Gott, sie stehen überall, sie spionieren und schleichen zwischen den Häusern und auf den Straßen. Jetzt ist Norderney verloren.« Der Kapitän lächelte. »Mutter, du redest, als sei dem Herrgott da oben das Weltregiment über Nacht abhanden gekommen und dem übermütigen Korsen als gute Prise zugefallen! – Sei ganz ruhig, auch für ihn steht geschrieben: ›Bis hierher und nicht weiter!‹« In diesem Augenblick trat aus einer anstoßenden Kammer hervor ein Mann in Reisekleidern mit einer Ledertasche, die er über die Schulter gehängt hatte, Geerd Kluin, der Bruder der Frau Douwe und Hausgenosse der kleinen Familie. »Bist wieder da, Onnen«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »deine Mutter hat sich schier halb zu Tode geängstigt um dich! – Brr, hier auf Norderney ist‘s ungemütlich geworden; ich gehe fort.«
»Ganz fort?« fragte der Kapitän.
»Ja, nach Hamburg. Jetzt kommt die Zeit der Lieferungen und Abgaben, der Erpressungen aller Art, da mache ich mich lieber aus dem Staube. Kenne das von Emden und Norden her, schlage den Herren Franzosen beizeiten ein Schnippchen.«
Er lachte, während er behaglich den heißen Kaffee schlürfte. »Zu solchen Zeiten läßt sich gut sein Schäfchen ins Trockene bringen, man muß es nur anzufangen wissen. Ich gehe nach Hamburg, Schwager Klaus, und wenn du klug wärest, so würdest du mich auf der Stelle begleiten!«
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Ich? – Nein, mein guter Geerd, da habe ich doch mein Vaterland zu lieb. Was Norderney bedroht und bedrängt, das soll auch über mich kommen; was die armen Leute des Dorfes zahlen müssen, das will auch ich geben, der mich Gott mit Wohlstand gesegnet hat. Ich bleibe!«
Kluin lächelte. »Jeder nach seiner Weise«, sagte er. »Ich habe mein bißchen Geld – ein paar armselige Sparpfennige – in den Dünen versteckt, da findet es, so lange der Hahn kräht und der Wind weht, kein Mensch. Für den immer hungrigen Säckel des französischen Eroberers war mir‘s zu schade.«
Der Kapitän dampfte große Wolken. »Sind vielleicht hundert Familienväter auf Norderney, Kluin«, versetzte er nach einer Pause, »hundert oder noch weniger, die müssen unter sich alle Lasten und Leiden des Krieges, soweit es die Insel betrifft, teilen! – Du bist der Reichsten einer – still, still, ich weiß, was ich sage, wenn dir auch noch so viel daran liegt, für arm zu gelten! – Glaubst du denn da, daß es anständig gehandelt ist, in der Stunde der Gefahr auf und davon zu gehen? – Mir war‘s wahrhaftig, als ließe ich meine Mutter wehrlos in den Händen roher Buben, ich könnt‘s nimmermehr tun, Schwager Geerd!«
Der andere zuckte die Achseln. »Sehr schön gedacht«, sagte er etwas spöttisch, »ungeheuer edel, aber – für mich zu teuer. Glaubst du nicht, daß die Langfinger bei dir bald genug Moses und die Propheten entdecken werden? Dann heißt es, her damit!« Der Kapitän reckte seine muskulösen Arme. »Laß fahren dahin!« rief er. »Ich kann arbeiten, kann genug verdienen, um drei Menschen zu ernähren – auch das ist Reichtum.«
Draußen klopfte es gegen die verschlossene Haustür. Frau Douwe schrie vor Schreck laut auf, während Onnen hinaussprang und durch das kleine Schiebfenster sah. »Es ist der Vogt, Mutter«, rief er ins Zimmer hinein, »sei nur ganz ruhig.«
Er ließ einen alten, von der Last der Jahre gebeugten Mann eintreten, einen Greis, der sich ächzend auf den nächsten Stuhl warf. »Grüß Gott miteinander! – O Kinder, welch eine Zeit!« Frau Douwe wollte ihm eine der bunten, rot und blau bemalten Tassen mit Kaffee füllen, aber er wehrte ihr sogleich. »Die Franzosen sind immer hinter mir drein, Nachbarin, hier soll ich sein und da, dies bewerkstelligen und das. Ach, großer Gott, es ist nicht zum Aushalten.«
Er trocknete den Schweiß von der Stirn und entfaltete dann ein Blatt Papier. »Sieh her, Visser, da steht‘s geschrieben – sobald ein Trommelzeichen gegeben wird, haben sich alle Männer des Dorfes vor dem Badehause einzufinden. Etwa um sieben Uhr früh soll die erste Ansprache stattfinden.«
»Heute?« fragte der Kapitän.
»Gewiß. Gleich, sage ich dir, jetzt! – Adjes! Adjes, ich muß überall Bescheid bringen.«
Er schüttelte bekümmert den Freunden die Hand und eilte weiter, um als lebende Zeitung die Hiobspost von Tür zu Tür zu tragen. Geerd Kluin erhob sich und sah seinen Schwager bedeutsam an. »Du hörst nun, was sich vorbereitet, Visser – sei vernünftig, Mann, geh mit nach Hamburg, so lange es Zeit ist.«
Der Kapitän lächelte. »Nimmermehr!« versetzte er. »Ich bleibe, ich will stehen und fallen für meine Heimat – der Ostfriese wankt nicht und trügt nicht!«
Kluin umarmte seine Schwester und seinen Neffen, dann drückte er die Hand des eigensinnigen Schwagers. »Lebt wohl, ihr alle. Hoffentlich sehen wir uns wieder zur guten Stunde, wenn der Franzmann aus dem Lande geprügelt ist.«
Er ging, begleitet von den Seinigen, um sich an Bord eines nach Leer oder Emden fahrenden Schiffes zu begeben. Die Sonne schien jetzt schon hell vom Himmel; der Kapitän winkte nochmals dem Scheidenden, dann trat er in das kleine saubere Gemach zurück und breitete beide Arme aus. »Komm her, Mutter, und auch du, Onnen! Euch liebe ich zuerst und zunächst, aber danach meine Heimat. Gerade weil sie arm und klein ist, eine verlassene Sandscholle im weiten Meer, gerade darum liebe ich sie. Was meinst du, Onnen, wollen wir beide in Hamburg müßig zusehen, wenn hier unsere Brüder ringen und leiden?«
Die Augen des Knaben glänzten hell. »Nein, liebster Vater, nein, das verhüte Gott! Wir teilen alles, Gutes und Schlimmes.«
Der Kapitän nickte. »Das denke ich auch. ›Alle Mann auf!‹ – Ein Fuchs oder eine Memme, wer das Kommando hört und nicht folgt.«
In diesem Augenblick ertönte draußen ein Geräusch, Onnen horchte auf. »Trommelwirbel!« rief er, »du mußt hin, Vater!« »Und du mit, Junge! Bist konfirmiert, stellst schon deinen Mann; laß dir nur die durchwachte Nacht nicht ansehen, hörst du.«
Frau Douwe weinte. »Die Unruhe bringt mich noch um«, schluchzte sie.
»So geh mit, Alte!« sagte lächelnd der Kapitän. »Wirst ja noch immer ein wenig frische Luft schöpfen dürfen, wenn auch die Insel eine französische Besatzung erhalten hat! – Den Kopf auf, Mutter! Die in Emden und Leer sind ja auch nicht gleich mit Haut und Haar verschlungen worden – wir kommen schon lebendig hindurch!«
Er hatte in aller Eile den Anzug gewechselt, ebenso Onnen, dann gingen die beiden bis zu dem Platze, auf welchem heute das neue Badehaus und die Anlagen stehen.
Die Franzosen waren in Reih und Glied aufmarschiert, Oberst Jouffrin mit seinen Offizieren ging vor der Front auf und ab und im weiten Halbkreis sammelten sich die Bewohner der Insel, alle in ihrem Fischeranzuge, mit dem »Stummel« zwischen den Zähnen, und alle schweigsam, als sei es eine Leichenfeier, die hier vorbereitet werde.
Ein schlimmes Zeichen für jeden, der die harmlosen norddeutschen Seeleute und ihre Vorliebe für einen guten Spaß auch nur einigermaßen kennt.
Der Vogt mit seinem Angstgesicht lugte auch hier aus der Menge hervor; ein Schreiber vom Amt in Norden stand neben dem vortragenden Offizier, und nun wurde folgendes Schriftstück in französischer Sprache verlesen und von dem Dolmetscher übersetzt.
»Proklamation!
Seine Majestät der Kaiser geruhen allergnädigst zu befehlen wie folgt: Die Insel Norderney bekommt eine Besatzung, welche aus den Mitteln der Einwohner erhalten werden muß und wofür die Lieferungen demnächst ausgeschrieben werden sollen. Den Herren Offizieren werden Tafelgelder gezahlt, zu deren Beschaffung aus dem Vermögen der Eingesessenen eine Schätzung von Seiten des Herrn Obersten Jouffrin zu erfolgen hat. Wer sich dieser Zahlung entzieht, erhält sogleich doppelte oder vierfache Einquartierung; wer gegen die jetzt verlesenen Anordnungen irgendwie öffentlich auftritt oder rebelliert, wer gegen die Ausführung derselben irgendwelche Schritte unternimmt, wird mit der Strafe der Auspeitschung bedroht.«
Der Schreiber stockte. Bei den letzten entehrenden Worten überzog fahle Blässe sein Gesicht; des Vaterlandes bittere furchtbare Schmach schien ihn zu ersticken. —
Ringsumher war alles so todesstill, daß das Summen der Mücken in der Luft deutlich hörbar wurde.
Oberst Jouffrin hob den Kopf. »Vite! Vite!« (Schnell! Schnell!) rief er ungeduldig.
Der Schreiber fuhr mit der Hand über die Stirn. »Ferner wird verfügt«, las er weiter, »daß zum Zweck einer gänzlichen Vernichtung englischer Waren die öffentliche Verbrennung derselben ungesäumt stattzufinden hat. Wer derartige Gegenstände besitzt, soll sie hierher abliefern; wer ihr Vorhandensein verschweigt, sie versteckt oder in irgendeiner Weise hinterzieht, wird mit denselben Strafen belegt, welche auf schweren Diebstahl stehen. Die Ablieferung der Waren hat sogleich zu erfolgen.« Der Offizier schlug das Blatt zusammen; jetzt zum erstenmal sah der Amtsschreiber seinen Landsleuten offen ins Gesicht. »Swigt still, Lüüd!« sagt er in ermahnendem bittenden Tone, »swigt um Gott‘swillen still!«
Die lauernden Blicke des Obersten trafen ihn sofort. »Was war das?« rief er. »Was hatten Sie hinzuzufügen?« Der Schreiber blieb durchaus gelassen. »Ich forderte die Leute auf, jetzt ruhig auseinanderzugehen«, sagte er mit lauter Stimme. Dieser Ermahnung ward auch sogleich Folge gegeben, obwohl einzelne der erbitterten Bewohner die Hände rangen und sich wie Verzweifelte gebärdeten. Dieser handelte während des Sommers mit ein wenig Kaffee, Tee oder Gewürz, jener mit Kinderspielzeugen, der dritte mit Kurzwaren u. dergl. Jetzt sollte das alles verbrannt werden.
Verbrannt! Vernichtet! Die kleine Habe des Armen, all sein Gut, seine Hoffnung, das Brot seiner unschuldigen Kinder – die Franzosen zwangen ihn, es in das Feuer zu werfen, es der Zerstörung preiszugeben. In alle Häuser verteilten sich die Soldaten, überallhin drangen ihre spähenden Blicke, ihre dreisten Finger. Sie sahen in die Schränke und Schubladen, sie krochen in Böden und Ställe, sie untersuchten die Taschen der Bewohner.