Buch lesen: «Der Hund der Baskervilles»

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SIR ARTHUR CONAN DOYLE

Der Hund der Baskervilles

Der dritte Sherlock-Holmes-Roman

Leipziger Ausgabe

Vollständig neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von

Susanne Luber

neu gefasst und mit Anmerkungen versehen von

Gerd Haffmans

HAFFMANS VERLAG

BEI ZWEITAUSENDEINS

Die englische Originalausgabe The Hound of the Baskervilles erschien zuerst von 1901 bis 1902 im Strand Magazine, London, die Buchausgabe folgte 1902 bei Georges Newnes, London, und McClure, Phillips & Co., New York.

Die deutsche Erstausgabe erschien in der Übersetzung von Heinrich Darnoc im Verlag Richard Lutz, Stuttgart 1903.

Weiteres in der Editorischen Notitz am Schluss des Bandes.

1. Auflage, Winter 2021.

Alle Rechte vorbehalten. Alle Rechte an dieser Neuedition & Neuübersetzung vorbehalten.

Copyright © 2021 by Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Versand-Dienst GmbH, Bahnhofstr. 30, 82340 Feldafing.

Gestaltung & Produktion: Zweitausendeins.

Umschlagsillustration: Christiane Nebel.

ISBN 978-3-96318-137-5

Inhalt

1. Kapitel: Mr Sherlock Holmes

2. Kapitel: Der Fluch der Baskervilles

3. Kapitel: Das Problem

4. Kapitel: Sir Henry Baskerville

5. Kapitel: Drei gerissene Fäden

6. Kapitel: Baskerville Hall

7. Kapitel: Die Stapletons von Merripit House

8. Kapitel: Dr Watsons erster Bericht

9. Kapitel: Das Licht im Moor (Dr Watsons zweiter Bericht)

10. Kapitel: Auszug aus Dr Watsons Tagebuch

11. Kapitel: Der Mann auf dem Black Tor

12. Kapitel: Tod auf dem Moor

13. Kapitel: Die Netze werden ausgelegt

14. Kapitel: Der Hund der Baskervilles

15. Kapitel: Ein Rückblick

ANHANG

Anmerkungen

Editorische Notiz

Kompendium

Bemerkungen zu Sherlock Holmes von Joachim Kalka

Eine Einführung in den Kriminalroman

Who’s Who

Kleine ACD-Chronik

1. Kapitel

Mr Sherlock Holmes

Mr Sherlock Holmes, der am Morgen normalerweise spät aufstand, sofern er nicht, was durchaus vorkam, die ganze Nacht wach blieb, saß am Frühstückstisch. Ich stand auf dem Kaminvorleger und nahm den Stock zur Hand, den unser Besucher am Abend zuvor hier vergessen hatte. Es war ein schönes, kräftiges Stück Holz mit kugelförmigem Knauf, ein Stock von der Sorte, die man als Penang Lawyer bezeichnet. Direkt unterhalb des Knaufes saß ein fast zollbreites silbernes Band. »Für James Mortimer, M. R. C. S. von seinen Freunden im C. C. H.« war darauf eingraviert, ergänzt durch das Datum »1884«. Es war der typische Stock eines altväterlichen Hausarztes – solide, würdevoll und vertrauenerweckend.

»Nun, Watson, was machen Sie daraus?«

Holmes kehrte mir den Rücken zu, und ich hatte durch nichts auf meine Beschäftigung schließen lassen.

»Woher wussten Sie, was ich gerade tue? Ich glaube wirklich, Sie haben Augen am Hinterkopf.«

»Jedenfalls habe ich eine blankpolierte silberne Kaffeekanne vor mir stehen«, antwortete er. »Aber sagen Sie, Watson, was lesen Sie aus dem Stock unseres Besuchers? Da wir ihn unglücklicherweise verfehlt haben und sein Anliegen nicht kennen, ist dieses zufällige Fundstück von gewisser Bedeutung. Lassen Sie hören, wie Sie sich den Mann vorstellen, nach seinem Stock zu urteilen.«

»Ich meine«, antwortete ich, indem ich mich nach besten Kräften bemühte, die Methoden meines Gefährten anzuwenden, »Dr Mortimer dürfte ein älterer Arzt mit gut gehender Praxis sein und überdies ein angesehener Mann, wenn ihm seine Freunde so ein Zeichen ihrer Wertschätzung schenken.«

»Gut«, sagte Holmes. »Ausgezeichnet!«

»Ferner denke ich, die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass er ein Landarzt ist, der einen guten Teil seiner Krankenbesuche zu Fuß macht.«

»Weshalb?«

»Weil dieser Stock, der ursprünglich sehr edel war, jetzt so abgeschabt ist, dass ich ihn mir kaum in der Hand eines Londoner Arztes vorstellen kann. Die dicke eiserne Spitze ist stark abgenutzt, was zeigt, dass sein Besitzer tüchtige Märsche damit unternommen hat.«

»Sehr einleuchtend«, sagte Holmes.

»Und dann, die Inschrift ›Freunde im C. C. H.‹ Ich möchte annehmen, das ›H‹ bezieht sich auf ›Hetzjagd‹ und gemeint ist eine ländliche Jagdgesellschaft. Vielleicht hat er deren Mitgliedern ärztlichen Beistand geleistet, wofür sie sich mit diesem Präsent bedankt haben.«

»Wirklich, Watson, Sie übertreffen sich selbst«, sagte Holmes, indem er seinen Stuhl zurückschob und sich eine Zigarette anzündete. »Ich muss sagen, dass Sie in all den Geschichten, in denen Sie freundlicherweise von meinen bescheidenen Leistungen erzählen, Ihre eigenen Fähigkeiten immer unter den Scheffel gestellt haben. Sie mögen vielleicht kein brillanter Denker sein, aber Sie verhelfen anderen zur Erkenntnis. Es gibt solche Menschen, die selbst kein Genie besitzen, dafür aber die bemerkenswerte Gabe, es in anderen zum Leuchten zu bringen. Ich muss zugeben, mein Lieber, dass ich tief in Ihrer Schuld stehe.«

Nie zuvor hatte er so viel gesagt, und ich gebe zu, dass seine Worte mich tief berührten, denn seine gleichgültige Haltung gegenüber meiner Bewunderung für ihn und gegenüber meinen Bemühungen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Methoden zu lenken, hatten mich oft verletzt. Auch machte es mich nicht wenig stolz, dass ich mir seine Denkmethode gut genug angeeignet hatte, um sie in einer Art und Weise anzuwenden, die seinen Beifall fand. Er nahm mir den Stock aus der Hand und betrachtete ihn eine Weile mit bloßem Auge. Sein Interesse schien geweckt, denn er legte die Zigarette weg, trat mit dem Stock ans Fenster und nahm in noch genauer unter die Lupe.

»Interessant, wenn auch elementar«, sagte er, während er zu seiner Lieblingsecke des Sofas zurückkehrte. »Zweifellos gibt der Stock uns ein paar Anhaltspunkte und damit die Grundlage für mehrere Deduktionen.«

»Habe ich etwas übersehen?« fragte ich ein wenig selbstgefällig. »Ich hoffe doch, mir ist nichts Wichtiges entgangen?«

»Ich fürchte, mein lieber Watson, Ihre Schlussfolgerungen sind zum größten Teil falsch. Als ich sagte, Sie würden mich anregen, meinte ich damit, ehrlich gesagt, dass gerade Ihre Trugschlüsse mich gelegentlich auf die richtige Spur bringen. In diesem Fall liegen Sie aber nicht völlig falsch. Ganz bestimmt ist dieser Mann ein Landarzt. Und er ist viel zu Fuß unterwegs.«

»Dann hatte ich doch recht!«

»In diesem Punkt, ja.«

»Aber das ist doch alles.«

»Nein, nein, mein lieber Watson, das ist nicht alles – bei Weitem nicht alles. Ich würde es für wahrscheinlicher halten, dass ein Geschenk für einen Arzt eher von einem Hospital kommt denn von einer Jagdgesellschaft, und wenn vor dem ›H‹ die Buchstaben ›C. C.‹ stehen, kommt einem sofort ›Charing Cross Hospital‹ in den Sinn.«

»Da könnten Sie recht haben.«

»Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Und wenn wir das als Arbeitshypothese nehmen, haben wir eine neue Basis für die Rekonstruktion unseres unbekannten Besuchers.«

»Nun denn, nehmen wir an, ›C. C. H.‹ steht für ›Charing Cross Hospital‹ – welche weiteren Schlüsse können wir denn daraus ziehen?«

»Finden Sie nicht, dass diese sich geradezu aufdrängen? Sie kennen meine Methoden. Wenden Sie sie an!«

»Mir fällt lediglich der naheliegende Schluss ein, dass der Mann erst in London praktiziert hat, bevor er aufs Land gezogen ist.«

»Ich glaube, wir dürfen ruhig noch ein wenig weiter gehen. Betrachten Sie die Sache aus folgendem Blickwinkel: Bei welcher Gelegenheit wird so ein Geschenk normalerweise gemacht? Wann tun Freunde sich zusammen, um jemandem als Zeichen ihrer Wertschätzung ein Präsent zu verehren? Vermutlich zu dem Zeitpunkt, als Dr Mortimer seinen Dienst im Krankenhaus quittiert hat, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Wir wissen, dass der Stock ein Geschenk ist. Wir nehmen an, dass der Mann von einem Londoner Krankenhaus in eine Landarztpraxis gewechselt ist. Gehen wir in unseren Schlussfolgerungen zu weit, wenn wir annehmen, das Geschenk wurde ihm anlässlich seines Abschieds gemacht?«

»Das klingt jedenfalls sehr wahrscheinlich.«

»Sie müssen nun bedenken, dass er nicht zum festen Stab des Krankenhauses gehört haben kann, denn so eine Stellung kann nur ein Arzt bekleiden, der auch eine gut etablierte Londoner Praxis besitzt, und ein solcher würde nicht aufs Land ziehen. Was für ein Arzt war er also? Wenn er am Krankenhaus gearbeitet hat, dort aber nicht zum Stammpersonal gehörte, kann er nur ein Assistenzarzt gewesen sein – kaum mehr als ein Medizinstudent in der letzten Phase seiner Ausbildung. Vor fünf Jahren hat er seinen Dienst im Krankenhaus quittiert – das Datum steht auf dem Stock. So löst sich Ihr seriöser Hausarzt gesetzten Alters in Luft auf, mein lieber Watson, und vor unseren Augen erscheint ein junger Mann von kaum dreißig Jahren, liebenswürdig, ohne großen Ehrgeiz, zerstreut, sowie Besitzer eines Lieblingshundes, den ich grob beschreiben möchte als größer denn ein Terrier, aber kleiner als eine Dogge.«

Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich im Sofa zurücklehnte und kleine Rauchringe zur Zimmerdecke blies.

»Ihre letzten Behauptungen kann ich nicht überprüfen«, sagte ich, »aber es ist unschwer möglich, genauere Angaben bezüglich seines Alters und seiner beruflichen Karriere zu finden.«

Ich nahm von dem schmalen Bücherregal, auf dem meine medizinischen Werke stehen, das Ärzteverzeichnis herunter und schlug den Namen nach. Es gab mehrere Mortimers, aber nur einer passte auf unseren Besucher. Ich las den Eintrag laut vor:

»Mortimer, James, M. R. C. S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devon. Assistenzarzt am Charing Cross Hospital 1882 –1884. Gewinner des Jackson-Preises für vergleichende Pathologie für die Abhandlung ›Ist Krankheit ein Atavismus?‹ Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen Gesellschaft für Pathologie. Autor von ›Einige Formen des Atavismus‹ (Lancet, 1882) und ›Machen wir Fortschritte?‹ (Journal of Psychology, März 1883). Gemeindearzt für Grimpen, Thorsley und High Barrow.«

»Keine Erwähnung einer ländlichen Jagdgesellschaft, Watson«, sagte Holmes mit verschmitztem Lächeln, »aber ein Landarzt, wie Sie scharfsinnig geschlossen haben. Mir scheint, meine Schlussfolgerungen waren nicht unberechtigt. Was aber seine persönlichen Eigenschaften betrifft, so habe ich ihn, wenn ich mich nicht irre, liebenswürdig, ohne großen Ehrgeiz und zerstreut genannt. Nun, nach meiner Erfahrung bekommt auf dieser Welt nur ein liebenswürdiger Mensch ein Abschiedsgeschenk, nur ein wenig ehrgeiziger Mann tauscht eine Karriere in London gegen eine Existenz in der Provinz, und nur ein zerstreuter Mensch lässt seinen Stock zurück statt seiner Visitenkarte, nachdem er eine Stunde lang hier in unserem Wohnzimmer gewartet hat.«

»Aber der Hund?«

»Hat die Gewohnheit, seinem Herrn den Stock nachzutragen. Es ist ein schwerer Stock, deshalb packt der Hund ihn fest in der Mitte; die Spuren seiner Zähne sind deutlich zu sehen. Der Kiefer des Hundes ist, nach dem Abstand der Zahnabdrücke zu schließen, meiner Meinung nach zu breit für einen Terrier und nicht breit genug für eine Dogge. Vielleicht war es – ja natürlich, beim Jupiter! Es ist ein Spaniel mit gelocktem Fell!«

Er war aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen, während er sprach. Nun stand er im Erkerfenster, und seine Stimme klang so überzeugt, dass ich ihn überrascht ansah.

»Mein lieber Freund, wie können Sie sich dessen so sicher sein?«

»Aus dem höchst einfachen Grund, weil ich den Hund vor unserer Türschwelle sitzen sehe – und da klingelt auch schon sein Herr. Gehen Sie nicht, Watson, ich bitte Sie. Er ist ein Kollege von Ihnen, und Ihre Gegenwart könnte von Nutzen sein. Und jetzt, Watson, erleben wir den dramatischen, schicksalhaften Moment, da ein Schritt auf der Treppe ertönt und ein Mensch in unser Leben tritt, von dem wir nicht wissen, ob er Gutes oder Böses bringt. Was begehrt Dr James Mortimer, der Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Spezialisten für die Welt des Verbrechens? Herein!«

Die äußere Erscheinung unseres Besuchers war eine Überraschung, denn ich hatte die typische Figur eines praktizierenden Landarztes erwartet. Er war sehr groß und sehr hager, mit einer langen, an einen Vogelschnabel erinnernden Nase zwischen zwei scharfen, grauen, dicht zusammenstehenden Augen, die durch eine goldgefasste Brille funkelten. Er war seinem Berufsstand entsprechend, aber etwas nachlässig gekleidet, denn sein Gehrock wirkte ein wenig schmuddelig und seine Beinkleider waren etwas abgetragen. Trotz seiner Jugend war sein langer Rücken bereits gebeugt, so dass er beim Gehen den Kopf leicht vorgestreckt hielt, was den Eindruck wohlwollender Neugier erweckte. Als er eintrat, fiel sein Blick sogleich auf den Stock, den Holmes noch in der Hand hielt, und er trat mit einem freudigen Ausruf auf ihn zu.

»Da bin ich aber froh!« rief er. »Ich war nicht sicher, ob ich ihn hier oder bei der Schiffsagentur stehen gelassen hatte. Nicht um alles in der Welt möchte ich diesen Stock missen!«

»Ein Geschenk, wie ich sehe«, bemerkte Holmes.

»Ja, Sir.«

»Vom Charing Cross Hospital?«

»Von ein paar Freunden dort anlässlich meiner Hochzeit.«

»O je, wie dumm!« rief Holmes kopfschüttelnd.

Dr Mortimer blinzelte in gelindem Erstaunen durch seine Brillengläser.

»Wieso dumm?«

»Ach, nur weil Sie damit unsere netten kleinen Deduktionen zunichtegemacht haben. Anlässlich Ihrer Hochzeit, sagten Sie?«

»Ja, Sir. Ich habe geheiratet, deshalb musste ich meine Arbeit am Charing Cross aufgeben und damit auch alle Hoffnungen auf eine Konsultationspraxis. Ich war ja genötigt, einen eigenen Hausstand zu begründen.«

»Na also, dann lagen wir ja doch nicht so falsch«, meinte Holmes. »Aber nun, Dr James Mortimer …«

»Mister, Sir, ich bin kein Doktor – nur ein schlichtes Mitglied des Royal College of Surgeons, M. R. C. S.«

»Und offensichtlich ein Mann von scharfem Verstand.«

»Ein Amateur auf dem Gebiet der Wissenschaft, Mr Holmes, ein Dilettant, der an der Küste dieses weiten, unbekannten Ozeans Muscheln aufliest. Ich nehme doch an, dass ich mit Mr Sherlock Holmes spreche und nicht …?«

»Ganz recht, dies hier ist mein Freund Dr Watson.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Ich kenne Ihren Namen in Verbindung mit dem Ihres Freundes. Sie interessieren mich außerordentlich, Mr Holmes. Ich hatte weder einen so ausgeprägt dolichocephalen Schädel noch eine so starke Entwicklung des Supraorbitalschilds erwartet. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einmal mit dem Finger über Ihre Schädelnaht fahre? Ein Gipsmodell Ihres Schädels, Sir, wäre die Zierde jedes anthropologischen Museums, solange das Original nicht zur Verfügung steht. Jede Art von Übertreibung liegt mir fern, aber ich muss sagen, Ihren Schädel würde ich nur allzu gern besitzen.«

Sherlock Holmes lud unseren kuriosen Besucher mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.

»Sie sind auf Ihrem Gebiet ein ebenso großer Enthusiast wie ich auf meinem«, sagte er. »Ich sehe an Ihrem Zeigefinger, dass Sie Ihre Zigaretten selbst drehen. Bitte haben sie keine Hemmungen, sich eine anzuzünden.«

Mortimer holte Tabak und Zigarettenpapier aus seiner Rocktasche und rollte beides mit erstaunlicher Geschicklichkeit zusammen, wobei die Bewegungen seiner langen, agilen Finger an die rastlosen Fühler eines Insekts erinnerten.

Holmes schwieg, aber die raschen forschenden Blicke, die er auf unseren seltsamen Gast warf, verrieten mir, dass sein Interesse geweckt war.

»Ich nehme an, Sir«, sagte er schließlich, »dass es nicht lediglich die Absicht war, meinen Schädel in Augenschein zu nehmen, was mir die Ehre Ihres Besuches gestern Abend und am heutigen Vormittag beschert hat?«

»Nein, Sir, nein – obwohl ich mich glücklich schätze, diese Gelegenheit wahrnehmen zu dürfen. Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr Holmes, weil mir bewusst ist, dass ich kein sonderlich lebenspraktischer Mensch bin, und weil ich mich ganz unvermutet vor ein ungewöhnliches und sehr ernstes Problem gestellt sehe. Und da ich weiß, dass Sie in solchen Fällen der zweitbeste Experte in Europa sind –«

»So? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, der beste zu sein?« fragte Holmes mit einer gewissen Schärfe.

»Auf einen Mann von streng wissenschaftlicher Denkart wird Monsieur Bertillons Methode stets höchst überzeugend wirken.«

»Täten Sie dann nicht besser daran, ihn um Rat zu fragen?«

»Ich habe gesagt, Sir, für einen Mann von streng wissenschaftlicher Denkart. Aber als Mann der Praxis stehen Sie nach allgemeiner Anschauung unerreicht da. Ich will doch hoffen, Sir, dass ich nicht unabsichtlich …«

»Nicht der Rede wert«, antwortete Holmes. »Ich glaube, Dr Mortimer, es wäre gut, wenn Sie mir jetzt ohne weitere Umschweife klar und deutlich vortrügen, welcher Art das Problem ist, bei dem Sie meinen Beistand wünschen.«

2. Kapitel

Der Fluch der Baskervilles

Ich habe ein Manuskript mitgebracht«, sagte Dr James Mortimer.

»Das sah ich bereits, als Sie ins Zimmer traten«, antwortete Holmes.

»Es ist eine alte Handschrift.«

»Frühes achtzehntes Jahrhundert, vorausgesetzt, es ist keine Fälschung.«

»Wie kommen Sie darauf, Sir?«

»Ein Streifen davon war die ganze Zeit sichtbar, so dass ich die Schrift betrachten konnte, während wir miteinander sprachen. Das wäre ein armseliger Experte, der eine Handschrift nicht auf ein Jahrzehnt genau datieren kann. Vielleicht haben Sie meine kleine Monographie zu diesem Thema gelesen. Ich schätze das Alter des Dokuments auf etwa 1730.«

»Das genaue Datum ist 1742.« Dr Mortimer zog das Manuskript aus seiner Brusttasche. »Dieses Familiendokument ist mir von Sir Charles Baskerville anvertraut worden, dessen plötzlicher tragischer Tod vor rund drei Monaten in der Grafschaft Devonshire so großes Aufsehen erregt hat. Ich darf wohl sagen, dass ich nicht nur sein ärztlicher Berater war, sondern auch sein persönlicher Freund. Er war ein energischer Mann, Sir, scharfsinnig, praktisch veranlagt und ebenso wenig anfällig für irgendwelche phantastischen Hirngespinste wie ich selbst. Trotzdem hat er dieses Schriftstück sehr ernst genommen, und so war er innerlich auf jenen Tod vorbereitet, der ihn schließlich ereilt hat.«

Holmes nahm das Manuskript in die Hand und strich es auf seinem Knie glatt.

»Sie werden bemerken, Watson, dass die lange und die kurze Form des ›S‹ abwechselnd gebraucht werden. Dies ist einer der Indikatoren, die es mir ermöglichten, die Handschrift zu datieren.«

Ich blickte ihm über die Schulter und betrachtete das vergilbte Papier und die verblasste Schrift. Am Kopf des Blattes stand »Baskerville Hall« und am Schluss in großen krausen Ziffern »1742«.

»Es scheint eine Art Bericht zu sein.«

»Ja, es ist die Aufzeichnung einer Familienlegende, die im Geschlecht der Baskervilles überliefert ist.«

»Aber wenn ich Sie recht verstehe, ist Ihr Anliegen von einer mehr gegenwärtigen, praktischen Natur?«

»Nur allzu gegenwärtig, allerdings. Eine höchst reale und dringliche Angelegenheit, in der binnen vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung fallen muss. Aber dieses Dokument ist nicht lang, und es ist mit der Sache aufs Engste verbunden. Wenn Sie gestatten, lese ich es vor.«

Holmes lehnte sich im Sessel zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander und schloss resigniert die Augen. Dr Mortimer hielt das Manuskript ins Licht und las mit seiner hohen, etwas heiseren Stimme die nachfolgende Erzählung aus alten Zeiten:

»Um den Ursprung des Hundes der Baskervilles ranken sich mancherlei Legenden, aber da ich in direkter Linie von Hugo Baskerville abstamme und die Historie von meinem Vater gehört habe, dem sie wiederum von seinem Vater überliefert worden ist, schreibe ich sie hier nieder in der festen Überzeugung, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie ich es hier berichten werde. Ich will und wünsche, dass Ihr, meine Söhne, in dem festen Glauben leben sollt, dass jene höhere Gerechtigkeit, die uns für unsere Sünden straft, dieselben auch in überreicher Gnade vergeben kann und dass kein Fluch so mächtig ist, dass er nicht durch Gebet und tätige Reue überwunden werden kann. Möget Ihr aus dieser Geschichte lernen, nicht die Früchte der Vergangenheit zu fürchten, sondern in der Zukunft Umsicht walten zu lassen, auf dass jene verruchten Leidenschaften, die unserem Geschlecht so schweres Leid zugefügt haben, niemals wieder zu unserem Schaden entfesselt werden mögen.

Wisset also, dass in der Zeit der Großen Rebellion (deren Geschichte, aufgezeichnet von dem gelehrten Lord Clarendon, ich Euch recht angelegentlich zur Lektüre empfehle) der Herrensitz der Baskervilles im Besitz von Hugo desselben Namens war, und dieser war unleugbar ein wilder, lasterhafter und gottloser Mann. Dies hätten seine Nachbarn ihm wohl noch verzeihen mögen, sintemalen in den hiesigen Landstrichen Heilige niemals haben gedeihen wollen; aber ihm waren Wollust und Grausamkeit in solchem Maße zu eigen, dass sein Name im ganzen Westen Englands sprichwörtlich wurde. Nun begab es sich, dass dieser Hugo zur Tochter eines Freibauern, dessen Land an den Besitz der Baskervilles grenzte, in Liebe entbrannte (sofern man eine so schändliche Leidenschaft wie die seine mit einem so edlen Wort benennen darf). Aber die junge Maid, die züchtig und ehrbar war, verstand es, seine Nähe zu meiden, denn sie kannte und fürchtete seinen schlimmen Ruf. Es begab sich aber, dass jener Hugo an einem Sankt-Michaelis-Tag, als er wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder fort waren, zusammen mit fünf oder sechs seiner ruchlosen, frevelhaften Gesellen in das Haus des Freibauern eindrang und das Mädchen entführte. Sie schleppten die Maid zum Herrenhaus und schlossen sie in einem Zimmer im obersten Stockwerk ein, und darauf setzten Hugo und seine Kumpane sich zu einem üppigen Zechgelage, wie sie es allnächtlich zu tun pflegten. Dem armen Mädchen dort oben mochten wohl die Sinne geschwunden sein, als sie das Singen und Grölen und das entsetzliche Fluchen hörte, das von unten heraufscholl, denn man sagt, dass solche Worte, wie Hugo Baskerville sie im Weinrausch ausstieß, jedem, der sie in den Mund nahm, sogleich das Tor zur Hölle geöffnet hätten. Zuletzt tat sie in ihrer Verzweiflung etwas, was auch der tapferste und gewandteste Mann kaum gewagt hätte – sie benutzte das Efeugestrüpp, das die Südwand des Herrenhauses bedeckte (und das sie noch immer bedeckt), und kletterte daran hinunter, von ihrem Gefängnis oben unter dem Dach bis auf den festen Erdboden, und dann floh sie quer über das Moor zu ihrem Vaterhaus. Es lagen aber drei Wegstunden zwischen dem Herrenhaus und dem Hof ihres Vaters.

Kurz darauf verließ Hugo seine Gäste, um seiner Gefangenen Speise und Trank – und vielleicht auch Schlimmeres – zu bringen, da fand er den Käfig leer und den Vogel entflohen. Und nun schien es, als würde der Teufel in ihn fahren, denn er stürzte die Treppen hinunter in den Speisesaal und sprang mit einem wilden Satz auf den großen Tisch, dass die Flaschen und Platten nur so tanzten, und er schrie den Tafelnden zu, noch in selbiger Nacht wolle er sich mit Leib und Seele dem Bösen verschreiben, wenn er nur die Dirne bekommen könnte. Und während seine Saufkumpane noch voller Entsetzen auf den Rasenden starrten, rief einer von ihnen, der noch verruchter war als die anderen, oder vielleicht auch nur noch betrunkener, man solle die Hunde auf sie hetzen. Da rannte Hugo aus dem Haus und schrie seinen Stallknechten zu, sie sollten sein Pferd satteln und die Meute aus dem Zwinger lassen. Er warf den Hunden ein Halstuch des Mädchens hin und ließ sie die Fährte aufnehmen, und dann ging die wilde Jagd wie der Sturmwind über das vom Mondlicht erhellte Moor.

Die Zechkumpane standen eine Weile starr vor Verblüffung; sie vermochten kaum zu begreifen, was sich da in solcher Hast abgespielt hatte. Aber dann dämmerte in ihren umnebelten Hirnen eine Ahnung auf, was sich dort auf dem Moor wohl begeben würde. Alles geriet in Aufruhr, die einen riefen nach ihren Pistolen, die anderen nach ihren Pferden, und wieder andere nach mehr Wein. Endlich kehrte ein wenig Vernunft in ihre wirren Köpfe ein, und die ganze Gesellschaft, dreizehn an der Zahl, sprang auf ihre Pferde und nahm die Verfolgung auf. Der Mond schien hell vom Himmel, und Seite an Seite sprengten sie in die Richtung, die das Mädchen genommen haben musste, um ihr väterliches Haus zu erreichen.

Sie hatten eine oder zwei Meilen zurückgelegt, da begegneten sie einem Schafhirten, der nachts im Moor Wache hielt, und sie schrien ihm zu, ob er nicht die wilde Jagd gesehen hätte. Der Mann aber, so berichtet die Legende, war so von Angst geschüttelt, dass er kaum reden konnte. Endlich aber sagte er, er habe die Unglückliche tatsächlich gesehen, und auch die Meute auf ihrer Spur. ›Aber ich habe noch mehr gesehen‹, sagte er. ›Hugo Baskerville sprengte auf seiner schwarzen Stute an mir vorüber, und hinter ihm lief lautlos ein Hund – ein solcher Höllenhund, wie Gott ihn mir niemals auf die Fersen hetzen wolle!‹

Die bezechten Junker bedachten den Schäfer mit Flüchen und galoppierten weiter. Aber nach kurzer Zeit überlief es sie kalt, denn vom Moor her hörten sie ein galoppierendes Pferd näher kommen, und die schwarze Stute raste, mit weißem Schaum bedeckt, an ihnen vorüber – mit schleifendem Zügel und leerem Sattel. Da drängten die Zechbrüder sich eng aneinander, denn Furcht überkam sie. Aber sie ritten weiter, obwohl jeder Einzelne von ihnen, wäre er allein gewesen, nur allzu gern sein Pferd herumgeworfen hätte. Sie trabten langsam voran, und schließlich fanden sie die Meute. Die Hunde, die doch bekannt waren für ihre edle Rasse und ihre Tapferkeit, drängten sich am Rande eines Tales, eines goyal, wie wir es hier in Exmoor nennen, winselnd aneinander. Einige schlichen sich seitlich fort, andere starrten mit gesträubten Haaren und stieren Augen in das Tal hinein, das vor ihnen lag.

Die Reiter hatten angehalten, und die Herren waren, wie Ihr Euch denken könnt, jetzt viel nüchterner als bei ihrem Aufbruch. Die meisten wollten um keinen Preis weiterreiten, nur drei von ihnen, die Kühnsten oder die Betrunkensten, wagten sich in das Tal hinein. Dieses öffnete sich zu einer breiten Senke, in der zwei von jenen Steinriesen standen und auch heute noch stehen, die in uralten Zeiten von einem längst vergessenen Volk errichtet worden sind. Das Mondlicht fiel hell auf den grasigen Talgrund, und in der Mitte lag das unglückliche Mädchen, das dort vor Angst und Erschöpfung tot hingesunken war. Doch es war nicht der Anblick ihres Leichnams, und auch nicht der Anblick des toten Hugo Baskerville, der daneben lag, was den drei draufgängerischen Wüstlingen die Haare zu Berge stehen ließ, sondern es war das grausige Wesen, das über Hugos Leichnam stand und ihm die Kehle zerfleischte – eine riesige schwarze Bestie in Gestalt eines Hundes, aber viel größer als jeder Hund, den je eines Sterblichen Auge erblickt hatte. Vor ihren entsetzten Augen riss das Tier dem Hugo Baskerville die Gurgel heraus, und als es seine glühenden Augen und triefenden Lefzen den Reitern zuwandte, kreischten sie vor Angst laut auf und flohen schreiend über das Moor, als gälte es ihr Leben. Man sagt, einer von ihnen sei noch in derselben Nacht vor Entsetzen ob dieses Anblicks gestorben, und die beiden anderen blieben für den Rest ihrer Tage gebrochene Männer.

Dies, meine Söhne, ist die Geschichte vom Ursprung des Hundes, der der Legende nach unsere Familie seither so schwer heimgesucht hat. Ich habe sie hier niedergeschrieben im Wissen, dass Bekanntes uns weniger Grauen einflößt als dunkle Gerüchte oder Andeutungen. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass einige unserer Vorfahren ein unseliges Ende gefunden haben und eines plötzlichen, gewaltsamen oder mysteriösen Todes gestorben sind. Dennoch wollen wir auf die unendliche Güte der Vorsehung vertrauen, welche Unschuldige nicht auf ewig und nicht über das dritte oder vierte Glied hinaus bestraft, wie es in der Heiligen Schrift steht. Ich empfehle Euch der Gnade der Vorsehung, meine Söhne, aber ich gebe Euch auch den Rat, Vorsicht walten zu lassen und dem Moor fern zu bleiben in jenen finsteren Stunden, da die Macht des Bösen dort ihr Unwesen treibt.

(Dies schrieb Hugo Baskerville für seine Söhne Rodger und John, mit der Mahnung, ihrer Schwester Elisabeth nichts davon mitzuteilen.)«

Dr Mortimer beendete die Lesung dieses außerordentlichen Berichts, schob seine Brille auf die Stirn und blickte erwartungsvoll zu Mr Sherlock Holmes hinüber. Der gähnte und warf seinen Zigarettenstummel ins Feuer.

»Nun?« fragte er.

»Finden Sie das nicht faszinierend?«

»Vielleicht für Märchensammler.«

Dr Mortimer zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Tasche.

»Dann, Mr Holmes, kann ich jetzt mit etwas Aktuellerem dienen. Dies ist der Devon Country Chronicle vom 14. Juni mit einem kurzen Bericht über die Umstände des Todes von Sir Charles Baskerville, welcher wenige Tage vor diesem Datum erfolgt war.«

Mein Freund beugte sich ein wenig vor, und sein Gesichtsausdruck wurde aufmerksamer. Unser Gast schob seine Brille zurecht und begann:

»Der kürzlich erfolgte plötzliche Tod von Sir Charles Baskerville, welcher bei der kommenden Wahl als aussichtsreicher Kandidat der Liberalen Partei für Mittel-Devon galt, hat einen Schatten über unsere Grafschaft geworfen. Obwohl Sir Charles erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in Baskerville Hall gelebt hat, gewann er durch seine Liebenswürdigkeit und seine außerordentliche Freigebigkeit die Zuneigung und Achtung aller, die mit ihm in Berührung kamen. In dieser Welt der nouveau riches ist es erquickend, einem Spross aus altem, unverschuldet in böse Zeitläufte geratenen Landadel zu begegnen, der aus eigener Kraft ein Vermögen erworben hat und es nutzt, um dem verblichenen Glanz seines Geschlechtes wieder zu neuer Größe zu verhelfen. Wie allgemein bekannt, hat Sir Charles mit Spekulationen in Südafrika ein großes Vermögen erworben. Anders als viele andere, die kein Ende finden können, bis das Glücksrad sich gegen sie kehrt, war er weise genug, seine Gewinne zu Geld zu machen und damit nach England zurückzukehren. Vor zwei Jahren nahm er seinen Wohnsitz in Baskerville Hall. Seine weitreichenden Wiederaufbau- und Modernisierungspläne waren das allgemeine Gespräch in der Gegend, bis sein plötzlicher Tod dem einen Schlussstrich setzte. Da er selbst kinderlos war, war es sein ausdrücklicher Wunsch, die ganze Region noch zu seinen Lebzeiten von seinem Wohlstand profitieren zu lassen, und so mancher dürfte auch persönliche Gründe haben, das vorzeitige Ableben des Gutsherrn zu beklagen. Seine großzügigen Spenden an Wohltätigkeitseinrichtungen sowohl im engeren Umkreis wie auch in der ganzen Grafschaft waren nicht selten Thema dieser Spalten.

€6,99

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Umfang:
330 S. 1 Illustration
ISBN:
9783963181375
Übersetzer:
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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