Das Tal der Angst

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Der Dorfpolizist war unsicher und verwirrt angesichts der großen Verantwortung, die plötzlich auf seinen Schultern lag.

»Wir dürfen nichts anrühren, bis meine Vorgesetzten hier sind«, sagte er heiser, während er voller Grauen auf den entsetzlich verstümmelten Kopf des Toten starrte.

»Bis jetzt ist nichts angerührt worden«, sagte Cecil Barker. »Dafür stehe ich ein. Alles ist haargenau so, wie ich es vorgefunden habe.«

»Um welche Uhrzeit war das?« Der Sergeant hatte sein Notizbuch gezückt.

»Halb zwölf. Ich war noch angezogen und saß in meinem Schlafzimmer vor dem Kamin, als ich einen Schuss hörte. Er war nicht sehr laut, eher gedämpft. Ich rannte die Treppe hinunter. Ich glaube, es hat keine dreißig Sekunden gedauert, bis ich hier war.«

»Stand die Tür offen?«

»Ja, sie war offen. Der arme Douglas lag so da, wie Sie ihn jetzt sehen. Sein Schlafzimmerleuchter mit einer brennenden Kerze stand auf dem Tisch. Ich war es, der die Tischlampe angezündet hat.«

»Haben Sie niemanden gesehen?«

»Nein. Ich habe gehört, wie Mrs Douglas ebenfalls die Treppe herunterkam, und bin ihr entgegengelaufen, um ihr diesen schrecklichen Anblick zu ersparen. Dann kam Mrs Allen dazu, die Haushälterin, und führte sie weg. Auch Ames war unterdessen gekommen, und wir sind zusammen wieder in das Zimmer gegangen.«

»Ich habe gehört, dass die Zugbrücke die ganze Nacht über hochgezogen bleibt.«

»Ja, sie war hochgezogen. Ich habe sie heruntergelassen.«

»Aber wie hätte der Mörder dann entkommen können? Das ist doch ganz unmöglich. Mr Douglas muss sich selbst erschossen haben.«

»Das war auch unser erster Gedanke. Aber schauen Sie!« Barker zog den Vorhang beiseite. Das große Fenster mit den Bleiglasscheiben stand weit offen. »Sehen Sie sich das hier an!« Er hielt die Lampe tiefer und wies auf einen Blutfleck auf der niedrigen Fensterbank – den Abdruck einer Fußsohle. »Das hat jemand hinterlassen, der hier durch das Fenster gestiegen ist.«

»Sie meinen, jemand ist durch den Wassergraben gewatet?«

»Genau.«

»Aber wenn Sie innerhalb einer halben Minute nach der Tat hier im Zimmer waren, muss der Mörder zu dieser Zeit im Graben gewesen sein.«

»Ganz bestimmt. Himmel und Hölle! Ich wünschte, ich wäre zum Fenster gerannt. Aber es war ja durch den Vorhang verdeckt, wie Sie sehen, da ist mir das nicht in den Sinn gekommen. Dann habe ich Mrs Douglas’ Schritte gehört, und ich musste verhindern, dass sie hier hereinkam. Es wäre zu grauenhaft für sie gewesen.«

»Grauenhaft ist nicht zu viel gesagt«, bemerkte der Doktor mit einem Blick auf den zerschmetterten Kopf und die grässlichen Spuren ringsum. »Seit dem Eisenbahnunglück in Birlstone damals habe ich keine so fürchterlichen Verletzungen gesehen.«

»Aber sagen Sie mir bitte«, bemerkte der Polizeibeamte, dessen ländlich-behäbiger Verstand immer noch mit dem offenen Fenster beschäftigt war, »es ist ja schön und gut, was Sie da sagen, dass jemand durch den Graben waten und auf diese Art entkommen kann, aber ich möchte doch gern wissen, wie er überhaupt ins Haus gelangt ist, wenn die Brücke hochgezogen war?«

»Ah, das ist allerdings die Frage«, sagte Barker.

»Um welche Zeit wurde sie hochgezogen?«

»Kurz vor sechs Uhr«, antwortete der Butler Ames.

»Ich habe gehört«, sagte der Sergeant, »dass dies gewöhnlich bei Sonnenuntergang geschieht. Um diese Jahreszeit ist das eher gegen halb fünf als um sechs Uhr.«

»Mrs Douglas hatte Gäste zum Tee«, antwortete Ames. »Ich konnte die Brücke erst hochziehen, nachdem sie gegangen waren. Das habe ich dann auch eigenhändig getan.«

»Dann läuft es also auf Folgendes hinaus«, sagte der Sergeant. »Wenn der Mörder von draußen gekommen ist – ich sage ausdrücklich wenn –, dann muss er vor sechs Uhr abends über die Brücke gekommen sein und sich hier versteckt haben, bis Mr Douglas nach elf Uhr nachts hereinkam.«

»Genauso ist es. Mr Douglas machte jeden Abend vor dem Zubettgehen noch eine Runde durch das Haus, um nachzusehen, ob alle Lichter gelöscht sind. Das war es, was ihn hierhergeführt hat. Der Mann hat hier gelauert und ihn niedergeschossen. Dann ist er durch das Fenster geflohen, hat seine Waffe aber zurückgelassen. Nur so kann ich es mir erklären – alles andere würde nicht zu den vorliegenden Tatsachen passen.«

Der Sergeant hob eine Karte auf, die neben dem Toten auf dem Fußboden lag. Sie trug einen mit Tinte gekritzelten Schriftzug: die Buchstaben V. V. und darunter die Zahl 341.

»Was ist das?«, fragte er und hielt das Kärtchen hoch.

Barker betrachtete es neugierig.

»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte er. »Das muss der Mörder hinterlassen haben.«

»V. V. 341 – was soll das bedeuten?« Der Sergeant drehte das Kärtchen in seinen dicken Fingern. »Was bedeutet V. V.? Vermutlich die Initialen von jemandem. Was haben Sie denn da, Dr Wood?«

Es war ein großer Hammer, der auf dem Teppich vor dem Kamin gelegen hatte – ein solides, schweres Werkzeug. Cecil Barker zeigte auf eine Schachtel Messingnägel, die auf dem Kaminsims stand.

»Mr Douglas hat gestern Bilder umgehängt«, sagte er. »Ich habe ihn gesehen, wie er auf dem Stuhl dort stand und das große Bild befestigt hat. Daher der Hammer.«

»Wir legen ihn am besten auf den Teppich zurück, wo wir ihn gefunden haben«, sagte der Sergeant und kratzte sich ratlos am Kopf. »Um dieser Sache auf den Grund zu gehen, braucht es die besten Köpfe, die wir bei der Polizei haben. Ich glaube, das ist ein Fall für London.« Er nahm die Lampe vom Tisch und schritt damit langsam das Zimmer ab. »Holla!« rief er plötzlich laut und zog den Fenstervorhang zur Seite. »Wann sind diese Vorhänge zugezogen worden?«

»Als die Lampen angezündet wurden«, antwortete Ames. »Das dürfte kurz nach vier Uhr gewesen sein.«

»Hier hat sich jemand versteckt, eindeutig!« Er bückte sich mit der Lampe, und in ihrem Licht wurden in einer Ecke schlammige Stiefelabdrücke sichtbar. »Ich würde sagen, das bestätigt Ihre Theorie, Mr Barker. Sieht ganz so aus, als ob der Mann nach vier Uhr ins Haus gelangt ist, als die Vorhänge bereits zugezogen waren, aber vor sechs Uhr, als die Zugbrücke hochgezogen wurde. Er ist in dieses Zimmer geschlüpft, weil es am nächsten zum Eingangstor liegt. Ein besseres Versteck fand er nicht, da hat er sich hinter diesem Vorhang versteckt. Das scheint alles ziemlich klar zu sein. Es ist gut möglich, dass er eigentlich auf Diebstahl aus war und dass Mr Douglas ihn zufällig ertappt hat. Da hat er ihn erschossen und ist geflohen.«

»So sehe ich es auch«, sagte Barker. »Aber meinen Sie nicht, dass wir kostbare Zeit vergeuden? Sollten wir nicht lieber hinausgehen und die Umgebung absuchen, bevor der Kerl endgültig entkommt?«

Der Sergeant überlegte eine Weile. »Vor sechs Uhr früh geht kein Zug mehr – mit der Eisenbahn kann er also nicht entkommen. Und wenn er bis zum Bauch pitschnass über die Landstraße marschiert, wird er bestimmt von ein paar Leuten bemerkt. Ich kann mich nicht vom Tatort wegrühren, bevor ich abgelöst werde. Und ich glaube, Sie sollten auch hierbleiben, bis wir die Dinge etwas klarer sehen.«

Der Doktor hatte die Lampe ergriffen und examinierte den Leichnam sorgfältig.

»Was ist das für ein Zeichen?« fragte er. »Könnte es etwas mit dem Mord zu tun haben?«

Der rechte Arm des Toten ragte, bis zum Ellbogen entblößt, aus dem Hausmantel hervor. Etwa auf halber Höhe des Unterarms war ein sonderbares braunes Mal zu sehen, das sich deutlich von der fahlen Haut abhob: ein Dreieck in einem Kreis.

»Das ist keine Tätowierung«, sagte der Doktor, scharf durch seine Brille spähend. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist ein Brandzeichen, wie man es beim Vieh macht. Was hat das nun wieder zu bedeuten?«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, was es bedeutet«, sagte Cecil Barker, »aber gesehen habe ich dieses Zeichen an Douglas häufig in den letzten zehn Jahren.«

»Ich auch«, fiel der Butler ein. »Mir ist dieses Zeichen auch aufgefallen, wenn der gnädige Herr die Hemdärmel hochgekrempelt hat. Ich habe mich oft gefragt, was es wohl bedeutet.«

»Dann kann es mit dem Verbrechen nichts zu tun haben«, meinte der Sergeant. »Aber komisch ist es trotzdem. Alles an diesem Fall ist komisch. – Was ist denn jetzt wieder los?«

Der Butler hatte einen erstaunten Ruf ausgestoßen und wies auf die ausgestreckte Hand des Toten.

»Sie haben seinen Ehering gestohlen!« stieß er hervor.

»Was?«

»Ja, wirklich! Der gnädige Herr trug immer seinen schlichten goldenen Trauring am kleinen Finger der linken Hand. Diesen Ring dort mit dem kleinen Nugget trug er darüber und den mit der gewundenen Schlange am Mittelfinger. Der Nugget-Ring ist da, und der Schlangenring auch, aber der Ehering fehlt.«

»Stimmt«, sagte Barker.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte der Sergeant, »dass er den Ehering unter dem anderen trug?«

»Ja, immer.«

»Dann muss der Mörder – oder wer auch immer – erst den Ring abgezogen haben, den Sie ›Nugget-Ring‹ nennen, und dann den Ehering, und dann den Nugget-Ring wieder aufgesteckt haben.«

»So ist es.«

Der brave Dorfpolizist schüttelte den Kopf. »Mir scheint, je schneller wir London hinzuziehen, desto besser«, sagte er. »White Mason ist ein kluger Kopf. Kein Fall, den wir hier in der Gegend hatten, war jemals zu verzwickt für White Mason. Es dauert nicht mehr lange, dann ist er hier und hilft uns weiter. Trotzdem glaube ich, wir müssen uns an London wenden, bevor wir mit der Sache durch sind. Egal wie, ich geb jedenfalls gerne zu, dass das hier ’ne Nummer zu groß ist für jemanden wie mich.«

4. KAPITEL

Dunkelheit

 

Um drei Uhr morgens traf, dem dringenden Ruf von Sergeant Wilson aus Birlstone folgend, ein leichter, von einem schweißnassen Traber gezogener Einspänner vom Hauptquartier her am Schauplatz ein, und mit ihm der oberste Kriminalbeamte der Grafschaft Sussex. Mit dem ersten Frühzug um 5.40 Uhr schickte er eine Nachricht an Scotland Yard, und um 12 Uhr mittags stand er auf dem Bahnhof von Birlstone, um uns in Empfang zu nehmen. Mr White Mason war ein ruhiger, gemütlich aussehender Mann in einem etwas zu weiten Tweedanzug, mit glattrasiertem, rötlichem Gesicht, korpulenter Statur und mächtigen, mit Gamaschen bekleideten O-Beinen. Er wirkte eher wie ein kleiner Farmer oder ein pensionierter Wildhüter oder dergleichen, aber keineswegs wie einer der fähigsten Kriminalpolizisten, die die Grafschaft aufzuweisen hatte.

»Das ist ja wirklich ein Riesending, Mr MacDonald«, wiederholte er mehrfach. »Die Zeitungsmenschen werden sich drauf stürzen wie Fliegen auf ein Stück Aas, sobald sie davon erfahren. Ich hoffe nur, wir sind mit unserer Arbeit fertig, bevor sie ihre Nasen hier reinstecken und alle Spuren zertrampeln. So einen Fall hatten wir hier noch nie, so weit ich weiß. Ich müsste mich sehr irren, wenn es da nicht einige Punkte gäbe, die Ihre Spezialität sind, Mr Holmes. Und auch Ihre, Dr Watson, denn die Herren Ärzte werden ein gewichtiges Wort mitzureden haben, bevor alles geklärt ist. Ich habe Sie übrigens im Westville Arms untergebracht. Ein anderes Gasthaus gibt es hier nicht, aber ich habe gehört, es ist sauber und ordentlich. Dieser Mann kümmert sich um Ihr Gepäck. Hier entlang, Gentlemen, wenn ich bitten darf.«

Ein kompetenter und umgänglicher Mann war er, dieser Inspektor aus Sussex. Zehn Minuten später hatten wir unser Quartier bezogen, und weitere zehn Minuten später saßen wir im Privatsalon des Gasthauses beisammen und bekamen eine knappe Schilderung der Ereignisse serviert, so wie ich sie im vorigen Kapitel in groben Zügen beschrieben habe. MacDonald machte sich gelegentlich eine Notiz, während Holmes ruhig und konzentriert dasaß. Sein Gesicht drückte Faszination und andächtige Bewunderung aus, wie das eines Botanikers angesichts einer seltenen und kostbaren Blüte.

»Interessant!« sagte er, als der Bericht zu Ende war. »Höchst interessant! Ich kann mich kaum an einen eigentümlicheren Fall erinnern.«

»Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden, Mr Holmes«, sagte White Mason erfreut. »Wir sind hier in Sussex ganz auf der Höhe der Zeit. Jetzt habe ich Ihnen erzählt, wie ich die Sache vorgefunden habe, als ich sie zwischen drei und vier Uhr morgens von Sergeant Wilson übernommen habe. Donnerwetter, was hab ich die alte Mähre laufen lassen! Und dann hat sich herausgestellt, dass diese Eile gar nicht nötig war, denn es gab nichts, was ich sofort hätte tun müssen. Sergeant Wilson hatte alle Fakten beisammen. Ich bin sie durchgegangen, habe alles überdacht und vielleicht noch um ein paar Kleinigkeiten ergänzt.«

»Und die wären?« fragte Holmes gespannt.

»Zuerst habe ich mir den Hammer genau angesehen, zusammen mit Dr Wood. Aber wir haben nicht den geringsten Hinweis gefunden, dass er als Waffe benutzt worden ist. Ich hatte gehofft, dass Mr Douglas, falls er sich mit dem Hammer verteidigt hat, dem Mörder vielleicht noch eins damit verpasst hat, bevor er ihn auf den Teppich fallen ließ. Aber da ist keine Blutspur dran.«

»Das beweist natürlich gar nichts«, warf Inspektor MacDonald ein. »Es gibt jede Menge Hammer-Morde ohne Spuren an dem Ding.«

»Allerdings, es beweist nicht, dass der Hammer nicht benutzt worden ist. Aber es hätten ja Spuren dran sein können, und die wären ein wichtiges Indiz gewesen. Doch es gibt keine. Dann habe ich mir die Flinte vorgenommen. Die Patronen enthielten Rehposten und, worauf schon Sergeant Wilson hingewiesen hat, die Abzüge sind mit Draht zusammengebunden, sodass beide Läufe gleichzeitig abgefeuert werden, wenn der hintere Abzug betätigt wird. Wer auch immer das bewerkstelligt hat – er wollte sichergehen und seinem Opfer keine Chance lassen. Die abgesägte Flinte ist nur etwa sechzig Zentimeter lang; man kann sie problemlos unter dem Mantel verstecken. Der Name des Büchsenmachers ist leider nicht zu entziffern. Nur die Buchstaben P E N sind zwischen den beiden Läufen zu erkennen, der Rest ist abgesägt.«

»Ein großes P mit einem Schnörkel darüber, und das E und N etwas kleiner?« fragte Holmes.

»Ja, genau so.«

»Pennsylvania Small Arms Company – eine bekannte amerikanische Firma«, sagte Holmes.

White Mason starrte meinen Freund an wie ein bescheidener Dorfarzt einen Spezialisten aus der Harley Street, der mit einem einzigen Wort Schwierigkeiten löst, die Ersterem unüberwindlich erscheinen.

»Das ist äußerst hilfreich, Mr Holmes. Zweifellos haben Sie Recht. Großartig – ganz großartig! Sagen Sie, haben Sie die Namen aller Waffenfabrikanten der Welt im Kopf?«

Holmes tat das Thema mit einer Handbewegung ab.

»Auf alle Fälle ist das ein amerikanisches Gewehr«, fuhr White Mason fort. »Ich glaube gelesen zu haben, dass abgesägte Schrotflinten in einigen Teilen Amerikas recht beliebt sind. Darauf war ich auch schon gekommen, unabhängig vom Namen auf dem Lauf. Wir können also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der Mann, der ins Haus eingedrungen ist und den Hausherrn ermordet hat, Amerikaner ist.«

MacDonald schüttelte den Kopf. »Mein lieber Mann, jetzt gehen Ihnen aber die Pferde durch«, sagte er. »Wir haben doch noch gar keinen Beweis, dass überhaupt jemand ins Haus eingedrungen ist.«

»Das offene Fenster, die Blutspur auf der Fensterbank, das rätselhafte Kärtchen, die Stiefelabdrücke in der Ecke, die Schrotflinte.«

»Das ist nichts, was nicht auch hätte arrangiert werden können. Mr Douglas war Amerikaner, oder jedenfalls hat er lange in Amerika gelebt. Ebenso Mr Barker. Man braucht sich keinen Fremden aus Amerika auszudenken, um Amerikanisches im Haus zu erklären.«

»Ames, der Butler –«

»Was ist eigentlich mit ihm? Ist er vertrauenswürdig?«

»Er war zehn Jahre Butler bei Sir Charles Chandos – die Rechtschaffenheit in Person. Bei Douglas war er bedienstet, seit dieser Birlstone Manor House übernommen hat, also seit fünf Jahren. Er sagt, er hätte im Haus niemals so eine Flinte gesehen.«

»Sie sollte ja auch nicht gesehen werden. Eben deshalb wurden die Läufe abgesägt. Sie passt in jede größere Schachtel. Wie kann er da beschwören, dass keine solche Waffe im Haus war?«

»Na gut, jedenfalls hat er keine gesehen.«

MacDonald schüttelte seinen obstinaten schottischen Schädel. »Ich bin keineswegs sicher, dass überhaupt jemand von außen ins Haus eingedrungen ist«, sagte er. »Denken Sie doch mal nach!« Sein Aberdeen-Akzent trat stärker hervor, während er seine Argumente darlegte. »Überlegen Sie doch mal, wohin das führt, wenn man davon ausgeht, dass jemand von außerhalb diese Flinte ins Haus geschmuggelt und all diese merkwürdigen Sachen angestellt hat. O, Mann – das ist geradezu unmöglich! Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Ich möchte Sie fragen, Mr Holmes, was ist Ihre Meinung, nach allem, was wir bisher wissen?«

»Bitte legen Sie uns erst Ihre Sicht des Falles dar, Mr Mac«, sagte Holmes so amtlich wie möglich.

»Dieser Mann – vorausgesetzt, es gibt ihn überhaupt – ist kein simpler Einbrecher. Die Sache mit dem Ring und das komische Kärtchen deuten auf persönliche Motive hin. So weit, so gut. Denken wir uns einen Mann, der sich ins Haus schleicht mit dem Vorsatz, jemanden umzubringen. Ihm ist klar, wenn ihm überhaupt etwas klar ist, dass es schwierig sein wird, ungesehen zu entkommen, denn das Haus ist ringsum von Wasser umgeben. Was für eine Waffe würde er wählen? Ich würde sagen, die leiseste, die es gibt. Nur dann konnte er hoffen, nach getaner Tat aus dem Fenster zu schlüpfen, durch den Graben zu waten und sich in aller Ruhe davonzumachen. Das wäre einleuchtend. Aber ist es einleuchtend, dass er so verrückt ist, die lauteste Waffe mitzubringen, die er finden kann, obwohl er genau weiß, dass er damit die Hausbewohner alarmiert und alle zusammenlaufen würden, um zu sehen, was los ist, und dass es hundert zu eins steht, dass jemand ihn sieht, bevor er durch den Wassergraben durch ist? Halten Sie das für glaubhaft, Mr Holmes?«

»Sie haben Ihre Sichtweise überzeugend dargelegt«, antwortete mein Freund nachdenklich. »Ganz bestimmt besteht da großer Erklärungsbedarf. Ich möchte Sie fragen, Mr White Mason: Haben Sie die Außenseite des Grabens unverzüglich auf Spuren untersucht, die zeigen, dass dort jemand aus dem Wasser gestiegen ist?«

»Es gibt keine Spuren, Mr Holmes. Die Einfassung ist aus Stein, da kann man keine Spuren erwarten.«

»Keine Fußabdrücke oder sonstigen Hinweise?«

»Gar keine.«

»Aha! Spricht irgendetwas dagegen, Mr White Mason, wenn wir jetzt zum Herrenhaus gehen? Es könnte trotz allem noch die eine oder andere winzige Spur vorhanden sein, die von Bedeutung ist.«

»Das wollte ich gerade vorschlagen, Mr Holmes, aber ich hielt es für wichtig, Sie erst mit den Fakten vertraut zu machen. Ich darf doch davon ausgehen, wenn Sie irgendetwas finden sollten …« White Mason blickte seinen Amateurkollegen skeptisch fragend an.

»Ich habe mit Mr Holmes schon früher zusammengearbeitet«, beantwortete Inspektor MacDonald die unausgesprochene Frage. »Er hält sich an die Spielregeln.«

»Zumindest an meine Vorstellung der Spielregeln«, sagte Holmes lächelnd. »Wenn ich einen Fall untersuche, geschieht es mit dem Ziel, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen und die regulären Polizeikräfte zu unterstützen. Wenn ich getrennt von der Polizei gearbeitet habe, dann nur, weil sie sich als Erste von mir abgewandt hat. Es war nie meine Absicht, auf ihre Kosten Ruhm und Ehre einzuheimsen. Aber ich reklamiere für mich das Recht, auf meine eigene Art und Weise zu arbeiten, Mr White Mason, und meine Erkenntnisse zu einer mir gelegenen Zeit zu präsentieren – und dann vollständig und nicht auf Raten.«

»Wir freuen uns natürlich, dass Sie hier sind, Mr Holmes, und ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihnen alle Informationen zur Verfügung stellen«, sagte White Mason konziliant. »Kommen Sie mit, Dr Watson, denn später einmal möchten wir schließlich alle in einem Ihrer Bücher auftauchen.«

Wir gingen die hübsche, zu beiden Seiten von gestutzten Ulmen gesäumte Dorfstraße hinunter. Sie mündete in einen Torweg zwischen zwei uralten, verwitterten und von Flechten überzogenen Steinpfeilern, die von einem formlosen Etwas gekrönt waren, das früher einmal der springende Löwe der Capus von Birlstone gewesen war. Nun folgten wir der kurzen, geschwungenen Zufahrt durch eine mit alten Eichen bestandene Rasenfläche, wie man sie nur im ländlichen England findet, und dann tauchte hinter einer Wendung unvermittelt das langgestreckte, niedrige Haus aus der Zeit König James’ des Ersten mit seinen dunkelbraunen Backsteinmauern vor uns auf, umgeben von einem altmodischen Garten mit beschnittenen Eibenhecken. Als wir uns dem Haus näherten, sahen wir die hölzerne Zugbrücke und den breiten Burggraben, dessen stiller Wasserspiegel unter der kalten Wintersonne hell wie Quecksilber glänzte. Drei Jahrhunderte waren an dem alten Herrenhaus vorübergezogen – Jahrhunderte, die Geburten und Heimgänge, ländliche Tänze und Jagdgesellschaften gesehen hatten. Es schien seltsam, dass jetzt, in seinen alten Tagen, die dunklen Schatten eines Verbrechens auf diese altehrwürdigen Mauern fallen sollten. Und doch schienen die steilen Dächer und die malerisch vorkragenden Giebel einen passenden Rahmen für düstere Geschehnisse abzugeben. Ich betrachtete die tiefen Fenster und die langgestreckte, dunkle, wasserumspülte Fassade, und es schien mir, als könne es kaum eine passendere Kulisse für eine solche Tragödie geben.

»Dies ist das fragliche Fenster, unmittelbar rechts von der Zugbrücke«, sagte White Mason. »Es steht offen, so wie es letzte Nacht vorgefunden wurde.«

»Ziemlich schmal, um einen erwachsenen Mann durchzulassen.«

»Na, geradezu dick kann er jedenfalls nicht gewesen sein. Um das zu wissen, brauchen wir nicht Ihre Deduktionen, Mr Holmes. Aber Sie oder ich könnten uns da schon durchquetschen.«

Holmes trat an den Rand des Grabens und blickte zur anderen Seite hinüber. Dann examinierte er die steinerne Böschung und die grasbewachsene Einfassung.

»Ich habe mir das schon genau angesehen, Mr Holmes«, sagte White Mason. »Da ist nichts zu finden, kein Anzeichen, dass jemand hier herausgeklettert ist. Aber warum sollte er auch Spuren hinterlassen?«

 

»Sehr richtig, warum sollte er. Ist das Wasser immer so trüb?«

»Ja, immer so wie jetzt. Der zufließende Bach trägt Lehm ein.«

»Wie tief ist der Graben?«

»Etwa einen Meter in der Mitte und gut einen halben am Rand.«

»Dann können wir den Gedanken, dass der Mann beim Durchwaten ertrunken ist, verwerfen.«

»Ja, hier würde nicht mal ein Kind ertrinken.«

Wir passierten die Zugbrücke und wurden am Tor von einem altmodisch gekleideten, verhutzelten und wie eingeschrumpft wirkenden Diener empfangen – dem Butler Ames. Der arme alte Mann war immer noch schreckensbleich und zittrig von dem Schock. Der örtliche Sergeant, ein klobiger Mann mit amtlicher, bekümmerter Miene, bewachte immer noch das Mordzimmer. Der Arzt war gegangen.

»Irgendwas Neues, Sergeant Wilson?« fragte White Mason.

»Nein, Sir.«

»Dann können Sie gehen. Sie haben Ihre Pflicht getan. Falls wir Sie brauchen, werden wir nach Ihnen schicken. Der Butler soll lieber draußen bleiben. Sagen Sie ihm bitte, er möchte Mr Cecil Barker, Mrs Douglas und die Haushälterin bitten, sich bereitzuhalten, denn wir werden gleich ein paar Worte mit ihnen zu reden haben. Und nun, Gentlemen, gestatten Sie mir, Ihnen meine Sicht der Sache darzulegen. Danach können Sie sich Ihre eigene Meinung bilden.«

Er gefiel mir, dieser Kriminalpolizist aus Sussex. Er hatte ein gutes Auge für Fakten und einen kühlen, klaren, praktischen Verstand, der ihn in seinem Beruf ein gutes Stück voranbringen würde. Holmes hörte ihm aufmerksam zu, ohne jegliches Zeichen jener Ungeduld, die offizielle Vertreter des Gesetzes so oft in ihm auslösten.

»Selbstmord oder Mord – das ist die erste Frage, Gentlemen, nicht wahr? Wenn es Selbstmord wäre, müssten wir annehmen, dass der Mann als Erstes seinen Ehering abgelegt und irgendwo versteckt hat, dass er dann im Hausmantel heruntergekommen ist, mit schmutzigen Stiefeln in der Ecke hinter dem Vorhang herumgetrampelt ist, um vorzutäuschen, dass hier jemand gestanden und ihm aufgelauert hat, dass er dann das Fenster geöffnet hat, eine Blutspur auf dem –«

»Wir wollen das als erledigt betrachten«, unterbrach MacDonald.

»Das ist auch meine Meinung. Selbstmord kommt nicht in Frage. Dann war es also Mord. Wir müssen herausfinden, ob der Täter von außerhalb des Hauses gekommen ist oder ob er zum Haus gehört.«

»Lassen Sie hören, was Sie denken.«

»Beide Varianten haben ihre Schwierigkeiten, aber eine von beiden muss die richtige sein. Nehmen wir als Erstes an, einer der Hausbewohner habe die Tat begangen. Das Opfer ist hier hereingelockt worden zu einem Zeitpunkt, als die anderen Hausbewohner sich schon zurückgezogen hatten, aber noch nicht schliefen. Die Tat wurde mit einer ungewöhnlichen und sehr lauten Waffe verübt, geradeso als hätte der Täter es darauf angelegt, das ganze Haus zu alarmieren – und noch dazu mit einer Waffe, die bisher nicht in diesem Haus gesehen wurde. Das klingt nicht sehr wahrscheinlich, oder?«

»Allerdings nicht.«

»Gut. Wir sind uns einig, dass kaum eine Minute vergangen ist zwischen dem Abfeuern der Waffe und dem Zeitpunkt, da sämtliche Hausbewohner zur Stelle waren – nicht nur Mr Cecil Barker, der angibt, der Erste gewesen zu sein, sondern auch Ames und alle anderen. Wollen Sie mir weismachen, dass der Täter in dieser kurzen Zeit Fußspuren in der Ecke machen, das Fenster öffnen, einen Blutfleck auf die Fensterbank schmieren, den Ehering vom Finger des Toten abziehen und alles Übrige tun konnte? Das ist völlig unmöglich.«

»Sie haben das sehr klar dargestellt«, sagte Holmes. »Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen.«

»Gut, dann müssen wir zur ersten Hypothese zurückkehren, nämlich dass die Tat von einer Person verübt worden ist, die von außerhalb kam. Auch hier stehen wir vor Schwierigkeiten, aber nicht mehr vor einer Unmöglichkeit. Der Mann ist zwischen halb fünf und sechs Uhr nachmittags ins Haus gelangt, das heißt zwischen dem Beginn der Dämmerung und dem Zeitpunkt, wo die Zugbrücke hochgezogen wurde. Da Gäste im Haus waren, stand das Eingangstor offen, und nichts hinderte ihn, hereinzuschleichen. Dieser Mann könnte ein ganz gewöhnlicher Einbrecher sein, oder es könnte jemand sein, der eine persönliche Rechnung mit Mr Douglas zu begleichen hatte. Da Mr Douglas den größten Teil seines Lebens in Amerika verbracht hat und diese Schrotflinte höchstwahrscheinlich amerikanischer Herkunft ist, scheint die Annahme eines persönlichen Motivs die wahrscheinlichere zu sein. Er schlüpfte in dieses Zimmer, weil es dem Eingang am nächsten liegt, und verbarg sich hinter dem Vorhang. Dort blieb er bis nach elf Uhr abends. Zu dieser Zeit betrat Mr Douglas den Raum. Der Wortwechsel zwischen beiden kann nur kurz gewesen sein, falls es überhaupt einen gegeben hat, denn Mrs Douglas hat ausgesagt, dass ihr Mann sie erst kurz vor dem Schuss verlassen hatte.«

»Das beweist allein schon die Kerze«, sagte Holmes.

»Richtig. Die Kerze war neu, und sie ist kaum mehr als einen Zentimeter heruntergebrannt. Er muss den Leuchter auf den Tisch gestellt haben, bevor er angegriffen wurde, sonst wäre er natürlich zu Boden gefallen. Das zeigt, dass er nicht sofort nach seinem Eintritt ins Zimmer angegriffen wurde. Mr Barker hat dann, als er hereinkam, die Kerze gelöscht und die Tischlampe angezündet.«

»Das ist so weit plausibel.«

»Gut. Auf dieser Grundlage können wir die Vorgänge rekonstruieren. Mr Douglas betritt das Zimmer. Er stellt den Kerzenleuchter auf den Tisch. Ein Mann kommt hinter dem Vorhang hervor, mit der Flinte bewaffnet. Er verlangt den Ehering – der Himmel weiß warum, aber so muss es gewesen sein. Mr Douglas gehorcht ihm. Dann wird er von dem Eindringling brutal erschossen – entweder kaltblütig oder nach einem kurzen Kampf. Douglas hat vielleicht noch den Hammer ergriffen, der hier auf dem Teppich lag. Der Mörder lässt seine Waffe fallen, und offenbar auch diese seltsame Karte mit der Aufschrift V. V. 341 – was immer das bedeutet. Er flieht durch das Fenster und watet durch den Burggraben, als Cecil Barker hereinkommt und das Verbrechen entdeckt. Wie hört sich das an, Mr Holmes?«

»Sehr interessant, allerdings nicht ganz überzeugend.«

»Mein lieber Mann, es würde sich geradezu unsinnig anhören, wenn nicht alle anderen Erklärungen noch unsinniger wären!« rief MacDonald. »Jemand hat diesen Mann umgebracht, aber ganz gleich, wer es war, ich kann Ihnen klar beweisen, dass es anders abgelaufen sein muss. Warum in aller Welt sollte er sich aus freien Stücken selbst den Fluchtweg abschneiden? Warum in aller Welt sollte er eine Schusswaffe verwenden, wo seine einzige Chance zu entkommen darin lag, dass alles heimlich, still und leise vor sich ging? Mr Holmes, Sie haben gesagt, Mr White Masons Theorie sei nicht völlig überzeugend – jetzt sind Sie dran, uns auf die richtige Spur zu setzen.«

Holmes war der Diskussion mit größter Aufmerksamkeit gefolgt. Kein Wort war ihm entgangen, während seine scharfen Augen nach allen Seiten spähten und seine Stirn sich nachdenklich furchte.

»Ich hätte gern noch ein paar mehr Fakten, Mr Mac, bevor ich so weit gehe, eine Hypothese zu äußern«, sagte er und kniete neben der Leiche nieder. »Du liebe Güte! Diese Verletzungen sind wirklich fürchterlich. Würden Sie bitte den Butler hereinholen? … Ames, ich habe gehört, dass Sie dieses ungewöhnliche Mal schon öfter auf Mr Douglas’ Unterarm gesehen haben, ein eingebranntes Dreieck in einem Kreis?«

»Ja, Sir, häufig.«

»Ist Ihnen nie zu Ohren gekommen, was es bedeutet?«

»Nein, Sir.«

»Es muss sehr schmerzhaft gewesen sein, so ein Brandzeichen aufgedrückt zu bekommen. Und noch etwas, Ames. Dort ist ein kleines Pflaster am Kieferwinkel von Mr Douglas. Haben Sie das gesehen, als er noch am Leben war?«