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Simone Zenker

Drei Seiten

Eine Familien-Kurzgeschichte

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Leonie

Vater

Mutter

Impressum neobooks

Leonie

Sie litt unter starken Wehen. In Wellen wurde sie von ihnen überrollt, Krämpfe durchzogen ihren Unterleib. Sie war überrascht von der Heftigkeit, hatte sie sich doch so gut wie möglich vorbereitet. In stundenlangen nächtlichen Recherchen im Internet hatte sie alles aufgesaugt über Geburtsvorbereitung, Wehenschmerz etc.. Doch auf diesen Schmerz konnte man sich nicht vorbereiten. Sie umklammerte ihr Handtuch und biss sich in die Wange. Schreie unterdrückend wand sie sich in dem engen Neubaubadezimmer. Hellhörig war es hier und mittags gespenstig still. Schon morgens um vier war sie mit diesem besonderen Gefühl aufgewacht, den nur werdende Mütter verspüren können. Ihrer Mutter klarzumachen, dass sie heute aufgrund starker Bauschmerzen nicht zur Schule könne, war schwieriger als geplant. Schon lange misstraute ihre Mutter den ständig wechselnden Beschwerden. Übelkeit, Durchfall, Migräne, Appetitlosigkeit. Die Liste war unendlich. Dass Leonie trotzdem zunahm, obwohl sie kaum etwas aß, war sehr verwunderlich. Mutter schob alles auf die Pubertät. Mit 13 ist halt der Körper von den Hormonen durcheinander. Leonie wollte nur ihre Ruhe und auf gar keinen Fall zum Arzt. Eine Schwangerschaft stand für alle außer Frage. Leonie hatte noch nie einen Freund und war alles andere als frühreif. Später war irgendwie alles alltäglich geworden und man kümmerte sich nicht mehr soviel um ihre Wehwehchen. Leonie trug weite Kleidung, war still und verschlossen und verbrachte ihre Nachmittage im Kinderzimmer. Den Postern an der Wand schenkte sie keine Beachtung mehr. Die hingen dort nur als Relikt aus ihrem alten Leben. Andenken an unbeschwerte Tage, als Leonie noch nächtelang mit ihren Freundinnen das Jungsthema durchhechelte. Wer gerne mit wem mal ins Kino wollte, wem die kurzen Haare besser standen und wer die strammsten Fußballerwaden hatte. Leonie musste bei diesen Gedanken lächeln. Naive und doch so glückliche Zeiten. Erwartungsvoll wie sich der erste Kuss wohl an fühlen würde, ganz zu schweigen vom häufig besprochenen, aber ängstlich erwarteten ersten Mal. Leonie blickte auf ihren sich krümmenden Unterleib. Nichts, aber auch gar nichts stimmte mit ihren Vorstellungen und Wünschen überein. Es war nicht romantisch, sinnlich und aufregend. Keiner hatte Kerzen angezündet, Musik leise spielen lassen und ihr Bett mit Rosen überschüttet. Ihre Jungfräulichkeit wurde ihr hart und schmerzlich genommen. Bis heute vergeht kein Tag, an dem sie nicht an dieses fürchterliche Ereignis dachte. In jeder Sekunde ihres Lebens dachte sie seitdem an diese widerlichen Geräusche, den Schweißgeruch, die sich ihr in den Mund schlängelnde Zunge. Fest zupackende Hände an ihren Oberarmen, Schmerz, als ihre Oberschenkel auseinander gezogen wurden … Schmerz, Schmerz, Leonie versank in Erinnerungen, aber die Realität holte sie schnell wieder ein. Die Abstände zwischen den Wehen wurden kürzer. Sie legte sich auf ein Handtuch, das sie sich vorsorglich besorgt hatte. Tempotücher, Wasserflasche und die Schere, sorgfältig gereinigt mit Vaters eiserner Wodkareserve. Die letzten Wochen hatte Leonie damit verbracht, alles genau zu planen und zu besorgen. Die größte Angst machte ihr allerdings, dass sich die Zeit nicht planen lies. Was wäre gewesen, wenn das Kind morgens auf die Welt gewollt hätte? Aber es ist gut gegangen. Sie hatte die Schmerzen noch überspielen können und bis 17 Uhr kamen ihre Eltern gewiss nicht wieder nach Hause. Ihre Mutter arbeitete als Chefbuchhalterin in einer großen Firma und ihr invalider Vater hatte neuerdings seine Liebe zur Gartenlaube entdeckt, welche er kostengünstig vor einigen Wochen erworben hatte. Die unterschiedliche Art und Weise, wie ihre Eltern ihren Tag verbrachten, zeigte deutlich, wie es um die Ehe stand. Auf der einen Seite ihre Mutter, klug und zielstrebig von der kleinen Sachbearbeiterin im Rathaus zum höheren Chefposten einer Computerfirma. Und dann ihr Vater. Ihr lieber Vati, der soviel Zeit mit ihr verbrachte. Früher. Eine glückliche Familie. Dann die Sache mit der Bandscheibe und von heute auf morgen war aus einem Zeitsoldat ein Invalide geworden. Leonie dachte an die Zeiten, als sie mit ihren Freundinnen jeden Nachmittag zum Weiher gingen. Ein Rückzugsort nur für fünf. Alle Grundschüler der einzigen Dorfschule. Die Beschaffung des Holzes für ihr Baumhaus übernahmen die Väter, die Mütter sorgten für die Einrichtung. Und dann war es fertig. Klein und kaum sichtbar zwischen hohem Schilf, drinnen Platz für genau 5 Klappstühle. Aber es war an alles gedacht. Es gab einen Teppich, Trinkgläser und sogar eine Blumenvase. So lebten die Mädels einen ganzen Sommer lang, keiner dachte an später, man aß die mitgebrachten Kekse und dachte, das Leben würde sich nie verändern.

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