Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit!

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Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit!
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Peter Simkin, Bernhard Nett (Herausgeber)

Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit

Gejagt vom Krieg bis ans Ende der Welt - und der Jugend"

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

Das Rehkitz ist tot

Ein Spiel mit dem Feuer

Mit "Ausdruck" vorlesen

Brei für Ferkel und Kinder

Stahlbeton des Kriegs

Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit

Dahin, wo der Ginseng wächst

Wenn der Teelöffel nicht mehr reicht

Ergänzende Informationen

Vorbemerkungen

Den folgenden Text haben wir als Herausgeber uns nicht ausgedacht: er basiert vielmehr auf den persönlichen Erfahrungen eines alten Herrn aus Kiew, der inzwischen leider schon verstorben ist. Mit ihm hatte Peter Simkin - selbst vor geraumer Zeit aus Russland nach Deutschland eingewandert - sich häufiger unterhalten. Die dabei gehörten Geschichten hatten ihn an Erzählungen seines eigenen Onkels erinnert, die sich auch um eine Kindheit und Jugend in Krieg und Stalinismus gedreht hatten - jedoch ganz anders. Dass ihm jedoch gerade die Geschichten des alten Herrn aus Kiew nicht mehr aus dem Kopf gingen, lag gar nicht an der besonderen weltanschaulichen oder politischen Haltung seines Gesprächspartners, an dessen unübersehbarer Prägung durch Familie, Umstände und den Geist bzw. Ungeist der Zeit: packend war vor allem der erinnerte Kinderblick auf die Verhältnisse gewesen, die dadurch lebendig geworden waren. Wie z.B. der kleine Kriegsflüchtling dem Horror entflieht: durch Weglaufen, ja! Aber eben auch, indem er „Militärexperte“ spielt, „Entdecker“, oder (ja, auch!) „Bandit“: das waren Erinnerungen eines Menschen aus Fleisch und Blut, nicht immer vorbildlich oder gar heroisch, ja teilweise problematisch und fragwürdig. Aber eben so, wie der Sohn einer stolzen Offiziersfamilie der Roten Armee sie (seiner Erinnerung nach) erlebt hatte.

Aus Respekt vor dem Zeitzeugen, der ein so authentisches und spannendes Bild von dieser geschichtlich sehr bewegten, außergewöhnlichen und noch heute wichtigen Zeit zeichnen konnte, fragte Peter Simkin seinen Kiewer Bekannten, ob der seine Geschichten nochmals erzählen könne, damit er sie für später aufnehmen könne. Der war einverstanden: gesagt, getan! Der alte Herr berichtete 2006 nochmals bei laufenden Tonband über seine (hin und zurück) gut 25.000 km langen Reisen quer durch eine vom Zweiten Weltkrieg aufgewühlte Sowjetunion, während derer er vom Kind zu Mann geworden war: noch fesselnder und bildreicher als beim ersten Mal! Obwohl Peter Simkin durch seine Berufstätigkeit sehr stark eingespannt war, transkribierte er daraufhin - wann immer er etwas Zeit dafür erübrigen konnte - die Interviews Stück für Stück. Als sein Freund, Dietrich Brandt, von dieser Marathonarbeit hörte, schlug er eine deutsche Veröffentlichung vor und bot seine Hilfe an (ohne seine Ermutigung wäre es gar nicht zu diesem Buch gekommen!) Weil Deutsch nicht die Muttersprache Peter Simkins ist, kam dann irgendwann Bernhard Nett ins Spiel, ein ehemaliger Kollege. Weil der kein Russisch spricht, mussten die Erzählungen des alten Herrn aus Kiew Absatz für Absatz mithilfe von Memos, Zeichnungen, Fotos sowie mit Händen und Füßen erarbeitet werden.

Im Lauf der Zeit entwickelte sich dabei der folgende Text: keine ganz wörtliche Übertragung, aber doch eine, die der Erzählung von Peter Simkins Bekannten aus Kiew möglichst nahe zu kommen sucht. Als eigentlichen Autor der Geschichte sehen wir den alten Herrn aus Kiew. Während er mit einer anonymisierten Veröffentlichung seiner Geschichte einverstanden war, hoffen wir, dass die lange Reife-Zeit seinen Erzählungen nichts von ihrer Aktualität, Anschaulichkeit und Eindringlichkeit genommen haben! Viel stärker als blutige, martialische Schlachtenberichte oder Totenzählungen ließ uns der ganz subjektive Kinderblick des Offizierssohns der Roten Armee auf den Alltag im Land erahnen, welches Leid der nazideutsche Überfall den Menschen in der (damals ja stalinistischen) Sowjetunion verursachte; wir denken, dass diese „Geschichte von unten“ heute gerade jungen Menschen einen Eindruck davon vermitteln und Interesse an Geschichte wecken kann.

Wir haben dafür noch einige Erklärungen als Fussnoten eingefügt und (im Kapitel "Ergänzende Informationen") von den meisten genannten Orten eine ungefähre geografische Position angegeben, um dem Leser das Verständnis des Textes zu erleichtern.

Wir bedanken uns bei Dietrich Brandt für seine Inspiration und Hilfe!

Aachen, den 1.8.2020

Peter Simkin, Bernhard Nett

Das Rehkitz ist tot

Der alte Herr aus Kiew: „Es ist wahrscheinlich sehr ungewöhnlich, dass ich mir schon in einem sehr frühen Alter die Gesichter unserer Nachbarn merkte, und ihre zärtliche Fürsorge. Man trug mich damals noch auf Händen, in eine Decke eingewickelt, und zeigte mich den Nachbarn, meine „schwarzen“ Augen. Viele glauben mir nicht, aber als ich meiner Mutter ihre Gesichter nach dreißig oder vierzig Jahren beschrieb, war auch sie erstaunt, denn es hatte tatsächlich solche Nachbarn und Nachbarinnen wie die gegeben, die ich beschrieb, in der Zeit, in der ich noch ein Säugling war. Wirklich seltsam! Aber es war so.

Ich wurde an einem besonderen Ort geboren, am zentralsten Teil Kiews: der Ecke der Korolenko und der Fundukleyevskaya. Ich glaube, dass Fundukley ein Gouverneur Kiews in der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen war, der große Bedeutung gehabt hatte; Korolenko war ein russischer Schriftsteller. Später wurden diese Straßen dann umbenannt: Aus der Korolenko wurde die Wladimirskaya (engl.: Volodymyrska Street) nach dem Großen Kiewer Fürst - und aus der Fundukleyevskaya die Lenina1. An der Ecke dieser beiden Straßen stand unser Haus, das ehemalige Theater-Hotel, und gegenüber lag unser berühmtes Opernhaus.

Durch die Fenster unseres Hauses konnte man nach hinten heraus ein Gebäude sehen, das unauffällig, gar nichts Besonderes, zu sein schien. Es sollte sich aber später herausstellen, dass es das Präsidium der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften war, gewissermaßen das Allerheiligste der ukrainischen Wissenschaft. Und irgendwie hat es sich so ergeben, dass ich mehr als die letzten dreißig Jahre des Lebens mit diesem Gebäude und dieser Institution verbunden war, dort an einem akademischen Institut arbeitete.

Mein Vater war Militär, sogar Karriereoffizier. Als ich geboren wurde, trug er bereits die Marineuniform – und ich erinnere mich noch gut, was das damals bedeutete! Als sich die Uniform abgenutzt hatte, gab mein Vater sie seinem Vater; sie wurde nun umgeschneidert, mit der inneren Seite des Stoffes nach außen. Eines Tages besuchte uns mein Großvater von irgendwo (er lebte nicht in Kiew) und machte Faxen in der umgearbeiteten Uniformjacke, die man umgangssprachlich `Kapitanke´ nannte (Opa hatte immer schon gerne den Clown gespielt).

An der Familie meines Vaters war ungewöhnlich, dass sowohl sein Urgroßvater, Großvater und Vater je 25 Jahre in der zaristischen Flotte gedient hatten; noch ungewöhnlicher aber, dass sie aus dem Städtchen Berdichev kamen, das keinerlei Zugang zu irgend einem Meer hat: das war schon erstaunlich! Auch die Tatsache, dass alle drei - den Erzählungen des Vaters und denen seines Vaters zufolge (die ich selbst hörte) strikte Atheisten waren, obwohl die Menschen in dieser Kleinstadt sonst sehr gläubig waren.

Bevor sie zur Marine gingen, waren sie Gerber gewesen (die man in der Ukraine `Kozhemyako´ nannte). Einer der Helden des ukrainischen Epos, Mykyta Kozhemyako, ist ein Mann mit großartiger Stärke, der mit seinen riesigen Armen, mit seinen Pratzen, alles zerquetscht. Solche Pranken hatten damals alle von dort, auch mein Vater! Von nur durchschnittlicher Größe, vielleicht sogar noch kleiner, waren sie doch körperlich äußerst stark und hatten diese mächtige `Zange´ (so nannte ich diese Hände, mit der sie die ganze Zeit Leder in einer bestimmten Lösung geknetet hatten.) Vielleicht war es das, warum sie in der Flotte genommen wurden: weil sie so stark und gesund waren (obwohl sie ja wohl keinen wirklich gesunden Beruf hatten.)

Sie, die Leute aus der kleinen Stadt, die Kräftigen: den Erzählungen des Vaters zufolge waren sie - gewissermaßen von Natur her - Raufbolde. Es wurden Kämpfe arrangiert: man fand immer Anlässe für Schlägereien! Natürlich gewannen immer sie (das war wohl auch ein Grund für ihre Kreativität beim Finden von Anlässen für Prügeleien). Und, wie alle normalen Menschen tranken sie Wodka.

Zur Flotte kam man normalerweise im Alter von 18-20 Jahren, zum Kozhemyako wurde man jedoch schon mit 10-12 Jahren, noch als Kind. Das Wichtigste war damals, sich irgendwo zu arrangieren, besonders bei den Jungs: wie gut, wenn ein Kind weniger zu ernähren war! Die Familien waren in der Regel groß und es war wichtig, so bald wie möglich jedes überschüssige Maul loszuwerden. Die Familie des Vaters hatte sieben Kinder (er hatte sechs Schwestern).

 

Auf jeden Fall hatten die Jungs bis zur Armee genug Zeit! Zum Arbeiten! Aber auch für Rowdytum und für Unsinn! Danach waren sie dann plötzlich in der Marine, ihre "Erziehung" war einfach zu Ende! Sie durchliefen die Marine und versuchten, möglichst lebendig zurück zu kehren. Auf den alten Fotografien trugen die Jungs gestreifte Matrosenhemden. Nur mein Vater nicht: der war – wie schon gesagt – in Marineuniform, obwohl er – wie ich später erfuhr - in den Grenztruppen diente. Er nahm am Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution teil, absolvierte irgendeine Schule und kam so zu den Grenztruppen. Die Dnjepr-Flottille bewachte die Flussgrenzen, das heißt: die Grenze zu Polen, vor allem in Weißrussland im Gebiet von Prypjat und Mosyr2.

Peter: "Dnjepr-Flottille?“

„Ja, die Dnjepr-Militärflottille! So wurde sie sogar auf den Bändern meiner Matrosenmütze genannt. Sie sollte die Grenzen schützen. Manchmal fuhren sie bis zum Schwarzen Meer runter und nahmen dort an irgendwelchen allgemeinen Manövern oder Ähnlichem teil. Mein Vater begann früh, mich auf das Schiff mitzunehmen und mir die `maritimen Angelegenheiten´ beizubringen. Ich erinnere mich, dass ich noch recht klein war - aber schon in Marineuniform und der Mütze mit den Bändern! Die Matrosen reichten mich von Hand zu Hand weiter, und sagten: `Das ist der des Schiffskommandanten, das Söhnchen des Kommandanten´, und solche Sachen. Na ja, im Allgemeinen lernte ich dort ihr ganzes Leben kennen, und sie fütterten mich dafür mit einem leckeren Brei, der mir bei meiner Mama zu Hause natürlich nie so lecker geschmeckt hätte!

Die Kameraden des Vaters waren meist Grenzsoldaten. Sehr oft versammelten sie sich abends in unserer Wohnung. Die bestand aus einem Zimmer von etwa zehn Quadratmetern. Daraus machte man mit Wandschirmen, wie man sie damals nutzte um etwas abzutrennen, einen Bereich, in dem ich schlief, einen für die Eltern und einen separaten, in dem ein Tisch stand. So gab es zwei `Schlafzimmer´ und ein `Wohnzimmer´. Die `Küche´ war auf dem Gemeinschaftsflur (ein langer, langer Korridor - den man wahrscheinlich immer noch so vorfindet. In letzter Zeit war ich aber nicht mehr da, es wurde ein Theaterhotel aus dem Haus). Wie dem auch sei, die Kameraden meines Vaters kamen immer dorthin.

Da ich erst im Jahr 1931 geboren wurde, verstand ich noch nicht alles, was sie sagten, aber jedes Mal, wenn Namen genannt wurden, waren mir viele schon bekannt. Denn es war üblich, dass Kinder - kaum dass sie sprechen gelernt hatten, also mit vier oder fünf Jahren - wenn Gäste kamen, auf einen Stuhl gestellt wurden und die gesamte Führung der kommunistischen Partei auswendig aufsagten - wer wofür verantwortlich ist, wer für was Minister ist: wir wussten all das, und das wurde für eine sehr gute Leistung gehalten.

Besonders viel hörte ich von Iona Jakir, den Papa schon seit dem Bürgerkrieg gut kannte. Er war Kommandant des Kiewer Militärbezirks. Wir standen an der Schwelle zum Jahr 1937 und ich hörte `den … hat man mitgenommen, und den …. hat man auch mitgenommen...´ Am Ende der Unterhaltung hörte ich dann auch noch, dass auch Jakir verhaftet worden war. Also war auch er jetzt `Feind des Volkes´ - Worte, die damals sehr oft zu hören waren.

Was kommt mir noch in den Sinn? Vater besaß ein Buch `Kurzer Geschichtskurs der bolschewistischen Partei´. Um keine Zeit zu verschwenden, nannte man das Buch allenthalben nur: `Kurzkurs´. Dort fanden sich Porträts der Menschen, an die sie glaubten - und über die sie jedes Mal staunten. Ich verstand nicht alles, weil sie mit leisen Stimmen sprachen, aber an ihre Überraschung erinnere ich mich gut: `Jakir kann kein Feind des Volkes sein!´ So etwas konnte nur ganz leise ausgesprochen werden! Diese ganze Geschichte, die in den Jahren `34/`35 angefangen hatte, eher verhalten noch als `Mord an Kirow´3 und so weiter - ich las ein Buch über Kirow (ein Kinderbuch: `Der Junge aus Urschum)´ - mir wurde schon damals einiges klar …“

Peter: „Gab es Freunde oder Bekannte, die `verschwanden´?“

„Ja, Freunde! Stepan beispielsweise war ein Freund des Vaters, vor dem Krieg Kapitän oder Major: er besuchte uns sehr oft, wurde ein enger Freund - plötzlich war er verschwunden! Er war irgendwohin nach Sibirien geflohen. Nach dem Krieg traf man sich wieder: er hatte überlebt! Noch ein Freund der Familie war verschwunden, genauer gesagt: eine Freundin meiner Mutter und ihr Ehemann, Rosa Petrovna und Lyonya Kiyashko. Auch sie waren nach Sibirien geflohen, wo sie sich irgendwo versteckt hatten. Einige Leute wechselten ihre Pässe; sie taten alles, was sie tun konnten, um weg zu kommen. Weil sie früh erkannt hatten, dass sie gerade solche Leute mitnahmen, an denen es keinerlei Zweifel gab!

Wie dreist sich die Offiziere der Spezialabteilungen benahmen! Und das in der Vorkriegszeit! Während des Krieges hasste die Armee diese Menschen, konnte aber nichts tun, weil jeder Kapitän des NKWD4 einem Oberst der Kampfeinheiten einfach so eine reinhauen konnte: denen war einfach alles erlaubt!

Auf Jahrzehnte hinaus werden wir kaum je wieder diese Art von Armee haben, die es davor gegeben hatte. Ein Militär, das war damals eine sehr respektierte Person mit einer relativ hohen Bezahlung! Und das Militär war verantwortlich für alles, was im Land passierte!

Papa hatte einen Gürtel für den Degen. Die Uniform hatte zudem einen Riemen, an dem ein Beutel für die Pfeife hing. Papa trug immer seine Pfeife mit sich! Wenn etwas Außergewöhnliches passierte - eine Rauferei oder Störung auf der Straße - riefen die Leute lieber einen Offizier als einen Polizisten, weil diese angesehene Leute Dinge einfach durch ihre Autorität in Ordnung bringen konnten. Ich wurde einmal Zeuge davon, als ich mit meinem Vater in der Straßenbahn fuhr: Ich erinnere mich sehr gut, dass irgendein halb betrunkener Rowdy, ein junger Mann, alle belästigte. Papa befahl mir mich zu setzen, ging zu dem Mann, der irgendwo vorne in der Nähe der Straßenbahnfahrerin herumlungerte, und ergriff seine Hand. Der fing an zu schreien: `Onkel, lass los, Du tust mir weh!´ An der nächsten Straßenbahnhaltestelle setze Vater ihn raus.

Viele Male habe ich das gehört: `Genosse Militär, guck Dir das mal an! Es gibt hier folgendes Problem…´ Natürlich war ich in diese Armee verliebt, und jedes Mal, wenn ich mit meiner Mama die Straßen entlang ging, hielt ich die Militärs auf, die uns entgegen kamen: ich fragte sie, ob sie nicht meinen Papa gesehen hätten; das gefiel auch den Militärs gut! Die Armee war in bester Ordnung! Ich habe nichts Schlechtes über diese Armee gehört!“

Peter: „Hielt sie sich für sehr stark?“

„Sie glaubten, dass sie stark sind; auch wir waren davon überzeugt worden. `Wir geben keinen Fußbreit unseres Landes auf; andere Länder brauchen wir nicht´. Das waren so die Lieder. Über die Armee wurden großartige Lieder gesungen! Als Woroschilow5 nach Kiew kam, war der Jubel unbeschreiblich. Wir wohnten ja in einem Haus an der Ecke der beiden Straßen, sodass niemand ungesehen an unserem Haus vorbeifahren konnte. Wir schauten entweder vom Fenster aus, oder wir gingen hinaus und sahen unsere Lieblings-Führer Woroschilow oder Budjonny6 im offenen Auto: die Leute jubelten! Die Menschen, das fiel mir auf, sie waren sehr aktiv! Es gab nicht das, was schrecklicher als jeder Feind ist: Gleichgültigkeit gegenüber allem, was geschieht: es waren sehr aktive Leute! Die Jugendlichen, Mutter, alle waren Komsomol7 - Mitglieder.

Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an eine Szene: wir kamen aus unserer Haustür gegenüber der Oper, sahen eine große Menschenmenge, und in der Mitte der Menge (ich quetschte ich mich durch, wurde auch von Mutter gezogen) lag ein Mann bewusstlos auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt. Einige gaben Ratschläge, jemand rief einen Krankenwagen. Der kam; man legte den Mann auf eine Trage und brachte ihn weg. Ich hörte jemanden sagen: `Nein, ihm ging es nicht schlecht. Er lächelte, als er getragen wurde´. Es war wahrscheinlich nur eine Lehre, ein Test der Aufmerksamkeit, um die Menschenmenge aufzurütteln. Wahrscheinlich so etwas. Man konnte ein Lächeln sehen, als er weggetragen wurde. Was ich sagen will: es gab Mitgefühl, Aktivität von Menschen, Beziehungen zueinander... es war noch eine Zeit, in der wir wussten, dass wir ein gutes Land aufbauen, dass es uns gut geht.

Der Korridor in unserm Haus war wirklich lang, und vor jeder Tür stand ein Kocher. Das heißt, es gab - ich weiß nicht - wahrscheinlich um die fünfzig Zimmer, nun, vielleicht vierzig, jeweils gegenüber liegend: überall davor kochten Leute ihr Essen im Korridor.

Neben uns wohnte die Familie Schevtschuk. Er sah wie ein kräftiger Mann aus, so wie früher die Saporoger Kosaken8: mit durchgehender Glatze. Der Name seiner Frau war Cesya, erinnere ich mich, ein ungewöhnlicher Name. Er trank oft Wodka und schlug sie. Einmal hat er sie sogar mit dem kupfernen Stößel eines Mörsers gejagt, daran erinnere ich mich. Sie versteckte sich immer bei uns, das heißt, bei dem Militär, denn da war immer eine sichere Zuflucht. Er war kein Soldat, Schevtschuk war...“

Peter: „Mir scheint Schevtschuk weniger Soldat als ein Trinker gewesen zu sein. Aber, die Frage ist doch: war das typisch für die Armee, wurde da viel getrunken? Z.B. Ihr Vater: hat der getrunken?“

„Gott bewahre, nein! Mein Vater war ein absolut anständiger Mensch, der viel Sport trieb, z.B. Boxen und Schwimmen!

Ich ging in einen ukrainischen Kindergarten, zu Hause sprachen wir russisch, obwohl die Mutter einen starken ukrainischen Akzent hatte und gut ukrainisch sprach, weil sie vom Dorf stammte. - Ich habe nur deshalb so viel über meinen Vater erzählt, weil noch nicht die Zeit war, über Mama zu sprechen…

Im Kindergarten bekam ich Schwierigkeiten, als ich zum ersten Mal ein ukrainisches Wort hörte, das `auf Wiedersehen´ bedeutete. Wegen meines offensichtlich schädlichen Charakters begann ich, dieses Wort sofort zu verdrehen und so auszusprechen, wie es mir besser gefiel. Die Erzieherinnen bestraften mich dafür, beschwerten sich bei meiner Mutter. Aber das konnte nichts ändern. Ich habe meinen Unfug fortgesetzt.“

Peter: „Gab es damals ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen?“

Wir sprechen von Kiew; einer Stadt, die ja stark von russischer Sprache und Geschichte geprägt wurde. Aber - obwohl wir später auch in kleineren Städten lebten - so etwas habe ich nicht bemerkt9 . Nun, … es gab keine Probleme. Die Leute sprachen ukrainisch. Das zu verstehen machte keine Probleme, weil ich es ja von meiner Mutter her kannte. Und dann wurde ich im Sommer aus Gesundheitsgründen nach Romanowka gebracht, das Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde und in dem sie bis zum Alter von 16 Jahren lebte. - Keine Probleme!

Mutters Familie bestand auch aus 7 Personen: einem Mädchen und sechs Brüdern. Es war eine reine Bauernfamilie, die aber nicht allzu fromm war. Die Hälfte der Brüder waren im Krieg gewesen und hatten überlebt; genauer gesagt: nicht die Hälfte, sondern zwei von sechs. Es war eigentlich eine jüdische Familie, die aber genauso lebte wie die Ukrainer um sie herum. Von Problemen mit nationalen Beziehungen habe ich in unserm Garnisonsstädtchen nichts gehört. Die Völkerfreundschaft wurde gefeiert als unsere große Errungenschaft: die unzerstörbare Freundschaft der Völker aller Menschen! Wer dagegen war, wurde bestraft. Von Problemen habe ich weder im Kindergarten, noch in der Schule etwas gehört.

Gut! Die Schule fing für mich bereits in einer kleinen Stadt an, weil die Verlegungen meines Vaters schon im Jahr `38 begonnen hatten. Danach blieben wir nie länger als ein Jahr in der gleichen Stadt, weil das Militär immer wieder verlegt wurde, die ganze Zeit. So sagte man damals: `verlegt´, `überführt´. Wir bewegten uns dabei die ganze Zeit westwärts, immer westlicher und westlicher. Nur Vater nicht, der war zwischenzeitlich im `Finnischen Krieg´.10

Vater erzählte später, dass es dort perfekt befestigte Bunker gab. Nach und nach lernten die Unsrigen, wie man sie brechen konnte. Über Niederlagen und die Schwere dieses Krieges wurde jedoch kein Wort verloren. `Man ist zurückgekehrt´, `die Mannerheim-Linie11 wurde durchbrochen´ usw. Was tatsächlich war, weiß ich erst jetzt...

 

Vielleicht habe ich damals mal gehört, was Vater seinem Freund Stepan erzählt hat. `Wir waren schlecht angezogen! Als wir die gefangenen Finnen gesehen haben, wie sie angezogen waren: wollene Kleidung, Mützen mit Ohrenklappen usw. Wir kämpften im Winter in der Budjonowka12. Wobei die Budjonowka gut ist: die Ohren sind bedeckt! Aber, natürlich, wenn man im Schnee liegt ... und diese Kuckucken13 … Sie haben unsere Leute gut geschlagen, was soll man sagen?´ So etwas hat man nicht laut gesagt, man hat es versteckt, hatte gelernt, so etwas nicht zu sagen.

Es ging schließlich um „nationale Angelegenheiten“.

Einmal sind wir mit meiner Mutter auf die Krim gefahren. Ich glaube, ohne Vater. Aber ich erinnere mich da nicht mehr so genau. Jedenfalls waren wir auf der Krim, haben uns dort unterhalten: es gab viele Tataren, Griechen. Das war alles vor dem Jahr `39. Ich war 6-7 Jahre alt, schon nicht mehr in Kiew.

Meiner Meinung nach im Jahre `39 zogen wir in eine der kleinen westlicheren Städte, die Letichev hieß. Eine so schöne Stadt! Ein jüdischer Ort. Dort gab es keine Konflikte. Es gab eine gemischte Bevölkerung. Auch in der Schule gab es keine Konflikte. Alles war friedlich! Doch wir blieben nicht lange; Vater wurde wieder verlegt und wir wohnten danach in der schönen Villa des ehemaligen Bürgermeisters, die einen Garten hatte. Eine tolle Wohnung! Mama hat immer wieder gesagt: wir leben wie vor dem Tod, wie vor dem Tod leben wir!14 Tatsächlich! Eine ruhige, schöne Stadt: „Welyki Mosty“ hieß sie in Polnisch (wörtlich "Große Brücken" - es gab tatsächlich mehrere Brücken über das Grenzflüsschen; auch wenn sie nicht groß waren...)

An der Grenze trafen wir: die Deutschen! Obwohl mein Vater die ganze Zeit Berichte zum Divisionskommandeur schrieb, und der an noch höhere Militärs, kamen strikte Befehle zurück, man dürfe `nur keine Unruhe stiften´. `Auf Unruhestiften steht Erschießung!´ Und: `Es ist alles bekannt, verabredet! Es wird keinen Krieg geben!´ Die Deutschen aber waren keine drei Kilometer von uns entfernt auf dem anderen Flussufer und besetzten diesen Teil Polens! Und wir sahen, dass sie viele Waffen hatten: Das stiftete wirklich Unruhe!

Am 22. Juni 1941, in der Nacht, schlug dann deutsche Kanonenmunition bei uns ein. Wir waren nur ein paar kleine Militäreinheiten: ein Kavallerie-Regiment - was konnte das tun? Bei den Deutschen standen Kanonen und Panzer! Das 44. Maschinengewehrbataillon, ich erinnere mich noch jetzt: was konnten sie tun? Und auf Papas Grenzaußenposten, ich weiß es nicht genau, aber es waren um die 150 Leute, mehr nicht. Kurz gesagt: sie wurden sofort zerquetscht! Durch das Artilleriefeuer war unser Haus zerstört. Ich hatte ein Rehkitz: es starb vor Angst an Herzversagen! Papas Stellvertreter erklärte ihn an diesem ersten Tag des Krieges als gefallen: er sei bei einem Bajonettangriff getötet worden! Mutter konnte das nicht glauben. Sie blieb überzeugt, dass Vater noch lebte.

Doch wir mussten dringendst weg! Eine chaotische Evakuierung begann. Wir begannen, uns durch die Wälder zurückzuziehen. Gott sei Dank war die Westukraine voller Wälder! Wir waren im Rückzug: es gab Reste von Truppen, Reste aller möglichen früheren Militäreinheiten. Und meine Mutter war eine sehr aktive Person! Sie war immer da, wo Vater diente, als Vorsitzende des Frauenrats. Sie war sehr sportlich; und außerdem hatte sie alle Abzeichen: `Bereit für Arbeit und Verteidigung´, `Sanitärverteidigung´, `Gasabwehr´. Sie konnte alles, was Du Dir vorstellen kannst! Sie konnte Waffen handhaben, und sie konnte organisieren. Alle Frauen der Offiziere mussten sich unter der Leitung meiner Mutter den Soldaten anschließen und sich zurückziehen.

Wir hatten einen Soldaten, einen Absolventen der zehnten Klasse. Man sprach von ihm mit Respekt: Sergeant-Major Arkhipov hatte die zehnte Klasse besucht: nicht viele waren so gebildet! Er war ein sehr kluger, hübscher Junge. Gegenüber von uns war ein Club, er war dort nebenberuflich mit einer Bibliothek und der Post beschäftigt. Und er stellte nun, zusammen mit meiner Mutter, die Führung. Bis dieser Hauptmann Dedenistoy, Vaters Stellvertreter, zu uns stieß: von da an leitete er diesen Haufen.

Zuerst musste man Frauen und Kinder evakuieren! Es war Zeit! Früh am Morgen war es, ein heller Morgen, und jeder eilte zu unserem Haus, weil Vater auch Stadt-Kommandant gewesen war. Der Wald begann in unmittelbarer Nähe: man musste möglichst weit weg ziehen, nach Lemberg15. Wohin sonst? Frauen, Kinder, schwangere Frauen, Offiziersfrauen, usw. Man nahm irgendwo zwei Lastwagen und belud sie mit allen diesen Menschen. Es lag Panik in der Luft: Den Kindern der Offiziere würden ihre Ohren und ihre Nasen abgeschnitten. Auch ich war in Panik: eine solche Prozedur gefiel mir überhaupt nicht! Ich stieg auch auf den Lastwagen.

Meine Mutter musste als Führungskraft natürlich bleiben! Doch in letzter Minute zog sie mich aber noch - aus irgendeinem Grund - wieder vom Lastwagen. Die Rückseite der Ladefläche war noch nicht geschlossen, sie zog mich runter! Warum nur? Ich brüllte und weinte furchtbar! Sie aber zog mich nur herunter, sagte trocken: `Ich kann das nicht´. Vielleicht ihr sechster Sinn. Die zwei Fahrzeuge fuhren ab, fuhren über den Fluss in der Nähe der Grenze - und wurden von einem Flugzeug bombardiert. In beiden Fahrzeugen kamen alle Insassen um!

Wir flohen in den Wald. Man sammelte die Menschen und die Waffen. Und ging in den Wald. Es gab keine Befehle, keinerlei Verbindung irgendwohin. Die militärischen Einheiten gehörten zu einer Division, befehligt aus der Stadt Schowkwa16, doch es gab keine Verbindung mehr. Also auf nach Lemberg! Wir mussten nach Lemberg flüchten! Dort war die Sowjetmacht! Hier war alles schon vorbei! Umso mehr war die ukrainische Bevölkerung hier gegen die Sowjets, bedauerte, dass es Polen nun nicht mehr gab …

Wir bewegten uns durch die Wälder. Ständig wurden wir von den Deutschen verfolgt. Irgendwie gab es schon einen Trupp, der zurückschoss. Verwundete stießen zu uns. Man schleppte die Verwundeten mit, es gab einige Fuhrwerke. - Westukrainische Wälder sind schrecklich dicht, aber dort konnte man sich gut verstecken! Aber es gab auch Straßen, die konnten wir manchmal benutzen. Wenn es sicher war, gingen wir die Straßen entlang. Mehrere Male wurden wir von Flugzeugen bombardiert.

Irgendetwas konnten sie also sehen, wohl eine Art von Menschenmenge. Aber es gab fähige Handwerker unter uns (vielleicht war der Trick auch bereits bekannt), jedenfalls banden sie zwei Maschinengewehre zusammen; damit schafften wir es, ein Flugzeug abzuschießen! Warum hatte dieser Bastard uns auch bombardieren müssen? Der Pilot stieg mit dem Fallschirm aus. Das Flugzeug war klein. Ich stellte mir sogar vor, dass er mit seinen Hintern irgendwie Bomben von der Bank herunter stieß: so primitiv war das Flugzeug! Der Pilot wurde geschnappt; ihm war der Fuß abgerissen worden. Entweder war das Flugzeug explodiert, oder... wer weiß schon, was passiert war?

Jedenfalls nahmen wir ihn mit und freundeten uns mit ihm an - der Weg nach Kiew war lang. Es war ein Österreicher, ein sehr gut aussehender junger Mann mit einem so prachtvoll rötlichen Haar! Und er zeigte meiner Mutter immer seine Hände mit Schwielen, sagte: `Ich bin Schuster, Arbeiter! Niemand wollte den Krieg! Hitler ist Abschaum!´ Nun, kurz gesagt: wir hatten große Schwierigkeiten, erreichten Lembergs Bahnhof am Ende aber doch. Es gab viele Verwundete, auch Schwerverletzte! - Heute weiß ich, dass wir ungefähr 60 km zurückgelegt hatten.

Schließlich wurden wir in einen Güterzug verladen. Am Abend hatte man uns aufgeladen. So weit schien es gut zu sein. Es gab Stroh auf dem Boden. Man beruhigte sich und schlief. Am Morgen sollte der Zug ja losfahren. Doch in der Nacht wurden wir vom Dach der Station aus von einem Maschinengewehr beschossen. Einige unserer Militärs führten von dort einen ganzen Trupp von polnischen Mädchen in Uniform hinaus. (Was mit ihnen weiter geschah, kann ich nicht sagen.)

Ich erinnere mich an den Morgen, die Morgendämmerung, die kleinen Löcher im Waggon, und wie die Lichtstrahlen den Staub dahinter zu leuchtenden Strichen formten. Man setzte uns sofort in einen anderen Zug und teilte uns mit, dass unser neuer Zug mit roten Kreuzen auf den Dächern ein spezieller Krankenwagenzug sei: Jetzt sei alles in Ordnung, jetzt könnten wir sicher fahren! Es gebe einen Kommandant des Zuges.

Nun, mit unsern Kreuzen waren wir als Ziele für die Bomber perfekt markiert! Aber der Maschinist war ein Pfundskerl - mal bremste er scharf, mal beschleunigte er. Alle fielen aus ihren Betten! Die unglücklichen Verwundeten hingen wegen fehlender Liegeplätze bereits an den Gürteln im Gang, das Blut tropfte von ihnen herunter. Der Zug hielt an und man hängte einzelne Wagen ab. Irgendwie gelang es dem Maschinist, den Zug weiter zu fahren…