Träume von Freiheit - Ferner Horizont

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2. Zigaretten und Absinth

Dresden, 19. Februar 1881

Die Zigarettenspitze lag achtlos neben der Mokkatasse. Das Mundstück aus weißem Meerschaum war noch warm vom Rauch. Henri sah missbilligend auf das Utensil seiner Frau. Er verabscheute es. Dazu dieses Lachen. Es hatte etwas Aufreizendes, ja Frivoles. Zu Hause hatte er ihr das Rauchen verboten. Doch er wusste, dass Florence heimlich auf dem Balkon stand und seine Anweisungen ignorierte. Spätestens wenn sie danach in den Duft von Bitterorangen gehüllt wieder vor ihm stand, war ihm klar, dass sie geraucht hatte. Mittlerweile hasste Henri beides – die Zigaretten und das Parfüm der Pomeranzen.

»Was machst du für ein Gesicht, mein alter Gauner? Hast du schon wieder schlechte Laune?«, fragte Florence eine Spur zu laut. Ihre Tischnachbarn – das Ehepaar Smith – hielten inne und sahen fragend zu ihnen hinüber. Florence lächelte ihnen zu.

Henri sprach leise. »Du weißt, dass ich den Zigarettenrauch nicht vertrage. Dazu noch von einer Dame. Ich …«

»Henri, jetzt geht das wieder los!« Sie verdrehte die Augen. »Herr Smith, sind Sie auch so streng mit Ihrer Gattin? Mein Henri lässt mir aber auch gar keine Freude. Dabei raucht er selbst Zigarren.«

»Ach, wissen Sie, Frau de Meli, rauchende Damen sind für mich eine Modeerscheinung. Wenn es Ihnen gefällt! So ist das mit den jungen Frauen, sie tanzen uns auf der Nase herum, nicht wahr?« Er nickte Henri verständnisvoll zu.

Henri spürte, wie sein Hemdkragen feucht wurde. Er schwitzte. Wie konnte dieser alte Smith so leutselig sein und sich auf die Seite von Florence schlagen? Er lächelte gequält.

»Da hast du’s! Gaunerchen!« Triumphierend strich Florence ihm über seinen Bart.

Henri musste sich beherrschen. Jetzt wollte sie ihn wohl gänzlich zum Narren machen – hier in der Gesellschaft des Amerikanischen Clubs. Zwischen all den honorigen Exil-Amerikanern, zu denen er selbst nun auch schon etliche Jahre gehörte. Manche taten furchtbar vornehm, so wie Theodore Smith und seine blasse Ehefrau, andere waren kaum zu ertragen in ihrer Kulturbeflissenheit in Dresden. Immer unterwegs zwischen Gemäldegalerie, Semperoper, Klavierabend oder Lesung. Versuchten sogar, sich auf Deutsch zu unterhalten. Lachhaft.

Henri bestellte ein weiteres Bier und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Gleich war es halb elf. Vielleicht sollten sie heute einmal früher aufbrechen, überlegte er, doch im nächsten Moment, als der Kellner ein frisch gezapftes Bier vor ihm abstellte, verwarf er den Gedanken.

»Wunderbar. Dann machen Sie mir doch bitte noch einen Absinth!«

Der Kellner eilte mit der neuen Bestellung davon.

»Aber, Gaunerchen, du wolltest doch keinen Absinth trinken! Das hattest du mir versprochen. Ein paar Tage einmal ohne dein grünes Gift«, sagte Florence und stupste ihn am Arm.

Diesmal hörten es nicht nur die Smith’, auch Witwe Clarkson und ihr redseliger Begleiter, Jonathan Baker sahen plötzlich in seine Richtung. Henri spürte die Hitze. Und die Wut. Seine Frau machte ihn lächerlich. Vor allen Leuten. Sein Atem ging schwer. Er stürzte sein Bier hinunter und zischte: »Florence, bitte! Benimm dich! Vergiss nicht, dass ich dein Ehemann bin. Und als solcher muss ich dir gegenüber überhaupt keine Rechenschaft ablegen.«

Florence legte ihren Kopf zur Seite und pustete ihm noch einen Rauchkringel ins Gesicht. »War doch gar nicht ernst gemeint. Natürlich kannst du machen, was du willst!« Sie küsste ihn auf die Wange. »Lass uns den schönen Abend genießen! Prost, Darling!«

Henri reagierte nicht, sondern konzentrierte sich darauf, kaltes Wasser in das Glas mit dem Absinth vor ihm zu gießen. Das leuchtende Grün wurde milchig. Er probierte die Mischung. Dann trank er das Glas zügig leer. Auf sein Handzeichen hin brachte der Kellner noch mehr von dem giftgrünen Alkohol. Henri atmete aus. Das Schwitzen ließ nach.

Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Er war wahrscheinlich der reichste Mann hier im Saal. Man wusste es nicht genau. Mit irgendetwas hatten sie alle ihr Geld gemacht. Ihr Dollarvermögen. Und das war hier, in der deutschen Provinz, gleich doppelt so viel wert. Ob es immer mit rechten Dingen zugegangen war beim Vermögensaufbau oder ob die Vorfahren tatsächlich schon mit der »Mayflower« nach Amerika gekommen waren, wer wollte das überprüfen? Ihm fiel William King Thomas ein. Vor ein paar Jahren war er der Vize-Präsident im Anglo-Amerikanischen Club gewesen. Ein großzügiger Gastgeber mit einer eleganten Ehefrau. Die Thomas’ waren unermesslich reich, hieß es immer. Henri hatte gleich seine Zweifel gehabt. Dann platzte die Bombe! Wortwörtlich. Der feine Mr. King Thomas war ein gedungener Massenmörder. Hatte ein Schiff versenken wollen mit einem Fass Sprengstoff. Nur um die Versicherungsprämie zu kassieren, für seine Ladung, die in Wirklichkeit wertlos war. Das Fass explodierte schon im Hafen und brachte Dutzenden Menschen den Tod. Unzählige andere wurden verletzt. Der Gipfel war, dass sich der Mann anschließend das Leben nahm. So ein feiger Hund! Und Florry, dieses unbedarfte Ding, war gut befreundet mit der Ehefrau dieses Massenmörders! Wie lange war das jetzt her? Fünf Jahre? Oder sechs?

Henri starrte auf die hellgrüne Flüssigkeit in seinem Glas. Angeblich hatte die Ehefrau – wie hieß sie doch gleich? Cäcilie? Celia? Nein, Cecelia – nichts geahnt von den üblen Machenschaften ihres Mannes. Und trotzdem war sie nur wenige Wochen nach der abscheulichen Tat aus Dresden geflohen. Alle hatten den Kontakt zu ihr abgebrochen. Nur Florry nicht. Henri wusste, dass sie heimlich Briefe nach New York schickte. Angeblich an ihre Brüder. Aber eines der Dienstmädchen hatte ihm die Wahrheit erzählt. Henri stöhnte auf. Würde Florence denn nie erwachsen werden? Gut, sie war erst 15 Jahre alt gewesen, als sie sich vor zwölf Jahren kennengelernt hatten. Aber mittlerweile war sie Mutter zweier Kinder, die Ehefrau eines der reichsten Männer in der Stadt und eine »de Meli«. Hätte er doch nur auf seine Mutter gehört. Sie war gleich gegen diese Verbindung gewesen.

»Henri! Henri!« Atemlos plumpste Florence auf ihren Stuhl. »Der Kapellmeister hat mir versprochen, das Lied ›Oh, Dem Golden Slippers‹ zu spielen. Wir wollen singen!«

Henri seufzte. Sie war so hübsch! Diese Mischung aus Anmut, Fröhlichkeit und Schönheit. Florence redete weiter. Er sah, wie sich ihr Mund bewegte. Dieser Kirschenmund. Aber er hörte nicht, was sie sagte. Sah die flinken braunen Augen, das feine Gesicht. Immer in Bewegung. Sie lachte und warf den Kopf zurück. Ein grüner Schleier hatte sich über seinen Blick gelegt. Der Absinth machte ihn wehrlos. Aber er legte auch die Wahrheit offen. Ja, seine Flossie war von Anfang an die Schönste gewesen. Und unbekümmert wie ein Kind. So wie er nie war. Wie niemand war bei den de Melis. Erst recht, nachdem sein Vater aus dem schlichten »Melly« ein »de Meli« gemacht hatte – angeblich stammte die Familie von italienischen Adeligen ab. In Wirklichkeit kamen ihre Vorfahren aus der Schweiz. Tüchtige Uhrmacher. Doch das sollte niemand wissen. Offiziell waren sie seit ein paar Jahren Familie de Meli. Von denen lachte niemand mit entblößten Zähnen und sang hemmungslos mit, wenn die Kapelle das Lieblingslied anstimmte.

Henri nippte an seinem Glas. Der Keller war zuverlässig und diskret. Henri zahlte ein großzügiges Trinkgeld. Langsam verlor er den Überblick über die Menge des grünen Wundermittels, die er schon getrunken hatte. Angeblich wurde es als Medizin benutzt. Henri hatte vergessen, wogegen es half. Ihm half der Absinth ebenfalls. Er brachte ihm Ruhe. Und machte ihn gelassen. Und manchmal zeigte ihm der Alkohol auch, was er liebte. Diese Frau dort, in ihrem sahnegelben Kleid und den schimmernden Perlenohrringen. Wie sie dort stand – umringt von einem kleinen Pulk anderer Gäste, wie sie lachte und lauthals sang. Was für eine Frau! Seine Frau. Henri schluckte. Er strich sich durch den Bart und zündete sich eine Zigarre an. Seine Augen begannen zu tränen. Es war der Rauch. Es war der Rauch. Es war … der Anblick seiner Frau.

Florence war vergnügt. Endlich wieder unter Menschen! Und sie sang so gern. Im Chor der All-Saints-Kirche – das war das eine. Aber hier im Ballsaal von Webers Hotel zwischen all den eleganten Frauen, den charmanten Männern, der Musik. Sie fühlte sich großartig. Der Kapellmeister erwiderte ihren Blick mit einem Schmunzeln und wies seine Musiker an, ein weiteres »da capo!« zu spielen. Als sie die ersten Takte noch einmal hörte, warf sie Henri eine Kusshand zu. Er lächelte. Gott sei Dank, er war nicht mehr böse auf sie.

»Mein Darling, die Musik ist wundervoll. Ich muss singen!«

Henri nickte. Seine Augen waren rot. Er lächelte und tätschelte ihren Arm, als sie nach ihrer Zigarettenspitze griff. Florence küsste ihn auf seinen kahlen Kopf und eilte zurück zu den anderen, die immer noch vor dem Podest mit der Kapelle standen und zu den Takten der Musik schunkelten. Baron von Geyso hielt ihr galant eine Hand entgegen. Er zwinkerte ihr zu. Der Baron mochte sie. Manchmal konnte man denken, er mochte alle Frauen. Florence warf ihm einen tiefen Blick zu, dann sprang sie behände auf die Bühne neben den Kapellmeister und erhob ihre Zigarettenspitze.

»Jetzt unterstütze ich Sie!«, rief sie. »Das ist mein Taktstock!«

Die anderen lachten, während sich Florence mit dem Kapellmeister einen gespielten Wettstreit lieferte. Sogar der alte Smith und seine Frau wollten sich diesen Spaß nicht entgehen lassen und traten zu den Sängern. »Da capo! Aber etwas schneller!«, rief Florence und fuchtelte mit ihrer Zigarettenspitze in der Luft.

Nur die Witwe Clarkson hielt sich bedeckt. Argwöhnisch beobachtete sie das Treiben. Die junge Frau de Meli umringt von Männern und Frauen. Ihr Ehemann nur umringt von zu vielen leeren Gläsern. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht gut gehen. Sie sang mit Florence im Kirchenchor und kannte sie aus der Arbeit für den Wohltätigkeitsbasar im Advent. Eine Frau in ihrer Position muss doch irgendwann einmal erwachsen werden, dachte sie. Zwei Kinder, ein Ehemann, ein Name – und was für einer! Eine feine Adresse, dazu eine Schwiegermutter, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Witwe Clarkson dachte an Antoinette de Meli. Sie waren befreundet. Ob sie ihr von diesem Auftritt ihrer Schwiegertochter heute Abend berichten sollte? Ja, besser sie würde es von ihr erfahren als von irgendjemand anderem.

 

Denn glücklich war diese Ehe nicht. Das konnte jeder sehen. Der arme Henri. Er ließ sich gehen. Das konnte eine junge Frau auf die Dauer nicht aushalten. Witwe Clarkson überlegte. Vielleicht würde sie gegenüber Antoinette eine winzige Anmerkung machen über den vielen Alkohol. Dieser Absinth war das reinste Gift in ihren Augen. Warum musste Henri nur immer so viel trinken? Plötzlich fasste ihr jemand an die Schulter. Erschrocken sah die alte Dame auf. Sie sollte sich einreihen – eine Polonaise zog durch den Saal, angeführt von Florence de Meli. Witwe Clarkson schüttelte den Kopf und ließ die Tanzenden an sich vorüberziehen. Wie konnte Gott nur zwei so unterschiedliche Menschen zusammenführen? Sie seufzte. Morgen würde sie mit Antoinette sprechen.

3. Mutter und Sohn

Dresden, 20. Februar 1881

Die Türklinke wurde langsam nach unten gedrückt. Ein Spalt öffnete sich. Das Kind stand in der Tür und bewegte sich nicht. Es legte beide Hände zusammen und wartete im Halbdunkel. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Es roch nach Bitterorangen, dem Parfüm seiner Mutter. Vorsichtig betrat der Junge das Schlafzimmer. Florence lag im Bett und schlief. Der Junge trat näher und streichelte ihre Hand.

»Mommy, bist du wach?« Seine Stimme war kaum zu hören.

Florence drehte sich zur Seite. »Oh, Henry, mein Liebling. Lass mich noch ein wenig schlafen. Es war so spät gestern.«

Der Junge schwieg, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Wie spät ist es überhaupt?« Langsam richtete sie sich auf und rieb sich die Augen.

»Mommy, darf ich ganz kurz zu dir kommen? Nur kurz! Heute ist Sonntag.«

Florence klappte ihre Bettdecke hoch, Henry schlüpfte zu ihr.

»Bei dir ist es immer so schön kuschelig.« Er schmiegte sich an seine Mutter. »Aber nichts Papa sagen, ja?« Seine Stimme klang ängstlich.

»Natürlich nicht. Ich würde ja auch Ärger bekommen.« Florence drückte ihren Sohn an sich. »Mein großer Schatz, du! Wir halten zusammen. Aber in den Gottesdienst müssen wir trotzdem. Und später zum Mittagessen zu Großmutter Antoinette.«

Sie spürte ein leichtes Pochen in den Schläfen. Sie sah auf die kleine verzierte Konsolenuhr auf dem Kamin. Es war kurz nach sieben. Wann waren sie nach Hause gekommen? Es war lange nach Mitternacht gewesen. Ein herrlicher Abend! Sie schloss die Augen und summte die Melodie von »Oh, Dem Golden Slippers« vor sich hin. Sie seufzte. Zum Glück war Henri zum Schluss so betrunken gewesen, dass er ihr keine Vorhaltungen mehr machen konnte. Der Absinth ist mein heimlicher Verbündeter, dachte sie kurz. Unsinn! Wenn Henri nicht immer so viel trinken würde, wäre er viel umgänglicher. So wie im Sommer 1869, als sie sich kennengelernt hatten.

Florence erinnerte sich an den Mann mit dem vollen schwarzen Haar. Ja, er hatte damals wirklich ausgesehen wie ein italienischer Graf. Und wie charmant er gewesen war! Hatte allen Frauen den Kopf verdreht. Aber sie war es, die er wirklich gewollt hatte. Alle anderen waren doch nur Zeitvertreib gewesen. Das hatte Henri selbst gesagt. Und sie hatte ihn hinreißend gefunden. In seinem eleganten Mantel, dem Hut. Ein vollendeter Gentleman. Sie war so naiv gewesen! Florence erinnerte sich an die Reaktion ihrer Eltern, als sie davon erfuhren, dass Henri de Meli ihr den Hof machte. Die Drapers waren zurückhaltend gewesen, empfanden ihre Tochter als zu jung für eine Ehe. Doch dann hatte es gar keine andere Option mehr gegeben.

Denn sie wusste doch nichts. Rein gar nichts. Nie hatte ihre Mutter sie ins Vertrauen gezogen. Die Freundinnen hatten nur gekichert, wenn das Thema auf die Liebe kam und auf die Wünsche eines Mannes. Und Florence selbst? Sie hatte Henri vertraut. Sich ihm anvertraut. Die heimlichen Küsse, seine zärtlichen Berührungen, wenn er sie bei Spaziergängen – weit genug entfernt von den Argusaugen seiner Mutter – an die Hand fasste oder ihren Hals liebkoste. Florence erinnerte sich, wie liebevoll er gewesen war und wie romantisch. Doch dann war da dieser Abend gewesen. Mit einem Mal war Florence hellwach. Die Kopfschmerzen wurden stärker.

Es war der Karnevalsball gewesen. Ihr erster Kostümball. Der Höhepunkt der ausklingenden Wintersaison. Sie hatte sich als Marie-Antoinette verkleidet. Ihre Mutter war mit ihr im Petit Bazar gewesen, um die passenden Stoffe auszusuchen. Die Schneiderin hatte daraus ein Traumkostüm genäht – Florence fühlte sich wahrhaftig wie eine französische Rokoko-Königin. Die Haare waren gepudert und hochfrisiert. Und schminken durfte sie sich! Das weiß gepuderte Gesicht mit Schönheitsfleck und schwarz umrandeten Augen, dazu der zinnoberrote Mund. Henri war begeistert gewesen. Den ganzen Abend lang wollte er immerzu mit ihr tanzen, dabei hatten sich viele Verehrer in ihr Tanzkärtchen eingetragen. Aber Henri gelang es, seine Konkurrenten auszustechen. Und ihr war es ganz recht gewesen. Henri war als Pirat verkleidet – in einem weißen Rüschenhemd, ein buntes Tuch um den Hals, die Haare nach hinten gekämmt. Sogar eine Augenklappe hatte er aufgetrieben. Florence war hingerissen.

»Du bist meine schöne Beute«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, sie von der Champagnerbar weggezogen und war lachend mit ihr ein Stockwerk höher geeilt in einen langen dunklen Flur. Unter sich hörten sie die Musik und die Stimmen aus dem Ballsaal. Florence fühlte sich verwegen an seiner Seite. Das hier hatte nichts zu tun mit ihren Gesangsstunden bei Frau von Hohenstein von der Semperoper. Oder dem langweiligen Deutschunterricht bei den unverheirateten Schwestern Baumann. Die meisten ihrer Mitschülerinnen mussten an diesem Abend zu Hause bleiben. Florence dagegen hatte ihren Vater so lange bekniet, bis er ihr erlaubt hatte, zum Ball zu kommen. Schließlich war sie schon 16! Es war herrlich, erwachsen zu sein.

Henri hatte sie geküsst. Ihre rote Lippenfarbe hatte sich auf seinem Mund verteilt. Er hatte sich an sie gepresst, ihr etwas ins Ohr geflüstert, was sie nicht verstand. Florence hatte versucht, sich aus seiner Umarmung zu lösen. »Oh, Henri, es ist alles so aufregend!«, begann sie. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie drei Gläser Champagner getrunken hatte. Doch Henri schien gar nicht zuzuhören. Er war stark. Viel stärker als Florence. Sie hatte Angst bekommen. Und sich selbst gleichzeitig kindisch dabei gefunden. Sie dachte, so sei das wohl zwischen Mann und Frau. Der Mann hat dieses innere Feuer, das nur eine Frau zügeln kann. So ähnlich hatte sie es einmal in einem Roman gelesen, den ihr ihr Bruder Thomas heimlich ausgeliehen hatte. Als Henri ihre Röcke hob, hatte sie ihn fortschieben wollen. Aber Henri war wie von Sinnen gewesen. Was war nur mit ihm los? Er tat ihr weh. Sie schrie. Doch keiner hörte sie.

Florence behielt das Erlebnis im dunklen Flur für sich. Am nächsten Tag hatte Henri ihr ein herrliches Blumenbouquet schicken lassen, dazu eine Karte mit innigen Worten der Zuneigung. Die alten Drapers waren beeindruckt gewesen. Nur ihre Brüder Thomas und Theodore mochten den Verehrer ihrer Schwester nicht. Florence brauchte ein paar Tage, bis sie ihre alte Unbekümmertheit zurückerlangte. Die Schmerzen waren vergangen. Das Blut an ihren Unterröcken hatte niemand entdeckt, sie selbst hatte sich eines Abends in die Waschküche geschlichen und die Flecken herausgeschrubbt. Seit diesem Karnevalsabend fühlte sie sich anders, beschmutzt. Es verwirrte und beschämte sie. Und Henri? Er schickte kleine schmeichelhafte Billets, lud sie zu einem Spaziergang ein – natürlich in Obhut ihrer Mutter – und gab sich weiterhin charmant. Und dennoch, er schien ihr eine Spur zurückhaltender, unverbindlicher. Plötzlich war er häufig verhindert.

Florence war ratlos gewesen. Genauso ratlos war sie immer dann, wenn wieder dieses Ziehen im Bauch einsetzte. Zuerst hatte sie geglaubt, ihre Periode kündige sich an. Doch sie blieb aus, die Bauchschmerzen nicht. Und sie hasste auf einmal den Geruch von frischem Kaffee. Eines Morgens konnte sie den Ekel nicht länger unterdrücken und stürzte vom Frühstückstisch, um sich über ihrer Waschschüssel zu übergeben. Ihre Mutter war argwöhnisch geworden. »Was ist los, Flossie, hast du dir den Magen verdorben?« Ihr Blick war durchdringend.

Florence hatte geweint und ihr erzählt, dass sie auf einmal keinen Kaffeeduft mehr vertrug und dass ihr morgens, gleich nach dem Aufwachen, schon schlecht wurde. Elizabeth Draper hatte den Hausarzt kommen lassen. Ihr Verdacht wurde bestätigt: Das Mädchen war schwanger.

Florence setzte sich auf und schüttelte die Kopfkissen aus. Dann sank sie zurück. Zum Glück hatte sie ihr eigenes Schlafzimmer. Jeden Morgen neben einem schnarchenden, nach Schnaps riechenden Ehemann aufzuwachen, war kein Vergnügen. Aber der kleine Henry hier, der sich so selig an ihre Seite schmiegte, der war ein Glück! Sie streichelte über seinen Kopf.

»Jetzt müssen wir zwei aber wirklich aufstehen«, sagte sie leise. »Gleich kommt Adele mit dem Kaffee. Und dein Vater darf nicht herausfinden, dass du hier bei mir bist.«

Der Junge ließ sich noch tiefer ins Bett sinken. »Ach, Mommy, ich mag aber nicht. Daddy wird sowieso wieder einen Grund finden, auf mich wütend zu sein.«

»Ja, ich weiß.« Bekümmert strich sie ihrem Sohn über die Wange. »Ich wünschte, er würde mich schlagen, aber das wagt er nicht. Mein armer Junge! Wir dürfen deinen Daddy nicht zornig machen. Hörst du?«

Das Kind nickte. »Aber ich habe manchmal so eine Angst vor ihm, dass ich gar nicht mehr antworten kann, wenn er mich etwas fragt. So wie gestern, bevor ihr ausgegangen seid. Ich sollte Vokabeln aufsagen. Aber mit einem Mal fielen mir die Wörter nicht mehr ein.« Er begann zu weinen.

»Sschh, sschh, beruhige dich, mein Kleiner. Ja, ich weiß, ich weiß. Es ist schlimm. Ich wünschte, ich könnte dich besser vor ihm beschützen.« Auch Florence’ Stimme klang auf einmal dünn. Sie sah die Szene vor sich, Henri kommandierte seinen Sohn vor sich wie einen Zinnsoldaten. Das Kind wurde von ihm selbst unterrichtet. Er wisse genug, um den Jungen auf das Leben vorzubereiten, hatte Henri erklärt und kategorisch ausgeschlossen, dass ein Privatlehrer ins Haus kam oder der Junge eine Schule besuchte. So hatte ihr Ehemann wenigstens eine Aufgabe, dachte Florence grimmig. Henri hatte nie in seinem erlernten Beruf als Bergbau-Ingenieur gearbeitet, sondern lebte vom Geld seiner Mutter. Er war Privatier. Vielleicht war das der Grund für seine dauernde Unzufriedenheit. Gestern war es besonders schlimm gewesen. Vielleicht hatte Florence ihn gereizt – mit ihrer guten Laune, der Vorfreude auf den Abend. Als der kleine Henry dann verzweifelt nach der richtigen Antwort suchte, hielt sein Vater das hölzerne Lineal drohend in der Luft. Er wartete gar nicht mehr auf eine Antwort, sondern ließ das dünne Stück Holz niedersausen. Der Vater packte seinen Sohn und schlug auf ihn ein. Das Kind schrie. Florence wollte ihm zur Hilfe eilen, in dem Moment zersprang das Lineal in drei Teile. Der Junge stürzte weinend in die Arme seiner Mutter.

»Ja, geh nur zu deiner Mutter! Wenn du so werden willst wie sie, Lieder trällern und feiern – mehr wird aus dir auch nicht, wenn du nicht endlich deine Hausaufgaben machst«, brüllte Henri mit rot angelaufenem Kopf und schwenkte den letzten Rest des Lineals in der Luft.

»Henri, wie kannst du so grausam sein?«, schrie Florence, außer sich vor Wut. »Was machst du denn, hm?! Was kannst du denn? Ich wünschte, du hättest eine Anstellung, dann würdest du uns endlich in Ruhe lassen.«

Henri atmete schwer. »Ah, jetzt halten Mutter und Sohn wieder zusammen. Das ist ja wunderbar. Da ist es doch gut, dass der Junge ab und zu eine Tracht Prügel bekommt, damit ihr zwei euch dann wieder in den Armen liegen könnt.«

Florence warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Komm, mein Schatz, ich bringe dich zur Kinderfrau. Minnie und du – ihr müsst zu Abend essen. Dein Daddy und ich sind heute Abend auf ein Fest eingeladen.«

Vorsichtig zog Florence die Bettdecke zur Seite und strich ihrem Sohn über den Rücken. »Tut es noch sehr weh?«

 

Der Junge nickte.

Die Kinderfrau soll dir wieder ein paar Umschläge mit kaltem Essigwasser machen. Dann wird es schnell wieder gut.«

Es klopfte. Vor der Tür stand das Dienstmädchen mit einer dampfenden Tasse Kaffee. »Guten Morgen, gnädige Frau. Welches Tageskleid möchten Sie heute zum Gottesdienst anziehen? Ich soll Ihnen vom gnädigen Herrn sagen, dass Sie alle heute den gesamten Tag bei seiner Mutter verbringen werden.«

Florence rollte mit den Augen. »Vielen Dank, Adele. Ich werde das grüne Kleid nehmen. Bitte legen Sie es heraus mit dem passenden Hut und den Handschuhen. Ach, und bitte bringen Sie mir noch ein wenig ausgepresste Zitrone für den Kaffee. Vielleicht kann ich damit die Kopfschmerzen verscheuchen.«

Das Dienstmädchen knickste und verschwand, um die Aufträge zu erledigen.

»Oh, Henry, mein Schatz, da hat sich Daddy gleich etwas Passendes überlegt, um uns den kompletten Sonntag zu verderben. Den ganzen Tag bei Großmutter Antoinette, wie soll ich das aushalten?« Sie ließ sich auf ihr Kopfkissen zurückfallen.

»Aber, Mommy, du hast doch mich!« Henry drückte sich an sie.

Florence rückte ein wenig von ihm ab und betrachtete ihren Sohn nachdenklich. Dieses Kind war ihre Freude. Ihr Glück. Aber dieses Kind war auch der Grund, weshalb sie heute Frau de Meli war – gefangen in einer Ehe, die beide Seiten unglücklich machte. Sie rieb sich die Schläfen. »Komm, mein Schatz, wir müssen uns fügen.«