Afrika - Leben, Lachen, frei sein

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„Here we are.“ Er deutete auf das Schild mit Gate A18. Ich schaute ihn überfordert an. Wir standen noch immer in der Abflughalle. Das Schild hätte ich locker auch allein gefunden. „Ähm okay.“ Ich nickte und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. „Thank you for your help. Have a nice …“ „What is with a tip?“, unterbrach er mich. Er drehte sich hektisch zu allen Seiten um, als sei er gerade auf der Flucht. „Tipp?“ Warum wollte er den jetzt einen Tipp von mir haben? Und vor allem für was? Ich schaute ihn fragend an. Erst als er seinen Daumen und Zeigefinger aneinanderrieb verstand ich, worauf er hinauswollte: Trinkgeld.

„Yes, a tip. For the way to the gate and printing out your ticket, äh, for the check-in.“ Wieder schaute er sich ungeduldig nach allen Seiten um. „Ah, you mean tip. Money. Sag das doch gleich!“ Ich setzte meinen Rucksack ab und holte den weißen Umschlag heraus, in dem ich meine bestellten namibischen Dollar aufbewahrte. Die Scheine schimmerten in allen möglichen Farben. Gelb, grün, lila, blau, rot. Auf den meisten Scheinen waren Springböcke zu sehen, auf manchen waren sogar die Körper von Büffeln und Löwen abgedruckt. Das Geld hier hatte echt seinen Charme. Kein Vergleich zu Euro-Noten, auf denen langweilige Brücken oder Frauen mit Hochsteckfrisuren zu sehen sind.

Ich blätterte durch die Löwen und Büffelköpfe. Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich ihm geben sollte. Zumal ich auch gar nicht mehr wusste, wie der Umrechnungskurs von Rand zu Euro war.

„How much do you want?“(-> Fehler Nummer 1 an diesem Tag).

„Five hundred!“ Ohne zu überlegen reichte ich ihm fünf rote Löwinnen. Ein wenig überrascht nahm er die hundert Dollarscheine schnell entgegen und steckte sie in seine Westentasche. „Ähh …“ Ich glaube, er hatte sich mental aufs Handeln und Feilschen eingestellt. „Thank you?“

„You are welcome.“ Ich lächelte und steckte den Briefumschlag mit den restlichen Tieren zurück in die Tasche. Ich hoffte, dass ich ihn und seine aufdringliche Freundlichkeit nun endlich los war. Doch er ging nicht.

„I can bring you to security check.“

„No thank you. I just want to go to the store to buy some …“

„Follow me.“ Er ließ ein Nein meinerseits nicht gelten. Zwanzig Meter hinter dem Gate-Schild blieb er stehen. Wir standen jetzt direkt vor der Sicherheitsschleuse.

„Here we are.“

„Yes, here we are. Thank you. Have a nice day. Bye.“

„Hey, hey, hey. My friend.“ Er grinste. „What is with a second tip? For the way to the security check …“

Es folgt Fehler Nummer 2 an diesem Tag, der ein wenig an Fehler Nummer 1 erinnerte:

„How much?“

„300.“ Er streckte seine Hand grinsend aus. Wieder holte ich den Umschlag aus meinem Rucksack hervor. Ich gab ihm zwei grüne Antilopen und einen lila Büffel.

„Here, but that is the last tip today.“ Er nickte, verabschiedete sich und lief davon. Was ein Typ, dachte ich und setzte meinen spürbar leichter gewordenen Rucksack wieder auf. Wenige Meter später legte ich ihn bei der Sicherheitskontrolle behutsam in eine graue Kiste, mit der er dann auf dem Rollbrett durch den Tunnel zum Scannen geschoben wurde. Auf der anderen Seite des Tunnels durfte ich ihn vor dem Aufsetzen noch mal vor den Augen eines Sicherheitswachmannes ausräumen, ehe es dann mit einer voller Cola-Flasche weniger zum Ausreisestempeln ging.

Fassungslos begutachtete ich meinen Pass. Ich saß auf einer Bank und hatte eigentlich perfekte Sicht auf die Landebahn, doch das interessierte mich jetzt nicht. Dieser eine Stempel auf der zweiten Seite im Reisepass ließ mich nicht los. Gute fünfzig Euro hatte er mich gekostet. Fünfzig Euro oder anders ausgedrückt: Fünf rote Löwen, zwei grüne Antilopen und ein lila Büffel. Achthundert Rand - gut ein Drittel meines Geldes war weg. Dreitausend hatte ich insgesamt mitgenommen. Jetzt waren es nur 2200, und das nach einem Tag. Wie sollte das nur weitergehen? Mit angesäuertem Blick wuschelte ich mit der Hand durch meine Haare in der Hoffnung, eine Erklärung zu finden. Ich war richtig sauer und angepisst. Sauer auf mich selbst, weil ich so naiv war. Wie konnte ich bitte nur so dumm und naiv gewesen sein? Wie konnte ich mich nur so abziehen lassen? Wie? Wie ich es auch drehte und wendete, es ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Kopfschüttelnd verstaute ich den Pass mit dem teuren Stempel-Souvenir wieder in meinem Rucksack und widmete mich meinem Handy. Ich konnte den Pass nicht mehr sehen. Zumindest funktionierte jetzt das Flughafen-WLAN. Wenigstens eine Sache im Vergleich zu meinem gesunden Menschenverstand. Ich ging auf WhatsApp in die Familiengruppe und las die Nachrichten, die ich seit Zürich zugeschickt bekommen hatte.

„Schlaf schön und melde dich morgen, wenn du gelandet bist. Gute Nacht. :*“ (Mama, um 22:30 Uhr).

„Guten Morgen. Hast du schlafen können? Wie war der Flug? Deine neugierige Mutter, hihi. ;D“ (Mama, um 11 Uhr).

„Hey Silas, bist du schon gelandet? Papa.“ Ich starrte auf den Chatverlauf und überlegte, was ich ihnen schreiben sollte. Sie sollten sich bloß keine Sorgen machen und nicht wissen, dass ich gerade abgezogen worden war. Ich beschloss, ihnen die Geschichte mit dem selbstständigen Flughafentypen erst zu erzählen, wenn ich zurück in Deutschland war. Wenn es dazu überhaupt kommen sollte. Wenn mich schon ein einfacher Mitarbeiter am Flughafen übers Ohr haut, was macht dann erst ein echter Löwe oder Gepard mit mir auf der Farm? Während ich leicht verunsichert war und mein Selbstbewusstsein im Keller suchte, deutete meine Nachricht auf das komplette Gegenteil hin:

„Bin gerade gelandet. Mir geht es super. Alles läuft bisher nach Plan. Außer kurzen Turbulenzen über Tunesien keine Vorfälle. Gehe jetzt was essen und melde mich, wenn ich in Windhoek gelandet bin.“ Ein grinsender, fröhlicher Smiley fehlte in der Nachricht. Was sollte ich auch anders schreiben, um meine Eltern nicht zu beunruhigen?

Fröhlich und mit einem breiten Grinsen schaute ich zwei Stunden später aus dem Fenster. Die vielen Wolkenberge hatten meinen Ärger über die 800 Rand vergessen lassen. Große weiße Wolken, die sich zusammengeschlossen hatten und regungslos am Himmel schwebten. Jede Wolke warf einen dunklen Schatten in die sonnige Landschaft. Ein Phänomen, das ich zum ersten Mal in meinem Leben beobachten konnte. Damals nach Hamburg war es bewölkt und dunkel gewesen. Fasziniert knipste ich von dem Wolkentreiben ein paar Bilder. Alles sah so herrlich aus. Das strahlende Weiß der Wolken, der tiefblaue Himmel und die afrikanische Savanne darunter, die von lauter Bäumen und Büschen übersät war. Nur das Geräusch der Turbinen erinnerte einen daran, dass man sich gerade in einem Flugzeug befand und kein Vogel war.


„Sir, do you want to eat or drink something?“ Der Essenswagen war mittlerweile in unserer Sitzreihe angekommen. Es gab irgendein Fleischgericht, dazu Kartoffeln und Gemüse. „Sir?“ Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass der Mann von South African Airlines mit mir sprach. Gedankenverloren hatte ich seit dem Start die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut.

„Just a water for me. Thank you.“ Dankend nahm ich die kleine Wasserflasche entgegen. Obwohl ich vor gut einer Stunde noch eine ganze Kanne Rooibostee getrunken hatte, hatte ich jetzt schon wieder einen Höllendurst. Der Geschmack vom Mittagessen lag noch immer auf der Zunge. Zusammen mit frischen Strauchtomaten, sämtlichen Kräutern und Knoblauchöl wurden mir leckere Spaghetti im Restaurant serviert. Sie schmeckten herrlich. Noch nie hatte ich in Afrika so gute Pasta gegessen. Selbstverständlich gab ich der Kellnerin Trinkgeld. Diesmal hatte der Tip eine Null weniger. Zufrieden und noch immer gut gesättigt schaute ich zu meiner Sitznachbarin, die sich gerade ein großes Stück Fleisch mit Soße auf die Gabel schob. Sie war recht stämmig und gut gebaut und trug ein großes Kleid mit verschiedenen Mustern und Symbolen drauf. Ein bisschen sah sie wie ein Pfau aus, zumindest präsentierte sie so voller Stolz ihr Gewand.

„Enjoy your meal.“ Ich lächelte ihr zu. Freundlich lächelte sie mit vollen Hamsterbacken zurück. Sie hatte sich für den Gockel mit Reis entschieden und es schien ihr gut zu schmecken.

„No, no thank you, I do not want.“ Sie hatte ihren Teller in meine Richtung geschoben, doch ich lehnte dankend ihr Angebot zum Probieren ab. „I am full, haha. I had pasta at the airport.“ Sie nickte und widmete sich wieder ihrem Teller. Vor dem Start hatten wir uns ein wenig über meine Reise und das Thema Religion unterhalten. Mary arbeitete für die evangelische Kirche und war auf dem Heimweg nach Windhoek. Sie hatte erzählt, dass sie für die Kirche durch die ganze Welt flog, um Gottesdiente abzuhalten und mitzugestalten. Sogar in Wuppertal sei sie schon mal gewesen und mit dem „flying train“ gefahren. Mit ihrer Frage, ob ich religiös sei, hatte sie mich sehr zum Nachdenken gebracht. Ich wusste es nicht so richtig. Ich ging zwar immer Heiligabend mit meiner Familie in die Kirche, doch als wirklich religiös würde ich mich nicht bezeichnen. Zumindest hat mein Glaube nichts mit Religion oder irgendeiner Ideologie zu tun. Meiner Meinung nach ist Religion ein sehr missbrauchtes Wort, dass mehr spaltet als vereint. Es gibt eine Unterteilung in Christen, Juden oder beispielsweise Muslime, jedoch heißt es in jeder Religion „Wir und die anderen.“ Ich finde es gut und schön, wenn Menschen Kraft, Halt oder eine Aufgabe in ihrer Religion/in ihrem Glauben finden, jedoch sehe ich auch eine Gefahr, wenn man sich selbst zu sehr mit der eigenen Religion und deren Auslegung identifiziert. Siehe Glaubenskriege auf der Welt. Dementsprechend war auch meine Antwort auf ihre Frage etwas differenziert:

 

„I believe, but not in a religious way. I believe in life and I would describe myself as a spiritual person. For me life is energy. Belief is an energy. You are energy. Yes, I am Christian, and I go to church on Christmas, but I am not religious. I am a believer, but not a religious believer. I believe in god, but god is for me life, you know.“ Sie verstand was ich meinte und freute sich über meine Antwort. Für sie war Glaube auch Energie, die Menschen, speziell vielen Menschen in Afrika, Kraft und Hoffnung spendete. Sie fand es schade und traurig, wenn Menschen im Namen ihrer Religion Kriege führten. Für sie hatte das nichts mit Religion zu tun. Glaube sei Liebe und verbinde Menschen, anstatt zu töten, meinte sie.


„Love what you do, my friend“ Sie machte eine kurze Pause und lächelte. „ Be grateful for what life or God has given you. Love your life and love yourself. You are love, life is love.“


Die Klimaanlage in Georgs Auto fühlte sich an wie ein heißer Föhn. Ich glaube, dass es ihm Spaß machte, mir die ganze Zeit heiße Luft ins Gesicht zu pusten. Die letzte Inspektion des Wagens musste schon Jahre zurückgelegen haben. Dank dieser Tatsache floss mir das Wasser wie ein reißender Bach die Schläfe hinunter, um von da auf meine Jeans zu tropfen. Die Jeans. Ich konnte den Moment kaum erwarten, wo ich sie mir von den Beinen reißen, gegen irgendeine Wand feuern und dann wild auf ihr herumtrampeln würde. Sie klebte wie ein Taucheranzug an meinem Körper. Mit jeder Hitzewelle entwickelte ich immer mehr Hass auf sie. Sie fühlte sich so eklig und falsch an meinem Körper an. Ich schwor mir, sie in den nächsten vier Wochen regelrecht zu ignorieren und sie keines Blickes zu würdigen. Was ich nicht ignorieren konnte, war die Temperaturanzeige im Auto. Sie zeigte 28 Grad an, doch das kaufte ich ihr nicht ab. Es waren bestimmt vierzig. Die Nachmittagshitze brannte ohne Pausen auf das Autodach herab und es machte nicht den Anschein, dass sie damit in den nächsten Minuten aufhören würde. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen, die für einen kurzen Moment hätte Schatten spenden können. Seit gut zwanzig Minuten fuhren wir vorbei an ausgetrockneten und verbrannten Wiesen, auf denen ab und zu abgemagerte Rinder in der prallen Sonne standen und uns hinterherschauten. Georg war Mitarbeiter der Unterkunft, die für die nächste Nacht mein Schlafplatz und Zuhause sein sollte. Mitten in Windhoek, der Hauptstadt Namibias. Er hatte mich am Hosea Kutako International Airport abgeholt. Dieser lag mitten in der Pampa. Mit einem Schild, auf dem in Sauklaue mein Name stand, hatte er auf sich aufmerksam gemacht und mir zugewunken. Wie seine Schrift war auch sein englischer Akzent. Sein Nuscheln war kaum zu verstehen. Manchmal wusste ich gar nicht, wovon er gerade sprach und was er meinte. So lachte ich dann, wenn er auch lachte, oder nickte einfach nur, wenn ich es für richtig und angebracht hielt. Manchmal redeten wir auch gar nicht und starrten nach vorne auf die asphaltierte Straße, die uns über kleine Hügel und ausgetrocknete Flüsse führte. Oft erschrak ich, wenn ein Auto am Horizont aus der verschwommen Bodenhitze auftauchte und auf uns zufuhr. Nicht selten sah ich schon von Weitem eine Kollision kommen und meine Reise mit einem lauten Knall enden. Erst als wir dann links am entgegenkommenden Auto vorbeifuhren, erinnerte ich mich daran, dass in Namibia ja Linksverkehr herrschte. Der gute, alte Linksverkehr. Neben der unausstehlichen Hitze war der Linksverkehr wirklich die größte Umstellung für mich bisher. Auf dem Parkplatz wollte ich schon rechts ins Auto einsteigen und wunderte mich, als ich plötzlich ein Lenkrad am Beifahrersitz entdeckte. Georg staunte nicht schlecht, als er nach dem Verstauen meines Gepäcks im Kofferraum plötzlich jemandem auf seinem Fahrerplatz sitzen sah.

„Do you want to drive?“, sagte er lachend in meine Richtung und wartete geduldig, bis ich die Situation verstand und den Platz mit ihm tauschte.

Rums. Wieder ein Lkw, der mit vollem Tempo an uns vorbeirauschte und eine große Sandwolke aufwirbelte. Ich hatte ihn so schnell gar nicht kommen sehen.

„It‘s so dry.“ Georg betätigte den Scheibenwischer, um die vielen aufgewirbelten Sandkörner von der Frontscheibe zu entfernen.

„We had rain five weeks ago. This year is very dry.“ Er lachte. Die Scheibenwischer funktionierten nicht. Nach der defekten Klimaanlage wunderte mich das nicht.

„Five weeks“, entgegnete ich ihm ungläubig. Der Lkw und die Staubwolke wurden im Rückspiegel immer kleiner. „Why do I need a rain-jacket?“ Ich dachte an meine Sieben-Euro-Regenjacke von Decathlon, die ich auf den letzten Drücker noch gekauft hatte. Bis vor drei Tagen war ich noch davon ausgegangen, dass ich eine Jacke besaß, ehe ich beim Kofferpacken eines Besseren belehrt wurde. Ich fragte mich echt, warum sie mit auf der Packliste stand.

„It does not often rain here. Especially in Windhoek or in this area“, erklärte mir Georg, während er einen langsameren Transporter auf der Spur überholte. „But it is rain season in Namibia. Sounds strange, but it is true. I think you will experience a lot of rain when you live on the farm or you go to Etosha.“

„Seriously?“ Beim Blick auf den wolkenlosen Himmel klangen seine Worte wirklich strange. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er mit Etosha meinte, konnte mir aber nur schwer vorstellen, dass es in den nächsten Wochen irgendwo mal ein Regentröpfchen geben sollte.

„Difficult to imagine. In Germany we have a lot of rain. Especially in Wuppertal.“

„Wuppertal. What is that?“ Ich erzählte ihm von der Schwebebahn und meiner Heimat. Zu meiner Überraschung gab es zwischen Windhoek und meiner Heimatstadt viele Gemeinsamkeiten. Windhoek war vom Profil ähnlich hügelig. Es ging rauf und runter. Viele Häuser waren in den Berg gebaut, ähnlich wie zu Hause im Bergischen Land. Neugierig schaute ich aus dem Fenster und beobachtete das bunte Treiben auf den Straßen. Es war viel los in Windhoek. Die meisten Menschen hatten jetzt wahrscheinlich Feierabend und machten sich auf zu ihren Wohnungen und Familien. Ich erinnerte mich an die Worte meines Nachbarn, der mir von den vielen deutschsprachigen Straßennamen erzählt hatte. Es war unglaublich: Auf jedem zweiten Straßenschild war ein deutscher Name zu lesen: Bismarckstraße, Gartenstraße oder Schusterstraße, um nur wenige zu nennen. Auch die vielen deutsch benannten Schulen und Universitäten erinnerten an die deutsche Kolonialzeit vor hunderten Jahren. Alles wirkte sehr deutsch, bis auf die brüllende Hitze vielleicht. Erleichtert stieg ich vor einem quietschgelben Haus aus Georgs aufgewärmtem Auto. Per Knopfdruck öffnete er das grüne Einfahrtstor und begrüßte im Vorbeigehen einen neugierigen Papagei, der uns in seinem grünen Federkleid und mit lautem Gekreische hallo sagte. An der Rezeption stellte mir Georg seinen Sohn vor. Dieser war wie sein Vater braungebrannt, sprach zum Glück aber besser Englisch als er. Ich füllte einen Zettel mit meinen Daten aus und bezahlte meine Übernachtung mit Kreditkarte.

Mein Zimmer lag in der ersten Etage. Georgs Sohn half mir beim Tragen des Koffers und wünschte mir einen schönen Aufenthalt und viel Spaß auf der Farm, ehe er sich zum Rugby-Training verabschiedete. Jetzt wusste ich auch, warum er meinen schweren Koffer mühelos mit einer Hand die schmale Treppe hatte hochtragen können. Er hatte Pranken wie ein Bär, Waden wie die eines ausgewachsenen Stieres und Muskeln an Stellen, an denen ich noch nicht mal Stellen hatte. Ich wollte gar nicht wissen, welche Gewichte er beim Bankdrücken stemmte. Auch wenn meine Oberschenkel von der Größe her zusammen einen seiner Oberschenkel ausmachten, tat ich mir schwer, sie aus der nassgeschwitzten Jeans zu bekommen. Ich hüpfte fast eine halbe Minute auf meinem rechten Bein durchs Zimmer, ehe ich mein linkes befreien konnte. Schnell hopste ich ins Badezimmer in der Hoffnung auf eine erfrischende kalte Dusche. Auch wenn das lauwarme, nach Chlor riechende Wasser aus dem Duschkopf nicht ganz meine Erwartungen erfüllen konnte, fühlte ich mich danach wie neugeboren. Erfrischt und gut gelaunt legte ich mich in kurzen Shorts aufs Bett, streckte alle Beine und Arme von mir und atmete einmal durch.

21 Stunden, nachdem ich zum ersten Mal die Stimme von Franz Huber gehört hatte, war ich endlich da. 21 aufregende und intensive Stunden voller neuen Erfahrungen. Viele neue Menschen hatte ich bereits kennenlernen dürfen. Viele Sachen und Dinge sehen und erleben können. Ich setzte mich in den Schneidersitz und tippte eine Nachricht für zu Hause ab: „Bin jetzt in der Unterkunft und gehe gleich noch Pizza essen. Melde mich morgen.“

Ich legte das Handy auf den Nachttisch und stöpselte es, verbunden mit dem Aufladekabel, in die Steckdose dahinter. Die Batterie am Bildschirm leuchtete grün auf. Ich schnappte meine Wasserflasche, zog meine Flip-Flops an und die Zimmertür hinter mir zu. Mit Sonnenmilch und Brille bewaffnet ging ich nach draußen zur Treppe und setzte mich auf die oberste Stufe. Dort beobachte ich in aller Ruhe, wie die Sonne mit ihren warmen Strahlen hinter den Hügeln Windhoeks verschwand und den Abend einläutete.

EXPECT THE UNEXPECTED
(CHAPTER FIVE)

„Ich meine schon“, antwortete mir Marlene auf meine Frage, ob der Shuttlebus zur Farm nicht schon um 9 Uhr kommen sollte. „Bissl spät, der Gute.“ Sie lachte und richtete ihre Brille. Ihr Wiener Dialekt war unüberhörbar. Georg hatte mir am Vortag auf der Autofahrt vom Flughafen schon von ihr erzählt. Sie sollte wie ich die nächsten vier Wochen am „Go Wildlife“-Projekt teilnehmen und mitten im Busch auf einer Farm leben. Sie war einige Stunden vor mir in Windhoek gelandet und in der Unterkunft eingecheckt. Unsere erste Begegnung war am Vorabend ein wenig holprig verlaufen. Nach dem Sonnenuntergang war ich an ihrem Zimmer vorbeigegangen und hatte an ihre Tür geklopft. Mit verschlafenen Augen öffnete sie mir und wusste erst gar nicht, was los war. Erst als ich meinen „Hello Roomservice“-Spruch beim Klopfen als Joke enttarnte, verstand sie, dass ich kein Mitarbeiter der Unterkunft war. Gemeinsam mit ihr und unseren Koffern saß ich jetzt auf der Veranda auf einer Bank und beobachtete den Papagei, wie er immer wieder einen Fuß durch den Käfig streckte und „Hallo“ sagte. Langsam bekam ich ernste Zweifel, dass wir heute noch abgeholt würden. Es war mittlerweile elf Uhr, und immer noch war vor dem grünen elektronischen Tor weit und breit kein Bus in Sicht.

„Where is the bus?“ Georg streckte seinen Kopf aus der Tür und wunderte sich, dass wir immer noch dasaßen. Wir hatten uns eigentlich schon vor zwei Stunden von ihm verabschiedet. Wir beide zuckten mit den Schultern.

„We do not know …“, sagte Marlene in seine Richtung.

Georg erzählte, dass zwei Stunden Warten auf den Shuttle keine Seltenheit sei. Oft musste der Fahrer mehrere Unterkünfte abklappern, um alle Volontäre einsammeln zu können. Da muss er ja dieses Mal viele einsammeln, dachte ich mir.

„Ich bin schon richtig gespannt auf die anderen Volontäre“, sagte Marlene. „Vor allem, woher die alle so kommen.“

„Ich bin auch gespannt, mit wem man so aufs Zimmer kommt.“ In der Vorbereitungsmail hatte ich bereits gelesen, dass maximal vier Personen in einer Unterkunft zusammenleben würden. Getrennt nach Jungen und Mädchen natürlich. „Und auf das Essen bin ich vielleicht gespannt. Ich hoffe, dass wir rechtzeitig zum Mittagessen auf der Farm ankommen. Ich könnte schon wieder was essen.“

„Ernsthaft?“ Marlene schaute ungläubig durch ihre großen Brillengläser. „Wir haben doch vorhin erst gefrühstückt. Hattest du nicht vier Toasts mit Spiegelei und Schinken gegessen?“ Sie lachte.

„Erstens waren es sechs und zweitens: Was verstehst du bitte unter vorhin? Vorhin ist drei Stunden her haha.“ Ich durchwühlte meine Tasche und holte einen Schokoriegel hervor. Mit diesem und mehreren Wasserflaschen hatte ich mich gestern Abend noch eingedeckt, als ich mit Georg zu einem Supermarkt fuhr. Er hatte mir angeboten, mich zu einer Pizzeria zu bringen, da es in der Unterkunft nur Frühstück gab. Zum Dank spendierte ich ihm zwei Dosen Bier, über die er sich sehr freute. Während sich die abendliche Fahrt für ihn mehr als gelohnt hatte - eine Dose trank er noch auf der Rückfahrt vom Supermarkt zur Unterkunft leer -, war meine Freude über die Pizza eher relativ. Ich hatte noch nie so viele Oliven auf einer Pizza gesehen. Ich hasste Oliven und war dementsprechend zurück auf meinem Zimmer mehr mit Olivenrauspicken als mit Essen beschäftigt. Satt wurde ich trotzdem.

 

Ein Hupen ertönte, gefolgt von einem weißen Bus, der vor dem Einfahrtstor hielt. Mehr enttäuscht als glücklich steckte ich den Riegel wieder in meine Tasche. Ich hatte mich schon auf ihn gefreut. Marlene und ich verabschiedeten uns von Georg und liefen mit unserem Gepäck dem Bus entgegen. Hinter dem Bus war ein kleiner Anhänger eingespannt, auf dem der Fahrer schon wartete. Er begrüßte uns und nahm uns die Koffer ab.

„What about this?“, fragte ich ihn und zeigte auf meinen Rucksack am Rücken. Ich war mir nicht sicher, ob im Bus für ihn Platz war. „You can put the bag under your seat.“ Zufrieden mit der Antwort folgte ich Marlene mit dem Rucksack in der Hand und kletterte die schmale Treppe ins Businnere hoch. Zu unserer Überraschung war der Bus komplett leer. Keine zwanzig Volontäre, die zwei Stunden Verspätung hätte begründen können. Komisch.

„Komm, wir gehen nach hinten. Da ist noch alles frei.“ Wir zwängten uns mit unserem Handgepäck durch den schmalen Gang in den hinteren Teil des Busses.

„Whaaats up, guys?“ Erschrocken schaute ich in die letzte Reihe. Der Bus war doch nicht leer. Ganz hinten links saß ein Junge, der neugierig seinen Kopf über die Kopflehne des vorderen Sitzplatzes streckte. Das glaub ich nicht. Das kann nicht wahr sein. Sofort schoss mir ein Name durch den Kopf: Harry Potter. Bis auf die fehlende Narbe auf der Stirn sah er aus wie Harry. Kurzes schwarzes Haar, Nerdbrille und englischsprachig. Er grinste uns schief an. Marlene und ich reichten ihm die Hand zur Begrüßung. „Hi, I am Marlene.“ „Nice to meet you.“ „Nice to meet you, too. My name is Silas. What is your name?“ Gespannt schaute ich ihn an. Wenn sein Name jetzt mit „H“ beginnen sollte …

„I äääääm McKäääänzie“, sagte er langsam. Er hörte sich stark nach einem Amerikaner an. Zumindest deutete sein Englisch darauf hin. Jedes „a“ hörte sich wie ein lang gezogenes „ä“ an. „Nice to meet you McHänsi. Right?“ „No, McKääääänzie …“

Ich schaute fragend zu Marlene. „Hast du seinen Namen verstanden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Mmh. Where do you come from McK äh …“ „McKäääänzie. I am McKääääänzie.“ „Äh yes.“ Ich grinste und tat so, als ob ich seinen Namen jetzt verstanden hatte. „Where are you from?“

„I ääääm McKääääänzie from the United States of Ääääämerica. I live in Määäässääächusetts.“

„Ah nice“ Ich streckte ihm den Daumen entgegen. Während Marlene in der letzten Reihe zwei Plätze neben McKenzie Platz nahm, setzte ich mich eine Reihe davor auf einen Einzelplatz. McKenzie war jetzt richtig in Redelaune. Er erzählte uns, dass er bereits zum fünften Mal in Namibia war. Er hatte sich in die Farm und die Tiere verliebt und genoss jeden seiner Aufenthalte. Diesmal wollte er insgesamt für zweieinhalb Monate bleiben. Der Bus setzte sich in Bewegung. Neugierig schaute ich mich im leeren Bus um. Die Sitze waren völlig verstaubt. Man musste nur seine Hand sanft auf den Stoff legen, um den feinen Staub zum Tanzen zu bringen. Schnell öffnete ich das Fenster, um ein wenig Fahrtwind ins Innere zu lassen. Ich vermutete, dass der Bus über keine intakte Klimaanlage verfügte. Egal. Zumindest hatte meine Hose heute die richtige Länge. Wir entfernten uns von dem gelben Gebäude und fuhren durch kleinere Nebenstraßen. Zur Hauptstraße hin wurde es immer lauter. Autos und Taxis hupten regelrecht um die Wette, während Kinder auf den Schulhöfen miteinander spielten und wild durcheinanderschrien. Sie trugen beige Uniformen und winkten uns beim Vorbeifahren neugierig zu. Unser Fahrer erzählte uns, dass wir gleich noch eine weitere Teilnehmerin am Flughafen abholen würden. Davor müsse er aber am Bahnhof noch zwei Mitarbeiter der Farm einsammeln. Eine Sache von wenigen Minuten - nicht zeitaufwendig. Sechzig wenige Minuten später fuhren wir vom Bahnhofsgelände wieder ab. Meine Uhr zeigte 12:25 an und ich freundete mich langsam mit dem Gedanken ab, dass wir es nicht mehr rechtzeitig bis zum Mittagessen schaffen würden. Vom Flughafen brauchte man in der Regel drei Stunden bis zur Farm, und der war noch lange nicht in Sicht. Es musste 1 Uhr gewesen sein, als unser Fahrer aus seiner Fahrerkabine stieg und sich mit Pappschild Richtung Ankunftshalle auf den Weg machte. Sein Schlendern verriet, dass er es nicht sonderlich eilig hatte. Zehn Minuten später tauchte er mit einem schwarz gekleideten Mädchen wieder auf. Gespannt beobachteten wir vom Bus aus, wie sich die beiden uns näherten.

„Richtiger Gentleman“, stellte Marlene fest und rückte ihre Brille zurecht.

„Wie meinst du?“

„Ja, schau doch moal. Er trägt nur das Pappschild und läuft vor dem Madl einige Meter her, während die sich dahinter mit ihrem großen Koffer abkämpft. Die Arme muss ihren schweren Koffer selber ziehen und er hat die Hand in der Hosentasche.“ Wirklich ein wahrer Gentleman …

„Hello guys. Puuh.“ Erschöpft und abgekämpft setzte sich das Mädchen auf einen Sitz. Ihre grüßende Handbewegung war alles andere als von Elan geprägt. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, die durch ihren schwarzen Eyeliner noch mal verstärkt wurden. Ihr rotes Haar hatte sie sporadisch zu einem Dutt gebunden. Einzelne Haare standen wild zu Berge. Ich vermutete, dass sie auf dem Flug wie ich nach Johannesburg nicht so viel schlafen konnte. Sie wirkte gereizt und desinteressiert und schien nicht wirklich in Plauderlaune zu sein. So traf es sich gut, dass Menschenkenner McKenzie gleich den Dialog mit ihr suchte.

„Whääääts up.“ Er beugte sich neugierig nach vorne in den Gang. „I äääm McKäääänzie from the United Stätes of Ääämääääricää. I live in Määässääächusetts. Who are you?“

„Ich äh, me?“ Überrascht von McKennzies plötzlich vorgetragenem Lebenslauf schaute sie ihn an. „My name is Jessica or Jessi. I come from Züri.“

“Nice” Zufrieden lehnte sich McKenzie wieder zurück.

„Ah, aus der Schweiz. Das Alpentrio ist jetzt vollständig.“ Wieder bildeten sich in Jessicas Blick kleine Fragezeichen. „Marlene kommt aus Österreich und ich aus Deutschland. Servus Jessica.“ Ich grinste sie an. „Wir haben gewettet, dass du aus der Schweiz kommst.“

„Ahh, versteh. Und wie heißt er? Ich konnte seinen Namen nicht verstehen.“ Sie deutete mit ihren Augen in McKenzies Richtung, der mittlerweile wieder verträumt aus dem Fenster schaute. Dies hatte er auf der Fahrt zum Flughafen schon die ganze Zeit getan.

„Das wissen wir noch nicht hundertprozentig“, gab ich grinsend zu. „Vielleicht gibt es nachher eine Teilnehmerliste, auf der wir seinen Namen rausfinden können.“

„Ich hoffe es. Hoffentlich kommen wir schnell an. Bei den Temperaturen gehe ich in meiner Hose noch ein.“ Sie zupfte an ihrem schwarzen T-Shirt, sodass die vielen silbernen Armreife an ihrem Handgelenk klimperten. Erst jetzt fielen mir ihre ganzen Tattoos auf, die unter dem Schmuck ihre Arme zierten.

„Wieso hast dich nicht umgezogen?“, fragte Marlene sie. Ich schaute auf Jessis lange schwarze Hose, die an einigen Stellen Löcher hatte. Darunter trug sie eine schwarze Netzstrumpfhose. Auch wenn ich noch nie in meinem Leben eine schwarze Netzstrumpfhose getragen hatte, konnte ich bei ihrem langbeinigen Outfit gut nachempfinden, wie sie sich bei der Hitze fühlen musste. Meine Jeans war im Koffer vermutlich immer noch von der Fahrt gestern am Trocknen.

„Mein Flug war aus Dubai schon verspätet losgegangen und mir wurde gesagt, dass ich nach der Landung direkt abgeholt würde. Hätte ich gewusst, dass der Heini da vorne mir erst zwei Stunden später entgegenkommt, dann hätte ich mich umgezogen, anstatt die ganze Zeit zu warten. Ich wollte ihn nicht verpassen. Zumal ich ja selber schon zu spät gelandet war.“