Die Traumdeutung

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Und doch ist ein »solches Zurückziehen der Wache von den Toren des Verstandes«, wie Schiller es nennt, ein derartiges sich in den Zustand der kritiklosen Selbstbeobachtung Versetzen keineswegs schwer.

Die meisten meiner Patienten bringen es nach der ersten Unterweisung zu stande; ich selbst kann es sehr vollkommen, wenn ich mich dabei durch Niederschreiben meiner Einfälle unterstütze. Der Betrag von psychischer Energie, um den man so die kritische Tätigkeit herabsetzt und mit welchem man die Intensität der Selbstbeobachtung erhöhen kann, schwankt erheblich je nach dem Thema, welches von der Aufmerksamkeit fixiert werden soll.

Der erste Schritt bei der Anwendung dieses Verfahrens lehrt nun, daß man nicht den Traum als Ganzes, sondern nur die einzelnen Teilstücke seines Inhaltes zum Objekt der Aufmerksamkeit machen darf. Frage ich den noch nicht eingeübten Patienten: Was fällt Ihnen zu diesem Traume ein? so weiß er in der Regel nichts in seinem geistigen Blickfelde zu erfassen. Ich muß ihm den Traum zerstückt vorlegen, dann liefert er mir zu jedem Stücke eine Reihe von Einfällen, die man als die »Hintergedanken« dieser Traumpartie bezeichnen kann. In dieser ersten wichtigen Bedingung weicht also die von mir geübte Methode der Traumdeutung bereits von der populären, historisch und sagenhaft berühmten Methode der Deutung durch Symbolik ab und nähert sich der zweiten, der »Chiffriermethode«. Sie ist wie diese eine Deutung en detail, nicht en masse; wie diese faßt sie den Traum von vornherein als etwas Zusammengesetztes, als ein Konglomerat von psychischen Bildungen auf.

Im Verlaufe meiner Psychoanalysen bei Neurotikern habe ich wohl bereits viele tausend Träume zur Deutung gebracht, aber dieses Material möchte ich hier nicht zur Einführung in die Technik und Lehre der Traumdeutung verwenden. Ganz abgesehen davon, daß ich mich dem Einwand aussetzen würde, es seien ja die Träume von Neuropathen, die einen Rückschluß auf die Träume gesunder Menschen nicht gestatten, nötigt mich ein anderer Grund zu deren Verwerfung. Das Thema, auf welches diese Träume zielen, ist natürlich immer die Krankheitsgeschichte, welche der Neurose zu grunde liegt. Hiedurch würde für jeden Traum ein überlanger Vorbericht und ein Eindringen in das Wesen und die ätiologischen Bedingungen der Psychoneurosen erforderlich, Dinge, die an und für sich neu und im höchsten Grade befremdlich sind und so die Aufmerksamkeit vom Traumproblem ablenken würden. Meine Absicht geht vielmehr dahin, in der Traumauflösung eine Vorarbeit für die Erschließung der schwierigeren Probleme der Neurosenpsychologie zu schaffen. Verzichte ich aber auf die Träume der Neurotiker, mein Hauptmaterial, so darf ich gegen den Rest nicht allzu wählerisch verfahren. Es bleiben nur noch jene Träume, die mir gelegentlich von gesunden Personen meiner Bekanntschaft erzählt worden sind oder die ich als Beispiele in der Literatur über das Traumleben verzeichnet finde. Leider geht mir bei all diesen Träumen die Analyse ab, ohne welche ich den Sinn des Traumes nicht finden kann. Mein Verfahren ist ja nicht so bequem wie das der populären Chiffriermethode, welche den gegebenen Trauminhalt nach einem fixierten Schlüssel übersetzt; ich bin vielmehr gefaßt darauf, daß derselbe Trauminhalt bei verschiedenen Personen und in verschiedenem Zusammenhang auch einen anderen Sinn verbergen mag. Somit bin ich auf meine eigenen Träume angewiesen als auf ein reichliches und bequemes Material, das von einer ungefähr normalen Person herrührt und sich auf mannigfache Anlässe des täglichen Lebens bezieht. Man wird mir sicherlich Zweifel in die Verläßlichkeit solcher »Selbstanalysen« entgegensetzen. Die Willkür sei dabei keineswegs ausgeschlossen. Nach meinem Urteile liegen die Verhältnisse bei der Selbstbeobachtung eher günstiger als bei der Beobachtung anderer; jedenfalls darf man versuchen, wie weit man in der Traumdeutung mit der Selbstanalyse reicht. Andere Schwierigkeiten habe ich in meinem eigenen Innern zu überwinden. Man hat eine begreifliche Scheu, soviel Intimes aus seinem Seelenleben preiszugeben, weiß sich dabei auch nicht gesichert vor der Mißdeutung der Fremden. Aber darüber muß man sich hinaussetzen können. »Tout psychologiste« schreibt Delboeuf, »est obligé de faire l’aveu même de ses faiblesses s’il croit par là jeter du jour sur quelque problème obscure.« Und auch beim Leser, darf ich annehmen, wird das anfängliche Interesse an den Indiskretionen, die ich begehen muß, sehr bald der ausschließlichen Vertiefung in die hiedurch beleuchteten psychologischen Probleme Platz machen.

Der Traum von Irmas Injektion.

Ich werde also einen meiner eigenen Träume hervorsuchen und an ihm meine Deutungsweise erläutern. Jeder solche Traum macht einen Vorbericht nötig. Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen und sich mit mir in die kleinsten Einzelheiten meines Lebens zu versenken, denn solche Übertragung fordert gebieterisch das Interesse für die versteckte Bedeutung der Träume.

Vorbericht: Im Sommer 1895 hatte ich eine junge Dame psychoanalytisch behandelt, die mir und den Meinigen freundschaftlich sehr nahe stand. Man versteht es, daß solche Vermengung der Beziehungen zur Quelle mannigfacher Erregungen für den Arzt werden kann, zumal für den Psychotherapeuten. Das persönliche Interesse des Arztes ist größer, seine Autorität geringer. Ein Mißerfolg droht die alte Freundschaft mit den Angehörigen der Kranken zu lockern. Die Kur endete mit einem teilweisen Erfolg, die Patientin verlor ihre hysterische Angst, aber nicht alle ihre somatischen Symptome. Ich war damals noch nicht recht sicher in den Kriterien, welche die endgültige Erledigung einer hysterischen Krankengeschichte bezeichnen, und mutete der Patientin eine Lösung zu, die ihr nicht annehmbar erschien. In solcher Uneinigkeit brachen wir der Sommerzeit wegen die Behandlung ab. – Eines Tages besuchte mich ein jüngerer Kollege, einer meiner nächsten Freunde, der die Patientin – Irma – und ihre Familie in ihrem Landaufenthalt besucht hatte. Ich fragte ihn, wie er sie gefunden habe, und bekam die Antwort: Es geht ihr besser, aber nicht ganz gut. Ich weiß, daß mich diese Worte meines Freundes Otto oder der Ton, in dem sie gesprochen waren, ärgerten. Ich glaubte einen Vorwurf herauszuhören, etwa daß ich der Patientin zu viel versprochen hätte, und führte – ob mit Recht oder Unrecht – die vermeintliche Parteinahme Ottos gegen mich auf den Einfluß von Angehörigen der Kranken zurück, die, wie ich annahm, meine Behandlung nie gern gesehen hatten. Übrigens wurde mir meine peinliche Empfindung nicht klar, ich gab ihr auch keinen Ausdruck. Am selben Abend schrieb ich noch die Krankengeschichte Irmas nieder, um sie, wie zu meiner Rechtfertigung, dem Dr. M., einem gemeinsamen Freunde, der damals tonangebenden Persönlichkeit in unserem Kreise, zu übergeben. In der auf diesen Abend folgenden Nacht (wohl eher am Morgen) hatte ich den nachstehenden Traum, der unmittelbar nach dem Erwachen fixiert wurde.

Traum vom 23./24. Juli 1895(33).

Eine große Halle – viele Gäste, die wir empfangen. – Unter ihnen Irma, die ich sofort bei Seite nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die »Lösung« noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: Wenn du noch Schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine Schuld. – Sie antwortet: Wenn du wüßtest, was ich für Schmerzen jetzt habe im Halse, Magen und Leib, es schnürt mich zusammen. – Ich erschrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich und gedunsen aus; ich denke, am Ende übersehe ich da doch etwas Organisches. Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben, wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – Der Mund geht dann auch gut auf und ich finde rechts einen großen weißen Fleck und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue Schorfe. – Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt . . . . Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst; er ist sehr bleich, hinkt, ist am Kinn bartlos . . . . Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre) . . . . M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts; es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden . . . . Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund Otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat, Propylen . . . . Propionsäure . . . . Trimethylamin (dessen Formel ich fett gedruckt vor mir sehe) . . . . Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig . . . . Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein.

Dieser Traum hat vor vielen anderen eines voraus. Es ist sofort klar, an welche Ereignisse des letzten Tages er anknüpft und welches Thema er behandelt. Der Vorbericht gibt hierüber Auskunft. Die Nachricht, die ich von Otto über Irmas Befinden erhalten, die Krankengeschichte, an der ich bis tief in die Nacht geschrieben, haben meine Seelentätigkeit auch während des Schlafes beschäftigt. Trotzdem dürfte niemand, der den Vorbericht und den Inhalt des Traumes zur Kenntnis genommen hat, ahnen können, was der Traum bedeutet. Ich selbst weiß es auch nicht. Ich wundere mich über die Krankheitssymptome, welche Irma im Traum mir klagt, da es nicht dieselben sind, wegen welcher ich sie behandelt habe. Ich lächle über die unsinnige Idee einer Injektion mit Propionsäure und über den Trost, den Dr. M. ausspricht. Der Traum erscheint mir gegen sein Ende hin dunkler und gedrängter, als er zu Beginn ist. Um die Bedeutung von alledem zu erfahren, muß ich mich zu einer eingehenden Analyse entschließen.

 

Analyse des Traumes von Irmas Injektion.

Analyse:

Die Halle – viele Gäste, die wir empfangen. Wir wohnten in diesem Sommer auf der Bellevue, einem einzelstehenden Hause auf einem der Hügel, die sich an den Kahlenberg anschließen. Dies Haus war ehemals zu einem Vergnügungslokal bestimmt, hat hievon die ungewöhnlich hohen, hallenförmigen Räume. Der Traum ist auch auf der Bellevue vorgefallen, und zwar wenige Tage vor dem Geburtsfeste meiner Frau. Am Tage hatte meine Frau die Erwartung ausgesprochen, zu ihrem Geburtstage würden mehrere Freunde, und darunter auch Irma, als Gäste zu uns kommen. Mein Traum antizipiert also diese Situation: Es ist der Geburtstag meiner Frau und viele Leute, darunter Irma, werden von uns als Gäste in der großen Halle der Bellevue empfangen.

Ich mache Irma Vorwürfe, daß sie die Lösung nicht akzeptiert hat; ich sage: Wenn du noch Schmerzen hast, ist es deine eigene Schuld. Das hätte ich ihr auch im Wachen sagen können oder habe es ihr gesagt. Ich hatte damals die (später als unrichtig erkannte) Meinung, daß meine Aufgabe sich darin erschöpfe, den Kranken den verborgenen Sinn ihrer Symptome mitzuteilen; ob sie diese Lösung dann annehmen oder nicht, wovon der Erfolg abhängt, dafür sei ich nicht mehr verantwortlich. Ich bin diesem jetzt glücklich überwundenen Irrtum dankbar dafür, daß er mir die Existenz zu einer Zeit erleichtert, da ich in all meiner unvermeidlichen Ignoranz Heilerfolge produzieren sollte. – Ich merke aber an dem Satze, den ich im Traume zu Irma spreche, daß ich vor allem nicht Schuld sein will an den Schmerzen, die sie noch hat. Wenn es Irmas eigene Schuld ist, dann kann es nicht meine sein. Sollte in dieser Richtung die Absicht des Traumes zu suchen sein?

Irmas Klagen; Schmerzen im Halse, Leibe und Magen, es schnürt sie zusammen. Schmerzen im Magen gehörten zum Symptomkomplex meiner Patientin, sie waren aber nicht sehr vordringlich; sie klagte eher über Empfindungen von Übelkeit und Ekel. Schmerzen im Halse, im Leibe, Schnüren in der Kehle spielten bei ihr kaum eine Rolle. Ich wundere mich, warum ich mich zu dieser Auswahl der Symptome im Traume entschlossen habe, kann es auch für den Moment nicht finden.

Sie sieht bleich und gedunsen aus.

Meine Patientin war immer rosig. Ich vermute, daß sich hier eine andere Person ihr unterschiebt.

Ich erschrecke im Gedanken, daß ich doch eine organische Affektion übersehen habe.

Wie man mir gern glauben wird, eine nie erlöschende Angst beim Spezialisten, der fast ausschließlich Neurotiker sieht und der so viele Erscheinungen auf Hysterie zu schieben gewohnt ist, welche andere Ärzte als organisch behandeln. Anderseits beschleicht mich – ich weiß nicht woher – ein leiser Zweifel, ob mein Erschrecken ganz ehrlich ist. Wenn die Schmerzen Irmas organisch begründet sind, so bin ich wiederum zu deren Heilung nicht verpflichtet. Meine Kur beseitigt ja nur hysterische Schmerzen. Es kommt mir also eigentlich vor, als sollte ich einen Irrtum in der Diagnose wünschen; dann wäre der Vorwurf des Mißerfolges auch beseitigt.

Ich nehme sie zum Fenster, um ihr in den Hals zu sehen. Sie sträubt sich ein wenig wie die Frauen, die falsche Zähne tragen. Ich denke mir, sie hat es ja doch nicht nötig.

Bei Irma hatte ich niemals Anlaß, die Mundhöhle zu inspizieren. Der Vorgang im Traume erinnert mich an die vor einiger Zeit vorgenommene Untersuchung einer Gouvernante, die zunächst den Eindruck von jugendlicher Schönheit gemacht hatte, beim Öffnen des Mundes aber gewisse Anstalten traf, um ihr Gebiß zu verbergen. An diesen Fall knüpfen sich andere Erinnerungen an ärztliche Untersuchungen und an kleine Geheimnisse, die dabei, keinem von beiden zur Lust, enthüllt werden. – Sie hat es doch nicht nötig, ist wohl zunächst ein Kompliment für Irma; ich vermute aber noch eine andere Bedeutung. Man fühlt es bei aufmerksamer Analyse, ob man die zu erwartenden Hintergedanken erschöpft hat oder nicht. Die Art, wie Irma beim Fenster steht, erinnert mich plötzlich an ein anderes Erlebnis. Irma besitzt eine intime Freundin, die ich sehr hoch schätze. Als ich eines Abends bei ihr einen Besuch machte, fand ich sie in der im Traume reproduzierten Situation beim Fenster und ihr Arzt, derselbe Dr. M., erklärte, daß sie einen diphtheritischen Belag habe. Die Person des Dr. M. und der Belag kehren ja im Fortgang des Traumes wieder. Jetzt fällt mir ein, daß ich in den letzten Monaten allen Grund bekommen habe, von dieser anderen Dame anzunehmen, sie sei gleichfalls hysterisch. Ja, Irma selbst hat es mir verraten. Was weiß ich aber von ihren Zuständen? Gerade das eine, daß sie am hysterischen Würgen leidet wie meine Irma im Traume. Ich habe also im Traume meine Patientin durch ihre Freundin ersetzt. Jetzt erinnere ich mich, ich habe oft mit der Vermutung gespielt, diese Dame könnte mich gleichfalls in Anspruch nehmen, sie von ihren Symptomen zu befreien. Ich hielt es aber dann selbst für unwahrscheinlich, denn sie ist von sehr zurückhaltender Natur. Sie sträubt sich, wie es der Traum zeigt. Eine andere Erklärung wäre, daß sie es nicht nötig hat; sie hat sich wirklich bisher stark genug gezeigt, ihre Zustände ohne fremde Hilfe zu beherrschen. Nun sind nur noch einige Züge übrig, die ich weder bei Irma noch bei ihrer Freundin unterbringen kann: bleich, gedunsen, falsche Zähne. Die falschen Zähne führten mich auf jene Gouvernante; ich fühle mich nun geneigt, mich mit schlechten Zähnen zu begnügen. Dann fällt mir eine andere Person ein, auf welche jene Züge anspielen können. Sie ist gleichfalls nicht meine Patientin und ich möchte sie nicht zur Patientin haben, da ich gemerkt habe, daß sie sich vor mir geniert und ich sie für keine gefügige Kranke halte. Sie ist für gewöhnlich bleich und als sie einmal eine besonders gute Zeit hatte, war sie gedunsen(34). Ich habe also meine Patientin Irma mit zwei anderen Personen verglichen, die sich gleichfalls der Behandlung sträuben würden. Was kann es für Sinn haben, daß ich sie im Traume mit ihrer Freundin vertauscht habe? Etwa, daß ich sie vertauschen möchte; die andere erweckt entweder bei mir stärkere Sympathien oder ich habe eine höhere Meinung von ihrer Intelligenz. Ich halte nämlich Irma für unklug, weil sie meine Lösung nicht akzeptiert. Die andere wäre klüger, würde also eher nachgeben. Der Mund geht dann auch gut auf; sie würde mehr erzählen als Irma(35).

Was ich im Halse sehe: einen weißen Fleck und verschorfte Nasenmuscheln.

Der weiße Fleck erinnert an Diphtheritis und somit an Irmas Freundin, außerdem aber an die schwere Erkrankung meiner ältesten Tochter vor nahezu zwei Jahren und an all den Schreck jener bösen Zeit. Die Schorfe an den Nasenmuscheln mahnen an eine Sorge um meine eigene Gesundheit. Ich gebrauchte damals häufig Kokain, um lästige Nasenschwellungen zu unterdrücken, und hatte vor wenigen Tagen gehört, daß eine Patientin, die es mir gleich tat, sich eine ausgedehnte Nekrose der Nasenschleimhaut zugezogen hatte. Die Empfehlung des Kokains, die 1885 von mir ausging, hat mir auch schwerwiegende Vorwürfe eingetragen. Ein teurer, 1895 schon verstorbener Freund hatte durch den Mißbrauch dieses Mittels seinen Untergang beschleunigt.

Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt.

Das entspräche einfach der Stellung, die M. unter uns einnahm. Aber das »schnell« ist auffällig genug, um eine besondere Erklärung zu fordern. Es erinnert mich an ein trauriges ärztliches Erlebnis. Ich hatte einmal durch die fortgesetzte Ordination eines Mittels, welches damals noch als harmlos galt (Sulfonal), eine schwere Intoxikation bei einer Kranken hervorgerufen und wandte mich dann eiligst an den erfahrenen älteren Kollegen um Beistand. Daß ich diesen Fall wirklich im Auge habe, wird durch einen Nebenumstand erhärtet. Die Kranke, welche der Intoxikation erlag, führte denselben Namen wie meine älteste Tochter. Ich hatte bis jetzt niemals daran gedacht; jetzt kommt es mir beinahe wie eine Schicksalsvergeltung vor. Als sollte sich die Ersetzung der Personen in anderem Sinne hier fortsetzen; diese Mathilde für jene Mathilde; Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn. Es ist, als ob ich alle Gelegenheiten hervorsuchte, aus denen ich mir den Vorwurf mangelnder ärztlicher Gewissenhaftigkeit machen kann.

Dr. M. ist bleich, ohne Bart am Kinn und hinkt.

Davon ist soviel richtig, daß sein schlechtes Aussehen häufig die Sorge seiner Freunde erweckt. Die beiden anderen Charaktere müssen einer anderen Person angehören. Es fällt mir mein im Ausland lebender älterer Bruder ein, der das Kinn rasiert trägt und dem, wenn ich mich recht erinnere, der M. des Traumes im ganzen ähnlich sah. Über ihn kam vor einigen Tagen die Nachricht, daß er wegen einer arthritischen Erkrankung in der Hüfte hinke. Es muß einen Grund haben, daß ich die beiden Personen im Traume zu einer einzigen verschmelze. Ich erinnere mich wirklich, daß ich gegen beide aus ähnlichen Gründen mißgestimmt war. Beide hatten einen gewissen Vorschlag, den ich ihnen in der letzten Zeit gemacht hatte, zurückgewiesen.

Freund Otto steht jetzt bei der Kranken und Freund Leopold untersucht sie und weist eine Dämpfung links unten nach.

Freund Leopold ist gleichfalls Arzt, ein Verwandter von Otto. Das Schicksal hat die beiden, da sie dieselbe Spezialität ausüben, zu Konkurrenten gemacht, die man beständig miteinander vergleicht. Sie haben mir beide Jahre hindurch assistiert, als ich noch eine öffentliche Ordination für nervenkranke Kinder leitete. Szenen wie die im Traume reproduzierte haben sich dort oftmals zugetragen. Während ich mit Otto über die Diagnose eines Falles debattierte, hatte Leopold das Kind neuerdings untersucht und einen unerwarteten Beitrag zur Entscheidung beigebracht. Es bestand eben zwischen ihnen eine ähnliche Charakterverschiedenheit wie zwischen dem Inspektor Bräsig und seinem Freunde Karl. Der eine tat sich durch »Fixigkeit« hervor, der andere war langsam, bedächtig, aber gründlich. Wenn ich im Traume Otto und den vorsichtigen Leopold einander gegenüberstelle, so geschieht es offenbar, um Leopold herauszustreichen. Es ist ein ähnliches Vergleichen wie oben zwischen der unfolgsamen Patientin Irma und ihrer für klüger gehaltenen Freundin. Ich merke jetzt auch eines der Geleise, auf denen sich die Gedankenverbindung im Traume fortschiebt: vom kranken Kinde zum Kinderkrankeninstitut. – Die Dämpfung links unten macht mir den Eindruck, als entspräche sie allen Details eines einzelnen Falles, in dem mich Leopold durch seine Gründlichkeit frappiert hat. Es schwebt mir außerdem etwas vor wie eine metastatische Affektion, aber es könnte auch eine Beziehung zu der Patientin sein, die ich an Stelle von Irma haben möchte. Diese Dame imitiert nämlich, soweit ich es übersehen kann, eine Tuberkulose.

Eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter.

Ich weiß sofort, das ist mein eigener Schulterrheumatismus, den ich regelmäßig verspüre, wenn ich bis tief in die Nacht wach geblieben bin. Der Wortlaut im Traume klingt auch so zweideutig: was ich . . . . wie er spüre. Am eigenen Körper spüre, ist gemeint. Übrigens fällt mir auf, wie ungewöhnlich die Bezeichnung »infiltrierte Hautpartie« klingt. An die »Infiltration links hinten oben« sind wir gewöhnt; die bezöge sich auf die Lunge und somit wieder auf Tuberkulose.

Trotz des Kleides. Das ist allerdings nur eine Einschaltung. Die Kinder im Krankeninstitut untersuchten wir natürlich entkleidet; es ist irgend ein Gegensatz zur Art, wie man erwachsene weibliche Patienten untersuchen muß. Von einem hervorragenden Kliniker pflegte man zu erzählen, daß er seine Patienten nur durch die Kleider physikalisch untersucht habe. Das Weitere ist mir dunkel, ich habe, offen gesagt, keine Neigung, mich hier tiefer einzulassen.

Dr. M. sagt: Es ist eine Infektion, aber es macht nichts. Es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden.

Das erscheint mir zuerst lächerlich, muß aber doch, wie alles andere, sorgfältig zerlegt werden. Näher betrachtet, zeigt es doch eine Art von Sinn. Was ich an der Patientin gefunden habe, war eine lokale Diphtheritis. Aus der Zeit der Erkrankung meiner Tochter erinnere ich mich an die Diskussion über Diphtheritis und Diphtherie. Letztere ist die Allgemeininfektion, die von der lokalen Diphtheritis ausgeht. Eine solche Allgemeininfektion weist Leopold durch die Dämpfung nach, welche also an metastatische Herde denken läßt. Ich glaube zwar, daß gerade bei Diphtherie derartige Metastasen nicht vorkommen. Sie erinnern mich eher an Pyämie.

 

Es macht nichts, ist ein Trost. Ich meine, er fügt sich folgendermaßen ein: Das letzte Stück des Traumes hat den Inhalt gebracht, daß die Schmerzen der Patientin von einer schweren organischen Affektion herrühren. Es ahnt mir, daß ich auch damit nur die Schuld von mir abwälzen will. Für den Fortbestand diphtheritischer Leiden kann die psychische Kur nicht verantwortlich gemacht werden. Nun geniert es mich doch, daß ich Irma ein so schweres Leiden andichte, einzig und allein, um mich zu entlasten. Es sieht so grausam aus. Ich brauche also eine Versicherung des guten Ausganges und es scheint mir nicht übel gewählt, daß ich den Trost gerade der Person des Dr. M. in den Mund lege. Ich erhebe mich aber hier über den Traum, was der Aufklärung bedarf.

Warum ist dieser Trost aber so unsinnig?

Dysenterie: Irgend eine fernliegende theoretische Vorstellung, daß Krankheitsstoffe durch den Darm entfernt werden können. Will ich mich damit über den Reichtum des Dr. M. an weit hergeholten Erklärungen, sonderbaren pathologischen Verknüpfungen lustig machen? Zu Dysenterie fällt mir noch etwas anderes ein. Vor einigen Monaten hatte ich einen jungen Mann mit merkwürdigen Stuhlbeschwerden übernommen, den andere Kollegen als einen Fall von »Anämie mit Unterernährung« behandelt hatten. Ich erkannte, daß es sich um eine Hysterie handle, wollte meine Psychotherapie nicht an ihm versuchen und schickte ihn auf eine Seereise. Nun bekam ich vor einigen Tagen einen verzweifelten Brief von ihm aus Ägypten, daß er dort einen neuen Anfall durchgemacht, den der Arzt für Dysenterie erklärt habe. Ich vermute zwar, die Diagnose ist nur ein Irrtum des unwissenden Kollegen, der sich von der Hysterie äffen läßt; aber ich konnte mir doch die Vorwürfe nicht ersparen, daß ich den Kranken in die Lage versetzt, sich zu seiner hysterischen Darmaffektion etwa noch eine organische zu holen. Dysenterie klingt ferner an Diphtherie an, welcher Name ††† im Traume nicht genannt wird.

Ja, es muß so sein, daß ich mich mit der tröstlichen Prognose: Es wird noch Dysenterie hinzukommen usw. über Dr. M. lustig mache, denn ich entsinne mich, daß er mir einmal vor Jahren etwas ganz Ähnliches von einem anderen Kollegen lachend erzählt hat. Er war zur Konsultation mit diesem Kollegen bei einem schwer Kranken berufen worden und fühlte sich veranlaßt, dem anderen, der sehr hoffnungsfreudig schien, vorzuhalten, daß er beim Patienten Eiweiß im Harne finde. Der Kollege ließ sich aber nicht irre machen, sondern antwortete beruhigt: Das macht nichts, Herr Kollege, der Eiweiß wird sich schon ausscheiden! – Es ist mir also nicht mehr zweifelhaft, daß in diesem Stück des Traumes ein Hohn auf die der Hysterie unwissenden Kollegen enthalten ist. Wie zur Bestätigung fährt mir jetzt durch den Sinn: Weiß denn Dr. M., daß die Erscheinungen bei seiner Patientin, der Freundin Irmas, welche eine Tuberkulose befürchten lassen, auch auf Hysterie beruhen? Hat er diese Hysterie erkannt oder ist er ihr »aufgesessen«?

Welches Motiv kann ich aber haben, diesen Freund so schlecht zu behandeln? Das ist sehr einfach: Dr. M. ist mit meiner »Lösung« bei Irma so wenig einverstanden wie Irma selbst. Ich habe also in diesem Traume bereits an zwei Personen Rache genommen, an Irma mit den Worten: Wenn du noch Schmerzen hast, ist es deine eigene Schuld, und an Dr. M. mit dem Wortlaute der ihm in den Mund gelegten unsinnigen Tröstung.

Wir wissen unmittelbar, woher die Infektion rührt. Dies unmittelbare Wissen im Traume ist sehr merkwürdig. Eben vorhin wußten wir es noch nicht, da die Infektion erst durch Leopold nachgewiesen wurde.

Freund Otto hat ihr, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben. Otto hatte wirklich erzählt, daß er in der kurzen Zeit seiner Anwesenheit bei Irmas Familie ins benachbarte Hotel geholt wurde, um dort jemandem, der sich plötzlich unwohl fühlte, eine Injektion zu machen. Die Injektionen erinnern mich wieder an den unglücklichen Freund, der sich mit Kokain vergiftet hat. Ich habe ihm das Mittel nur zur internen Anwendung während der Morphiumentziehung geraten; er machte sich aber unverzüglich Kokaininjektionen.

Mit einem Propylpräparat . . . . Propylen . . . . Propionsäure. Wie komme ich nur dazu? Am selben Abend, nach welchem ich an der Krankengeschichte geschrieben und darauf geträumt hatte, öffnete meine Frau eine Flasche Likör, auf welcher »Ananas«(36) zu lesen stand und die ein Geschenk unseres Freundes Otto war. Er hat nämlich die Gewohnheit, bei allen möglichen Anlässen zu schenken; hoffentlich wird er einmal durch eine Frau davon kuriert(37). Diesem Likör entströmte ein solcher Fuselgeruch, daß ich mich weigerte, davon zu kosten. Meine Frau meinte: Diese Flasche schenken wir den Dienstleuten und ich, noch vorsichtiger, untersagte es mit der menschenfreundlichen Bemerkung, sie sollen sich auch nicht vergiften. Der Fuselgeruch (Amyl . . .) hat nun offenbar bei mir die Erinnerung an die ganze Reihe: Propyl, Methyl usw. geweckt, die für den Traum die Propylenpräparate lieferte. Ich habe dabei allerdings eine Substitution vorgenommen, Propyl geträumt, nachdem ich Amyl gerochen, aber derartige Substitutionen sind vielleicht gerade in der organischen Chemie gestattet.

Trimethylamin. Von diesem Körper sehe ich im Traume die chemische Formel, was jedenfalls eine große Anstrengung meines Gedächtnisses bezeugt, und zwar ist die Formel fett gedruckt, als wollte man aus dem Kontext etwas als ganz besonders wichtig herausheben. Worauf führt mich nun Trimethylamin, auf das ich in solcher Weise aufmerksam gemacht werde? Auf ein Gespräch mit einem anderen Freunde, der seit Jahren um all meine keimenden Arbeiten weiß, wie ich um die seinigen. Er hatte mir damals gewisse Ideen zu einer Sexualchemie mitgeteilt und unter anderm erwähnt, eines der Produkte des Sexualstoffwechsels glaube er im Trimethylamin zu erkennen. Dieser Körper führt mich also auf die Sexualität, auf jenes Moment, dem ich für die Entstehung der nervösen Affektionen, welche ich heilen will, die größte Bedeutung beilege. Meine Patientin Irma ist eine jugendliche Witwe; wenn es mir darum zu tun ist, den Mißerfolg der Kur bei ihr zu entschuldigen, werde ich mich wohl am besten auf diese Tatsache berufen, an welcher ihre Freunde gern ändern möchten. Wie merkwürdig übrigens ein solcher Traum gefügt ist! Die andere, welche ich an Irmas Statt im Traume als Patientin habe, ist auch eine junge Witwe.

Ich ahne, warum die Formel Trimethylamin im Traume sich so breit gemacht hat. Es kommt soviel Wichtiges in diesem einen Worte zusammen: Trimethylamin ist nicht nur eine Anspielung auf das übermächtige Moment der Sexualität, sondern auch auf eine Person, an deren Zustimmung ich mich mit Befriedigung erinnere, wenn ich mich mit meinen Ansichten verlassen fühle. Sollte dieser Freund, der in meinem Leben eine so große Rolle spielt, in dem Gedankenzusammenhang des Traumes weiter nicht vorkommen? Doch; er ist ein besonderer Kenner der Wirkungen, welche von Affektionen der Nase und ihren Nebenhöhlen ausgehen, und hat der Wissenschaft einige höchst merkwürdige Beziehungen der Nasenmuscheln zu den weiblichen Sexualorganen eröffnet. (Die drei krausen Gebilde im Halse bei Irma.) Ich habe Irma von ihm untersuchen lassen, ob ihre Magenschmerzen etwa nasalen Ursprunges sind. Er leidet aber selbst an Naseneiterungen, die mir Sorge bereiten, und darauf spielt wohl die Pyämie an, die mir bei den Metastasen des Traumes vorschwebt.