Staatenlos

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Am Fuß des Hügels

Als sie am frühen Abend aus der Schule kam, ließ Esha sich auf ihr Bett fallen. Ihr Magen knurrte vor Hunger, aber sie schaffte es nicht, wieder aufzustehen und sich ein Fertigessen aufzuwärmen. Sie nahm ihr Kissen, schob es sich unter den Bauch, versuchte zu schlafen und ihren Tag zu vergessen.

Seit Schuljahresbeginn kam es täglich zu Konflikten mit ihren Schülern. Von Weitem schon, beim Anblick des Tors, bereitete sie sich darauf vor, vermintes Terrain zu betreten.

Die engen Straßen rund um die Schule stanken nach Gras und Haschisch. Vor der Hausmeisterloge auf dem Hof rauchten die Aufseher und Schüler gemeinsam ihre Zigaretten. Die Schwingtür zum Gang flog auf und zerschmetterte der Person dahinter jedes Mal fast die Nase, die Schüler kamen und gingen hordenweise, schubsten einander, lachten und schrien, erfüllt von einer unglaublichen körperlichen Kraft, ihre Schritte und Rufe hallten durch das Gebäude. Plakate mit Referaten der Schüler bedeckten die Wände. Ihr Blick streifte das über die Frau, die dank eines Fotos ihres riesigen Hinterns in den sozialen Netzwerken berühmt geworden war, und das über eine junge Frau aus einer Realityshow, die durch ihre Imitation eines Telefonats Kultstatus erreicht hatte und anschließend in Verdacht geraten war, ihren Freund erstochen zu haben. Bei mehreren Türen waren die Schlösser mit Metallsplittern aus der Werkstatt verstopft worden. Seit Schuljahresbeginn machten sich ein paar Schüler einen Spaß aus diesem Spiel, sie blockierten die Türen und schrien: »Nieder mit der Schule!« Sie hatten die Schlüssel von mehreren Räumen geklaut, dann die Computer und die Beamer.

Nach wenigen Tagen litt sie unter Schlaflosigkeit, wie bei allen vorherigen Stellen, die ihr zugeteilt worden waren, die Nächte kamen wieder, licht und rau wie Tafelkreide. Sie ging zur Schule, einen Angstknoten im Bauch, jeden Tag musste sie bei null anfangen, musste sich eine neue List ausdenken, um ihnen die Fremdsprache beizubringen, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, die Fragen umzulenken, die mehr ihr Privatleben betrafen als den Lehrstoff, sehr schnell wollten sie nichts mehr wissen, zwei, drei Schüler in der ersten Reihe machten sich klein, wurden von den anderen für ihre Strebsamkeit gehänselt, die Mädchen verwechselten in ihrer Federtasche die Wimperntusche mit dem Kugelschreiber, die Jungen kamen ohne Schultasche, Kappe auf dem Kopf, Kopfhörer auf den Ohren. An dem Tag, als es Esha gelungen war, sie davon zu überzeugen, mit einem Heft und einem Kugelschreiber zur Schule zu kommen, hatte sie sich selbst zu diesem ersten Sieg beglückwünscht. Größte Wachsamkeit war gefordert, damit sie einander nicht mit Papierkügelchen oder kaputten Kugelschreibern bewarfen, damit sie die Tische nicht mit den Fäusten und ihre Klassenkameraden nicht mit den Füßen malträtierten, ihre Stühle nicht durch die Luft warfen, nicht schrien, einander nicht beschimpften, nicht plötzlich aufsprangen, um durch das Klassenzimmer zu laufen, nicht brüllten »Verpiss dich, du Vollidiot!« und nicht ständig losprusteten, damit sie sie nicht unterbrachen, wenn sie sprach, sie nicht lauthals fragten, warum sie an die Tafel schrieb, was sie schrieb, ihr nicht vorhielten, dass sie einen Akzent habe, dass sie dahin zurückgehen solle, wo sie hergekommen war, dass sie hier zu Hause seien, weil ihre Eltern seit Jahren hier lebten.

Dieses Mal war die Stimmung schon in der ersten Stunde mit einer Klasse von einem Dutzend Schülern gekippt. Diese Jungen kamen von einem dreiwöchigen Praktikum als Mechaniker zurück. Sie wussten nicht, dass sie beim Fremdsprachenunterricht ihr Schulzeug brauchten, sie rieben sich die leeren, rauen Hände, ließen ihre Finger knacken, kratzten sich am Kopf und seufzten lautstark. Die weiße Tafel strahlte in ihre verblüfften Augen wie das Neonlicht eines Operationssaals, sie hypnotisierte sie und schläferte sie ein, die Buchstaben und Wörter fügten sich nicht zusammen, sie verstanden die Zeichen nicht, die unergründlich und leblos vor ihnen lagen.

Esha war ratlos. Wie konnte man sie das Lernen lehren?

Als sie das Hörbeispiel abspielen wollte, fiel ihr auf, dass der Junge, der sich ganz hinten, weit weg von den anderen, hingesetzt und seinen Kopf auf die verschränkten Arme gelegt hatte, mittlerweile schlief.

»Wach auf! Du darfst hier nicht schlafen!«, rief sie.

Er antwortete ihr nicht, rührte sich nicht, mit einer Handbewegung forderte er Esha auf, ihn in Frieden zu lassen. Esha insistierte, rief ihm die Schulordnung in Erinnerung, da lief der Jugendliche rot an. Man hätte meinen können, dass die großen, durchscheinenden Pickel, die sein Gesicht bedeckten, jeden Moment platzen würden. Er sprang von seinem Stuhl auf und schrie: »Du hast mir gar nichts zu befehlen! Ich bin nicht dein Hund!«

Esha versuchte, ihm zu erklären, dass es hier nicht um Herrchen und Hunde ging, sondern um Lehrer und Schüler, dass das die Grundidee der Schule war, was den Jungen umso mehr aufregte.

»Zieh dir ne Burka an! Walla, dir geht’s wohl nicht gut! Hast du schlecht geschlafen oder was?« Er schaute zu seinen Klassenkameraden, lachte. Die Jungen lachten mit, zerknitterten die Blätter, die Esha ausgeteilt hatte, zerknüllten sie und warfen sie durch den Raum.

Esha hob den Hörer des Telefons an der Wand ab und wählte mehrere Nummern, bevor sie eine Aufsicht ans Telefon bekam. Ein Mann kam herein, groß und kräftig wie ein Soldat. Mit seinen ruhigen, halbgeschlossenen Augen beobachtete er die tobenden Schüler, fragte Esha, was sie wünsche. Sie erzählte von dem Zwischenfall, und der Aufseher wandte sich an den fraglichen Schüler, der beim Leben seiner Mutter schwor, nichts gemacht zu haben, was alle seine Brüder bezeugen könnten.

In der Überzeugung, dass niemand etwas Böses wolle, dass es ihre Art sei und dass man sie nicht vor den Kopf stoßen dürfe, verließ der Aufseher den Raum und schloss ehrfürchtig die Tür hinter sich. Nichts konnte Esha beruhigen. Weder der Bericht, den sie im Anschluss für den Beauftragten für Disziplinarfragen und die Direktion verfasste, noch die Sammelmail, die sie an ihre Kollegen schickte.

Angespannt ging sie in die zweite Unterrichtsstunde in einer Klasse mit Mädchen, die eine Ausbildung in der Modebranche machten.

Seit Beginn des Schuljahres hatte sie sich das Vertrauen eines Teils von ihnen erarbeitet, sie thematisierten die Stellung der Frau, trugen T-Shirts mit politischen Slogans, waren stolz auf ihre Tätowierungen und Piercings, lasen in den Pausen. Die anderen folgten allen Modetrends, oder packten sie vielmehr, zermalmten sie mit ihren starken Händen und behielten Fetzen aus Stoff, Metall, Farben und Frisuren zurück. Mit ihren kräftigen Körpern in engen Leggings, ihren Perücken, Extensions, Zöpfen, ihren falschen Wimpern, falschen Nägeln, ihrem Lippenstift waren sie grausam schön und beunruhigend. Diese Kriegerinnen lächelten nie, legten sich ständig mit Esha an, musterten sie und gaben tuschelnd Kommentare ab, mit denen sie ihre Klassenkameradinnen die ganze Stunde lang zum Lachen brachten.

Für diesen Nachmittag hatte Esha sich vorgenommen, in ihrem Unterricht Simone de Beauvoir zu behandeln. Sobald sie ihnen ihre Biografie ausgeteilt hatte, warf ein Mädchen ihre blauen und schwarzen Zöpfe in den Nacken und sagte laut: »Das ist abartig!«

»Warum abartig?«

Esha war überrascht. Sie hatte die beiden unterschiedlichen Gruppen in ihrer Klasse mit einem Thema, das alle interessierte, versöhnen wollen und wurde unruhig.

»Es ist nicht gut, sowas zu lesen, Madame.«

»Ja, sie ist … Sie wissen schon … sie hat Frauen geliebt, sie war homo.«

»Sie hat Männer und Frauen geliebt.«

»Dann ist sie eine Nutte.«

Von einem Moment zum nächsten herrschte helle Aufregung. »Das ist haram. Das ist Sünde. Diese Leute machen es von hinten. Für sowas kommen wir nicht zur Schule.« »Das ist eine Sünde, Madame, so steht es in der Bibel.« Diejenigen, die schöne, volle Extensions trugen und diejenigen, die ihre Haare unter einem hübschen blauen oder grauen Kopftuch verbargen, schrien durcheinander, lachten und brachten die drei, vier Mädchen zum Schweigen, die sich auf der anderen Seite des Raumes befanden und die Szenerie verstört beobachteten. Esha sagte nichts, schaute ihnen zu und überlegte. Dann begann sie, das Gesagte in zwei Spalten auf der Tafel zu notieren. Die Mädchen hörten plötzlich auf zu schreien.

»He, warum schreiben Sie das auf?«

Esha beruhigte sie, sie wollte nur ihre Meinung zum Thema festhalten, um darüber zu sprechen. Die Spalten wurden immer unausgeglichener, die Reihe der Beleidigungen nahm die ganze Tafel ein, die Mädchen wurden still.

Am Ende des Schultags sprachen Fadyla und Houria, zwei ihrer Kolleginnen, sie an. »Ignoriere sie einfach! Sie sind dumm und gemein.«

»Du darfst es ihnen nicht übel nehmen. Du musst sie verstehen, dich auf sie einlassen …«

Jean war Musiklehrer. Er rückte seine blaue Brille zurecht, die farblich auf seinen Schal aus sorgfältig zerknitterter blauer Biobaumwolle abgestimmt war, und stellte sich zu ihnen. Ein kleines, kaum merkliches Lächeln erstrahlte auf Fadylas Gesicht, sie wirkte wie ein junges, verschmitztes Mädchen. Sie nickte Esha zu und verließ mit Houria den Raum. Jean lief im Lehrerzimmer auf und ab und warf Esha flüchtige Blicke zu, aber sie hatte keine Lust mehr, ihr Gespräch, das zu nichts führen konnte, fortzusetzen.

Esha rieb ihr Gesicht am Laken, versuchte, den Tag, die Beleidigungen, das Geschrei, das Gelächter auszulöschen. Sie dachte an ihre Jugend, ein Mädchengymnasium in einem einfachen Viertel von Kalkutta, ihre Klassenkameradinnen und sie kommentierten den Werdegang und das Werk der feministischen Philosophin, träumten davon, die Stadt zu erkunden, wo Menschen verschiedener Herkunft, Künstler und Intellektuelle zusammenkamen, die freie Liebe kennenzulernen, den Mann ihres Lebens zu treffen, der zudem ein Mann von Welt, ein Mann seiner Zeit, der Zukunft sein würde. Sie erinnerte sich an den Rasen, wo sie bis lange nach Unterrichtsende saßen, hinter den Mauern wurde es langsam Abend, der nepalesische Hausmeister und seine Frau bereiteten vor ihrer Wohnung in einem Backsteinofen unter freiem Himmel das Abendessen zu, ein Hahn und seine Hühner scharrten in der Nähe. Wenn Esha und ihre Freundinnen wieder aufstanden, hatten ihre weißen Tuniken grüne Flecken, der Duft von frisch gebackenem Brot ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen, manchmal nahmen sie ein Stück oder etwas Gemüse von der Frau des Hausmeisters an, manchmal rannten sie zur Kreuzung, die Schultasche an die Brust gepresst, in Gedanken schon bei der Tracht Prügel, die sie zu Hause erwartete.

 

Ihr Lehmkörper

»Meine Mutter mag dich, meine Schwester hat neulich auch gut von dir gesprochen … Naja … Keine Ahnung, wenn dein Vater einverstanden ist, ich meine, wenn mein Vater einverstanden ist, geht es vielleicht … bekommen wir es vielleicht hin …«

Sam stockte. Sein trockener Mund verschluckte seine letzten Worte. Mit gesenktem Kopf stand er vor Mina und bearbeitete seine Schuhe von innen mit den Zehen.

Sie hatten sich auf einer kleinen Brache hinter den Marktständen verabredet, wo der Boden von den Murmellöchern der spielenden Kinder zerfurcht war und die Bananenstauden ringsum die Blicke der Passanten abhielten. Der Nachmittag war reglos, die Händler waren zur Mittagsruhe nach Hause gegangen. An einem Mangobaum, dessen Stamm frische weiße Narben trug, hatte jemand eine Schaukel aus einem einfachen Seil und einem Brett befestigt.

Wenn er sie angesehen hätte, hätte Sam bemerkt, dass Minas Augen voller schmutziger Tränen mit einem Mal durchsichtig vor Freude und Leben geworden waren. Sie war überwältigt vor Glück. Damit hatte sie nicht gerechnet, sie lächelte zögerlich. Sams Worte hingen in der Luft, und für Mina bedeuteten sie Hoffnung, ein dünner Faden, an den sie sich klammern konnte, um nicht zu fallen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie war schon dankbar gewesen, dass Sam sich schließlich zu einem Treffen bereiterklärt hatte, und glaubte, dass ihre Gebete vielleicht nicht umsonst gewesen waren. Seit Wochen leugnete sie die Tatsachen, belog sich selbst und ihre Mutter. Sie wurde immer zerstreuter und unruhiger und hatte keine Kraft mehr für den Kampf gegen die Automobilfabrik. Die Bauern von Tajpur hatten sich gewundert und geglaubt, das Treffen mit dem Abgeordneten hätte ihr Angst eingejagt. Dann hatten sie gedacht, dass es der Lauf der Dinge war, dass eben keine Frau die Fahne lange tragen konnte, weil sie zu schwer war.

Der Abgeordnete hatte ihr, sehr freundlich, eine erste Warnung ausgesprochen. Für einige Tage hatte Mina gedacht, dass es vielleicht besser so war. Wer war sie denn, um den Aufstand von Tajpur anzuführen? War es nicht dringender, dass sie sich um sich selbst und ihren Zustand kümmerte, dass sie Sam anrief, dass sie ihn bat, eine Lösung zu finden? Sie war wie die jungen Frauen aus dem Dorf, die auf die Felder gingen, die Halme mit der Handsichel schnitten, den gebündelten, goldenen Paddy auf einem Holzbrett droschen, um die Spreu vom Korn zu trennen, die im Großen Weiher badeten, die einander bei der Taille nahmen, die Luft anhielten und untertauchten, in ihre Saris gewickelt, die ihnen an der Haut klebten und ihre schweren Brüste und ihre breiten Hüften hervorhoben. Bis ihre Familien sie anwiesen, sich auf die Ehe vorzubereiten.

Mina biss sich auf die Lippen. Sie hätte nicht auf Marie hören sollen. Die behauptete, dass sie aus Frankreich gekommen war, um ihre biologischen Eltern zu suchen, aber in Wirklichkeit ihre Zeit hier in Tajpur verbrachte, um mit Mina, den anderen Mädchen und den Bauern, lauter Unbekannten, zu diskutieren und ihnen Ideen in den Kopf zu setzen, sie gegen die Regierung aufzubringen. Mina erschrak: Und wenn alles nur eine Lüge war? Eine Verschwörung? Wenn dieses seltsame Mädchen nur hierher gekommen war, um die Leute gegeneinander aufzubringen, um im Dorf Unfrieden zu stiften? Sie war nicht in Kalkutta geblieben, in der Nähe der Mission, die das Waisenhaus unterhielt. Am ersten Tag, erinnerte sich Mina, hatte sie in einer Teebude mit der Hand auf den Tisch geschlagen, die seit Jahren verstorbene Mutter Oberin verflucht und den Betrügern den Krieg erklärt, die bettelarmen Eltern ihre Babys abkauften, um sie teuer an Familien aus Europa zu verkaufen. Die Leute an den Nebentischen hatten verwundert und belustigt zu ihnen herübergeschaut. Marie sah Mina und ihren Freundinnen aus dem Dorf ähnlich, ihre lehmfarbene Haut, ihr großzügiger Körper mit breiten Schultern und Hüften, ihr schönes, unauffälliges Gesicht. Niemand konnte glauben, dass sie einen fremden Namen trug, einen Namen von Weißen, von Reichen. Sie trug den Namen ihrer Adoptiveltern.

An jenem Tag hatte sich Mina in der Stadt auf die Suche nach Sam gemacht. Seit einem Monat hatte sie einen Verdacht, als ob ihr Instinkt, bevor ihr Körper reagierte, eine Vorahnung von diesem Kind hatte. Dann hatte sich ihre Sorge verfestigt und begonnen, in ihr zu atmen. Am Anfang hatte sie Lust gehabt, es sich mit der Handsichel aus dem Bauch zu reißen.

Sie hatte Sam nicht gefunden. Als sie vor dem Großen Bahnhof von Kalkutta, wo Sam angeblich arbeitete, langsam die Hoffnung verlor, hatte Marie sie angesprochen. Sie beherrschte die Sprache schlecht, was Mina verwirrt hatte. Aber sie war erschöpft, in Panik vor allem, Sam nicht zu finden und keinen Ort für die Nacht zu haben, allein auf der Straße zu stranden, weil der letzte Zug nach Tajpur schon vor über einer Stunde abgefahren war. Schließlich hatte sich Mina mit dieser Marie mit dem Lehmkörper in die Teebude gesetzt. Sie hatten den Verkäufer und seine Frau angebettelt und die Erlaubnis erhalten, in ihrer Küche zu bleiben, der noch rot glühende Ziegelofen wärmte sie. Als sie Maries Geschichte gehört hatte, hatte Mina ihr vorgeschlagen, mit ins Dorf zu kommen und so lange wie nötig bei ihr unterzukommen. Marie hatte ihr ihrerseits geraten, nicht aufzugeben und weiter nach Sam zu suchen, um mit ihm zu reden. Ihn nicht anzuflehen, nicht vor ihm zu weinen, ihn bloß daran zu erinnern, dass Mina wenn nötig mit Sams Eltern reden würde. »Lass dir das nicht gefallen. Wenn du mich brauchst, bin ich da, den knöpfe ich mir persönlich vor.«

Sie sucht Streit! Sie ist hier, um Ärger zu machen, hatte Mina gedacht.

Jetzt, wo Sam ihr eine Chance gab, nahm sich Mina vor, nicht mehr auf Maries Ratschläge zu hören, weder beim Kämpfen noch beim Lieben. Sie war müde vom Streiten, Schreien und Fordern. Sie hatte Lust, die Fahnen und Spruchbänder zusammenzufalten, sich an Sam zu kuscheln, wie früher, als sie Kinder waren, nackt, zusammen unter einem Laken.

Wodka-Litschi

So war es nicht immer gewesen. Sie rief sich oft die Nachmittage in Erinnerung, die Seine, die nicht grau, sondern grün war, durchsichtig vom Licht und der Sonne, die Brücken, die Brüstungen aus Stein, das langsame Aufheizen des Steins, die Geländer mit den Gittern, an denen Verliebte Schlösser angebracht hatten, ein Bild, das ihr später als Motiv auf dem Mantel einer romantischen Designerin wiederbegegnen würde. Es war doch wirklich merkwürdig, die Liebe mit Einschluss gleichzusetzen, dachte sie.

Esha hatte Lust, mit dem Mann darüber zu reden, der sie eingeladen hatte, um ihren Antrag auf Einbürgerung zu prüfen. Das erste Mal hatte er sie in einem Raum aus unverputztem Beton im Keller des Ministeriums empfangen, wo die Mauern jedes ihrer Worte verschluckten, der Teppich einen Geruch von Socken und Schweiß verströmte, aber an diesem Tag trafen sie sich im Four Seasons. Riesige Blumensträuße standen in den vier Ecken der Halle, auf dem Marmorboden hallte das Klackern der spitzen Absätze der Frauen nach, die in der Begleitung von Männern und Einkaufstüten den Raum durchquerten, die Sessel und Sofas schwammen im gedämpften Licht der Bar, die Körper sanken mit der Zeit und dem Alkohol in sich zusammen, die weißen Waden der Bedienungen streiften die zunehmende Dunkelheit, verschwanden hinter dem roten Vorhang, tauchten wieder auf.

Er bestellte ihr einen Wodka-Litschi. Er war so blass wie der Cocktail, mit seinem blonden Lächeln. Schwitzend in seinem schwarzen Jackett, die Hände auf der dunklen Serviette, erinnerte er eher an einen Versicherungsmakler als an einen hohen Beamten. Er verwendete einen falschen Namen, war nie über seine Handynummer erreichbar, Esha fiel unweigerlich in ein Loch des Schweigens. Aber er kam immer wieder, rief sie zurück.

In der Bar des Four Seasons strengte er sich sehr an, höflich, glatt und unauffällig zu wirken. Die Papiere, Fotos, Fotokopien, Briefe und Urkunden interessierten ihn nicht, er wusste, dass es darum nicht ging, dass die Dinge sich in den Alkoven, unter dem Tisch, zwischen den Zeilen abspielten.

»Monsieur Richard …«

»Nennen Sie mich Christophe.« Der Mann nannte sich Christophe Richard, er hatte ihr sogar eine Visitenkarte auf diesen Namen gegeben. Dann fügte er hinzu: »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit als Lehrerin? Ist das nicht zu schwierig?«

»Ich unterrichte gerne. Ich finde wirklich, dass es ein ehrbarer Beruf ist«, sagte Esha mit Nachdruck, aus Sorge, das kleinste Anzeichen von Schwäche könnte ihr, ihrem Antrag Nachteile bringen. Sie war überzeugt, ihren stählernen Willen zeigen und beweisen zu müssen, dass sie glücklich war und entschlossen, es zu sein, dass sie über ausreichende Mittel verfügte und ihre Ziele ohne Zögern verfolgte. Denn wenn sie ihr Leben nicht im Griff hatte, würde man sie hier nicht brauchen. Sie musste immer und überall strahlen, als hätte sie einen Preis, eine Medaille, eine Trophäe gewonnen, sie durfte ihre Zweifel und ihre Ängste nicht zeigen, weil sie beim kleinsten Anzeichen von Schwäche niedergemacht und abgelehnt würde.

Esha wagte es nicht, dem Mann etwas aus ihrem Alltag anzuvertrauen. Das Gymnasium und die Banlieue schienen in diesem gedämpften Ambiente in weiter Ferne. Sie trank den Cocktail, der ihren Mund kühlte und in ihrer Kehle brannte. Diskret musterte sie Christophe Richard, lächelte ihn an, beschloss, ihm von ihren ersten Jahren in diesem Land zu erzählen, von ihrem Tausendundeine Nacht. Sie schilderte ihm, wie sie in der Nähe des Campus herumgestromert war, wie sie die Fontaine Saint-Michel umkreist hatte, auf dem Boulevard auf- und abgelaufen war, durch den Jardin du Luxembourg gestreift und vor den Fotos am Zaun stehen geblieben war, in den alten und neuen Büchern geblättert und die Programme der kleinen Kinos studiert hatte, wo die Sitze wie rote Tulpen aus der Dunkelheit auftauchten, Kaffee getrunken und den Löffel mit dem Schaum abgeleckt hatte, wie sie sich mit den Obern, Ladeninhabern, Ticketverkäufern, Buchhändlern, Bettlern und ausländischen Studenten angefreundet hatte. Sie beschrieb ihm diese Stadt, die sie so sehr liebte, ihre Durchgänge mit dem holprigen Pflaster, ihre Galerien mit den bewachsenen Hinterhöfen, ihren welligen Boden, ihre Hügel und Treppen, ihre endlosen Straßen und Gassen, die sich in regelmäßigen Abständen zu Plätzen weiten, wie die Pirouetten einer Tänzerin, und von denen manchmal der Geruch von Käse und Gemüse aufsteigt, von Fisch und Meeresfrüchten, und die Rufe der Marktschreier, die sie an das Summen der Fliegen in ihrem Land erinnern, feucht und klebrig.

Richard betrachtete sie. »Ich liebe es, Ihnen zuzuhören! Sie lieben unser Land!«

»Man hat mir beigebracht, es zu lieben, das Leben zu lieben, das gute Essen und den guten Wein Ihres Landes.«

Christophe Richard lachte laut auf.

Esha seufzte erleichtert und trank ihren Cocktail. Dann sprach sie über die Seminare ihres Professors, der den Hörsaal in einen antiken Tempel verwandelt hatte, in dem Philosophen die Welt erörterten, über das Café, aus dem sie Jogger, Liebespaare und Touristen auf der Durchreise beobachtete. Sie sprach auch über ihre Kommilitonen, die an ihren Doktorarbeiten saßen oder das Staatsexamen vorbereiteten.

»Und Sie konnten sich natürlich nicht zum Staatsexamen melden! Werden Sie es versuchen, wenn Sie die französische Staatsbürgerschaft haben?«

»Denken Sie denn, ich werde sie bekommen?«

Er antwortete nicht, wandte sich ab und schaute zur Bar.

Esha fühlte sich erschöpft. Der Cocktail hatte sie müde gemacht. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

 

»Sie sind so motiviert, Sie haben so viel zu geben … Haben Sie nie daran gedacht, in die Politik zu gehen?«

»Doch, vielleicht … in meinem Land.«

»Eine Frau wie Sie, mit Ihrem Werdegang, Ihrem Intellekt, Ihrer Energie … Haben Sie nie daran gedacht, sie für Ihre Ideen, Ihre politischen Ziele einzusetzen?«

Obwohl er sich bemühte, konnte er seine Gelassenheit nicht aufrechterhalten, seine Ungeduld war deutlich spürbar.

»Wenn ich politisch aktiv wäre, wenn ich mich engagieren würde, hätte ich es Ihnen gesagt.« Esha mochte die plötzliche Wendung nicht, die das Gespräch genommen hatte. Sie schämte sich ein wenig, ihre Stimme wurde leiser, sie hätte gerne über ihre politischen Überzeugungen gesprochen, wenigstens über die ihrer Freunde, die sie in ihrem Land, in Kalkutta zurückgelassen hatte, wo nach den Demonstrationen Sandalen, Erdnussschalen und Schilder auf dem großen Feld des Maidan in der brennenden Sonne lagen, wo mit roten Fahnen und Spruchbändern bedeckte Busse die Aktivisten zurück zum Ausgangspunkt brachten, der Universität, der Fabrik, den verschiedenen Vierteln der Stadt oder den Dörfern in der näheren und ferneren Umgebung, Esha und ihre Genossen blieben auf den Stufen der Busse sitzen, wenn sie Fahrt aufnahmen, der Wind brachte ihre Haare durcheinander, ihre Stimmen waren heiser, aber sie sangen weiter.

All das hätte Esha Christophe Richard erzählen können, aber sie hatte den Eindruck, dass seine Fragen sich wie ein Fangseil um sie legten, dass es besser war, sich nicht zur Farbe ihrer politischen Überzeugungen zu bekennen, auch wenn sie über die Jahre immer mehr verblasst war. Esha fühlte sich plötzlich allein und traurig darüber. Ihr fehlten die Bindungen von früher, ihre Freunde und Genossen, ihr aktivistischer Clan, alles, was sie zurückgelassen hatte, was sie ausmachte und trug, damals konnte sie sich ohne Furcht ins Leere stürzen, weil sie wusste, dass sie vom Netz einer selbstverständlich und selbstbewusst gelebten Überzeugung aufgefangen werden würde.

In den letzten Monaten hatte sie sich in den sozialen Netzwerken mit Marie angefreundet. Sie ähnelte ihr äußerlich, trug aber einen Namen von hier, sanfte Konsonanten und großzügige Vokale. Marie Montigny war gerade wieder nach Kalkutta gereist, um ihre biologischen Eltern zu suchen. Sie hatte Esha anvertraut, dass sie seit einigen Jahren regelmäßig zwischen Frankreich und Indien pendelte, dass sie sich dort heimischer fühlte, obwohl sie in Paris aufgewachsen war. Esha dachte, dass sie sicher verstanden hätte, wie sie sich in diesem Augenblick in dieser Luxusbar der Lichterstadt fühlte, sie hätte ihr Rat geben, sie unterstützen können, von ihr ging eine ruhige körperliche und geistige Kraft aus. Aber sie war nicht da, und sie waren nicht wirklich befreundet.

Esha musterte den Mann, der Christophe Richard genannt werden wollte. Er errötete und schaute auf sein Glas, trank einen Schluck. Die Kühle des Cocktails gab ihm neuen Mut.

»Und wie denken Sie über Terrorismus?«

»Wie bitte?«

Esha war sprachlos, sie fühlte sich mit einem Mal nervös. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, wie konnte man darüber schon denken, konnte man darüber anders denken als die Mehrheit der Menschen auf dieser Erde! Sie brachte ein paar Worte hervor: »Es ist schrecklich! Absolut inakzeptabel … Menschen zu töten, Kinder und Alte und Frauen …«

Sehr ruhig stellte Christophe Richard sein Glas ab, er wirkte wieder selbstbewusst, entschlossen.

»Und was ist mit dem, der seinen Schuh nach dem amerikanischen Präsidenten geworfen hat?«, fragte er in einem scherzhaften Tonfall.

Esha entspannte sich ein wenig, lachte, zuckte mit den Schultern und antwortete: »Na ja, das gehört sich vielleicht nicht, man kann ja anderer Meinung sein, aber handgreiflich sollte man dabei nicht werden …« Sie wollte weitersprechen, erleichtert, dass er ihr keine Falle gestellt hatte, dass es nur eine einfache Routinefrage gewesen war, aber er ließ sie verstummen. Er fixierte sie und fragte mit fester, fast lautloser Stimme: »Und können Sie sich vorstellen, mir beim Kampf gegen den Terrorismus zu helfen?«

Esha hielt den Atem an. Handelte es sich um eine Falle, einen Tauschhandel? War das der Preis für ihr Leben hier, in diesem Land Europas? Sie versuchte, schnell zu denken, alle Möglichkeiten durchzuspielen, zu verstehen, ob sie aufgeregt sein sollte, angesichts neuer Abenteuer, oder geschmeichelt, weil man sie für ein solches Vorhaben ausgewählt hatte. Sie dachte auch an die französische Studentin, die vor einigen Jahren wegen Spionage im Mittleren Osten angeklagt worden war. Sie fand keine Worte und schaute Christophe Richard an. Aber er verzog keine Miene und fixierte sie weiter schweigend mit seinem einschüchternd intensiven und blonden Blick. Am ganzen Körper erstarrt, fühlte Esha, wie der Wodka ihren Magen überschwemmte und in Flammen setzte, wie er schmolz, sich verflüssigte wie eine überreife Frucht.

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