Bildung zur Dummheit?

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Bildung zur Dummheit?
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Shimona Löwenstein

Bildung zur Dummheit?

Kapitel 3 aus: Der Selbstzweck. Das deutsche Sonderdenken, Teil II

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Einleitung

1. Die Folgen der Schulreformen

2. Ideologische Wunschvorstellungen

3. Absurde Nebenfolge: die sogenannte „Rechtschreibreform“

4. Massenuniversitäten und der „Bologna-Prozeß“

Anmerkungen

Quellen

Abkürzungen:

Impressum neobooks

Vorwort

Der vorliegende Text stellt die Gegenthese zu den Behauptungen heutiger Reformpädagogen und „Bildungsrevolutionäre“ dar. Er beinhaltet ein Kapitel aus einer längeren Arbeit, in der einige As­pekte der deutschen Geschichte und Gegenwart behandelt werden. Darin wurde festgestellt, daß heute fast alle Bereiche des gesellschaftli­chen Lebens, die sozialen Systeme, die Infrastruk­tur, die Sorge für Umwelt und Bildung, bis hin zu den gesellschaftlichen Abwehrkräften, von einer Denkweise geprägt sind, die stets das gleiche Muster aufweist: Bei der Anwen­dung einer Methode zur Behebung eines Mißstands werden weder Nebenwirkun­gen noch Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck berück­sichtigt, ja der Zweck mit dem Mittel verwechselt. Dadurch kommt das zustande, was als „typisch deutscher“ Selbstzweck bekannt ist, inzwischen aber zu einer Art Grundmuster vieler verschiede­ner Erscheinungen der heuti­gen Gesellschaft ge­worden ist. Auf die Dauer wirkt sich dieser Zustand in den jeweiligen gesellschaftli­chen Bereichen wie ein Krebsgeschwür aus, der des eigenen Wachstums wil­len die Funktionsfähigkeit ursprüng­lich sinnvoller Einrichtungen und Struktu­ren der Gesellschaft zerstört.

Eine der treffendsten Beschreibungen einer sol­chen selbstzerstörerischen Gesellschaft findet man beispielsweise in der berühm­ten Satire Jonathan Swifts: Im dritten Buch seiner fantastischen Reise trifft Gulli­ver auf das Volk der Laputaner, das alles nach wissenschaftli­chen Methoden der Mathematik und Musik aufbauen will – mit dem Ergebnis, daß alles Praktische mißlingt. Die Menschen in diesem Land haben eine leidenschaftli­che Neigung zur Politik und zur Neuigkeitskrämerei und mi­schen sich in Sachen ein, die sie nichts angehen und für die sie sich nicht eig­nen. Fer­ner pflegen sie Ängste über unbestimmte Gefahren, wie den Unter­gang der Erde durch den Zusammenstoß mit einem Kometen oder das Erlö­schen der Sonne, so daß sie sich nicht mehr an den gewöhnlichen Vergnügun­gen des Lebens erfreuen können. Bezeichnend ist vor allem Swifts Beschrei­bung der „Akademie der Projektmacher in Lagodo“, die für alles neue Metho­den einführen, weshalb das Land verwüstet, die Häuser verfallen und überall Mangel herrscht. Statt aber davon zu lernen, verfolgen sie mit noch mehr Ei­fer ihre Ent­würfe und werfen denjeni­gen vor, die sich daran nicht beteiligen wollen, sie seien schlechte Bürger, die zur Verbesse­rung des Vaterlandes nicht beitra­gen wollen. Die logische Reaktion auf das Mißlin­gen des Vorha­bens mit der einzig wahren Methode kann daher nur eine Kurzschluß­folge­rung sein, die Su­che nach Sündenböcken, die Vermutung von Sabotage und Verschwörung.

Es handelt sich um die gleiche Denkweise, die am Zweck vor­bei Maßnahmen er­greift oder von einer Fehlinterpretation des Zwecks aus­geht. Mit ihr wird ein gleichsam vorprogrammierter Pro­zeß in Gang gesetzt, der mit einem Ideal beginnt, die Mittel jedoch bald zum eigentlichen Zweck erhebt und durch einen Planungs­wahn von Anfang an auf dessen Ergebnis fest­legt, während man deren An­wendung übertreibt, ja verabsolutiert. Der anfängliche Erfolg scheint die Richtigkeit der Me­thode zu bestätigen, und wenn nicht, wird dieser Erfolg einfach vorgetäuscht oder der Mißerfolg auf an­dere Ursachen zurückgeführt; in einem späteren Stadium bzw. einem veränder­ten Wirkungszusam­menhang beharrt man aber immer noch auf der gleichen Me­thode, vergrößert jedoch die Anstrengung, ja schießt sogar maß­los über das Ziel hinaus. Beim Schei­tern sucht man Sünden­böcke, die die Anstren­gung vermeintlich böswillig vereitel­ten, und glaubt schließlich die Lö­sung in deren Verfolgung oder Überwachung zu finden.

Die gleiche Denkstruktur findet man heute in den meisten politischen Ent­scheidungen, mit denen überflüssige Aktivitäten produziert, Scheinreformen durchgeführt oder sinnvolle blockiert werden, die aber immer wieder treffsicher am Ziel vorbei irgend etwas in Bewegung setzen, das dem eigentlichen Zweck entgegenwirkt, diesen verhindert oder gar völlig ins Gegenteil ver­kehrt. Indem man nicht in der Lage ist, unabhängig von ideologischen Mu­stern Ziele zu bestimmen, geeignete Methoden zu ihrem Erreichen zu analysie­ren und folgerichtig anzuwen­den, und weil die Be­wahrung von Besitz­ständen und Sonderinteressen wichtiger er­scheint als der Erhalt der Funkti­onsfähigkeit der ganzen Gesellschaft, verspielt man heute nicht nur den erworbenen Wohl­stand, sondern opfert auch alle gesellschaftlichen Ressour­cen, die Natur und Umwelt, die Bildung der nachfolgenden Generation und schließlich auch die eigenen humanisti­schen Werte.

Im diesem Kapitel werden Aspekte der seit über 10 Jahre heftig umstrittene Bildungsproblematik disku­tiert, wie veränderte Formen und Inhalte der deutschen Schulbil­dung, festge­stellte Mängel der heutigen Schüler, ihre Ursachen bzw. Schuldzuweisungen, Vorstellungen der Reformpädagogen über veränderte Rolle der Schule, der Leh­rer und Eltern und ihre Folgen, die einzelnen in den letzten Jahren vorgenom­menen Reformen (mit einem Exkurs über die vor einigen Jahren durch­geführte „Rechtschreibreform“) bis hin zur derzeit verlaufenden Hochschul­reform und ihren Folgen. Ihre Darstellung stützt sich neben den aufge­führ­ten Quellen, von denen dieses Kapitel eigentlich am wenigsten auf­weist, auf sechzehn Jahre persönliche Erfahrungen mit dem deutschen Schulsy­stem und zahlreiche private Berichte anderer Eltern. Dabei geht es weni­ger darum, Kritik zu üben und Patentrezepte vorzu­schlagen, mit denen sich gern manche „Bildungskritiker“ hervortun, als auf ein Phänomen hinzuweisen, das von den meisten Bürgern, vor allem den Kinderlo­sen, überhaupt nicht wahrgenommen wird – auf den allmählichen Be­wußtseinswan­del von nachfolgenden Generationen durch veränderte In­halte und Formen des heutigen Bildungswesens.

Wer keine Kinder im schulpflichti­gen Alter hat, weiß überhaupt nicht, wie es heute in den Schulen abläuft, und interessiert sich auch kaum darum. Auch den meisten Eltern geht es vor allem darum, die eigenen Kinder möglichst erfolgreich durch die Schule durchzubrin­gen, um ihnen einen guten Start ins Berufsleben zu gewährleisten. Kritisiert werden hautsächlich nur die mangelhaften Kenntnisse deutscher Schü­ler, z.B. wenn sie eine Ausbildung beginnen. Warum sie in der Schule so gut wie nichts gelernt haben, wird auf verschiedene Sündenböcke zurückge­führt. Kaum jemand fragt danach, zu welcher Art von Menschen die Schule unsere Kinder „bildet“. Es geht aber nicht nur um den jeweiligen Wissens­stand, wie auch immer er für die Heranwachsenden in ihrem späteren Leben sinnvoll oder nützlich sein mag. Wis­sen kann man sich gegebenenfalls noch später aneignen, wobei Lerninhalte ebenso variieren können wie politi­sche Meinungen, ethische Postulate oder Lebensweisen, ohne den Men­schen selbst zu verändern. Von größerer Bedeutung sind die Denk- und Verhal­tensmuster, die sich jeder Mensch von Kindheit an aneignet und die dann entsprechend das Weltbild sowie die Entwicklung unserer Gesell­schaft mitprägen.

Dieser Zusammenhang wird aber in der gesamten Bildungsdiskussion entweder gar nicht oder verzerrt thematisiert. Es wird weder hinterfragt, ob die in der Schule vermittelten Denkmuster überhaupt sinnvoll sind, noch ob und inwiefern sie überhaupt dazu berechtigt ist, die Kinder über die Wissensvermittlung hinaus zu „bilden“ im Sinne von „erziehen“. Stattdessen scheint sich immer mehr die Forderung durchzusetzen, die Schule als Lernort zugunsten einer allgemeinen Erziehungsanstalt umzufunktionieren. Der Tragweite dieser Vorstellung werden sich nicht einmal die bestimmte „alternative Lernmethoden“ naiv befürwortenden Eltern bewußt. Wird die Bildung von Vermittlung bestimmter Wissensinhalte auf die Erziehung des ganzen Menschen ausgeweitet und die Eltern in ihrer erzieherischen Funk­tion durch „Bildungsexperten“ und verschiedene „Pädagogen“ entmün­digt, bedeutet es nämlich eine allmähliche Verwandlung der ganzen Gesellschaft nach eigenen Vorgaben in einem viel größeren Ausmaß, als dies durch immer neue gesetzli­che Regelungen oder Manipulation der öffentlichen Meinung der Fall ist. Denn wer die Denk­weise der Jugend beeinflußt, besitzt den Schlüssel zur Zukunft der Gesellschaft.

Ob dieser seitens selbsternannter Eliten angestrebte Bewußtseinswandel der Gesellschaft über­haupt legitim und von der Bevölkerung erwünscht ist, oder vielmehr einen unzulässigen Versuch darstellt, die Entwicklung der Gesellschaft ideologisch zu manipulieren, bleibt dahingestellt. Es ist jedoch nicht dasjenige, worü­ber während der gesamten Bildungsdiskussion gestritten wird. Kritisiert werden Fehlstunden, Klassenstärken, fehlende Schulmittel oder mangelnde Schullei­stungen, und dem jeweiligen Sündenbockschema entsprechende Patentrezepte angeboten: Einheits- oder Privatschulen, Ganztagsschulen, mehr Unterricht oder mehr „Leistungskontrollen“. Wie die Kinder in der Schule unterrichtet werden und warum, liegt meistens jenseits bildungspoliti­scher Interessen oder wird gemäß eines ideologischen Musters festgelegt. Dementsprechend sind fast alle in den letzten Jahren vorgenommenen „Bildungs­refor­men“ entweder unsinnig oder verkehrt, insbesondere diejeni­gen, die als „Modernisie­rung“ präsentiert und hochgepriesen werden, ohne je nach ihrer praktischen Relevanz über­prüft worden zu sein. Dadurch wird mehr Schaden angerichtet, als es bei anderem unverantwortlichen Handeln der Fall ist.

 

Die Hauptthese des vorliegenden Kapitels lautet: Unabhängig von den äuße­ren Bedingun­gen des Lernens und anderen Faktoren, wie negative Ein­flüsse der postmodernen Gesellschaft, sind es die reformierten Lehrmethoden, die für den Niedergang der Bildung verantwortlich sind. Diese „modernen didakti­schen Methoden“ funktionieren nicht, weil sie von falschen Annahmen über den Menschen, dessen Lernbereitschaft und Lernfähigkeit ausgehen und eine für ganz andere Lebensbedingungen entwickelte Pädagogik an Schulen mit unterschiedlichen Lerntraditionen zwanghaft implementieren wollen. Da­durch verschlechtern sie nicht nur die Lernergebnisse der Schüler; auf die Dauer bewirken sie das Gegenteil des Erwünschten: Fleiß, Selbstdisziplin und Konzentrationsfähigkeit bleiben unterentwickelt, die Lernbereitschaft schwin­det, Selbständigkeit, analytisches und systematisches Denken und Unterschei­dungsvermö­gen verkümmern. Trotz schlechter Ergebnisse werden die bereits eingeführ­ten Lehrmethoden nicht hinterfragt, sondern im Gegenteil lautstark propagiert und inzwischen auch auf die Berufsschulen und die Erwachsenenbil­dung ausgeweitet. Ihre flächendeckende Einführung bedeutet nicht nur eine nennenswerte Lernbehinderung, sondern auch eine Verdum­mung der ganzen Gesellschaft im katastrophalen Ausmaß.

Kinder sind un­sere Zukunft; ihre Erziehung und Bildung ist die unerläßliche Bedingung für den Fortbestand unserer Gesellschaft, ja unserer Zivilisation überhaupt. Wir überlas­sen sie aber lieber selbsternann­ten „Fachleuten“, diversen „Bildungsexper­ten“ und „Fachpädagogen“ – Ingenieu­ren der menschlichen Seele, die meinen, mit ihrem Fachjargon die Problematik bes­ser verstehen und regeln zu können, als es die Menschen immer schon getan haben. Zumin­dest so lange, bis wir eines Tages feststellen, daß wir und unsere Kinder einan­der nicht verste­hen. Daß sie eine andere Sprache sprechen oder bei glei­chen Begriffen etwas anderes meinen und in einer anderen Welt leben als wir. Dann ist es aber zu spät, ihnen erklären zu wollen, daß ihre Welt ein Trugbild ist.

Einleitung

1964 stellte Georg Picht seine Thesen von der „deutschen Bildungskatastro­phe“ auf: Das deutsche Schulsystem befände sich in einem „Bildungsnot­stand“; sein Kardinalproblem liege in einer zu geringen Abiturientenzahl. Dem­nach sollten das ländliche Schulwesen modernisiert, die Lehre besser vermit­telt und die Zahl der Abiturienten verdoppelt werden. [1] Diese vermut­lich gut gemeinten Thesen und die damit verbundenen Absichten, den Kin­dern aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine bessere Bildung und damit mehr Aufstiegschancen zu ermöglichen, waren folgenschwerer als jede Kritik an anderen gesellschaftlichen Bereichen, nichtsdestoweniger nicht unbedingt in dem Sinne, wie es den Kritikern am traditionellen deutschen Bildungswe­sen erwünscht schien.

Nach Hans Heigerts Ansicht bestand in Deutschland seit der Zeit der Roman­tik und des Idea­lismus stets ein starker Drang, alles Politische pädago­gisch aufzufassen. Der demokrati­sche Staat stellt für einen Großteil seiner Bür­ger eine einzige pädagogische Veranstaltung dar, mit sorgenvoller Kritik an der öffentlichen Meinungsbildung. Da man jedoch stets von der Unmündig­keit der Bürger ausgeht und das Volk als Gegenstand der Erzie­hung auffaßt, ent­springt diese Auffassung einem vordemokratischen, wenn nicht totalitären Denken. [2] Diese volkserzieherische Absicht findet man gewisser­maßen auch in der Vorstellung wieder, ideologi­sche Stereotype (bei­spielsweise über die Fremden) durch einen „pädagogischen Pro­zeß“ nationa­ler Aufklärung, „Einübung der Vernunft“ u.ä. überwinden zu wollen. [3] Daß das „pädagogische Ergebnis“ dieses Prozesses, trotz seiner kritischen Inten­tion, selbst eine Art Ideologisierung bedeutet, war seinen Befürwortern offensicht­lich nicht bewußt.

Ganz im Sinne dieser Tradition, in der sich die „Eliten“ insbesondere für die Volkserziehung zuständig glaubten, war die Pädagogik auch derjenige Wissen­schaftsbereich, der Ende der sechziger Jahre am stärksten in das Magnet­feld linker Theorie geriet. Wie einst die aus der Erlebniswelt der Jugend­bewegung kommenden Akademiker oft in pädagogische Berufe dräng­ten, [4] so zog es auch die weltfremden Revolutionäre von 1968 wieder vorwie­gend in den Bereich der Erziehung. Die linke politische Kultur fand ein neues Betätigungsfeld in der sog. „emanzipatorischen Pädagogik“ als Leitgedan­ken, während ihre politischen Thesen und Grundsätze auch in die offiziellen Rahmenpläne eingingen. [5] Damit setzte eine unaufhaltsame Entwicklung rasch aufeinander folgender Schul- und Bildungsreformen ein mit dem Zweck, durch Schaffung einer besseren Schulatmosphäre und antiautoritäre Unterrichts­methoden die folgende Generation zu „emanzipierten kritischen“ Jugendlichen zu erziehen.

Dieses laut proklamierte Ideal hatte aber wenig mit der Realität der vorgenom­menen „Flurbereinigung der Schule“ durch Zentralisierung und Auf­bau diverser vorschulischer Einrichtungen, Jugendfreizeitheime, Einfüh­rung von Eingangs- und Orientierungsstufen, Förder- und Wahlpflichtfächern zu tun, die man im Zuge des Reformeifers der 60er und 70er Jahre nach dem Muster einer organisierten „gesellschaftsrelevanten“ Pädagogik einführte. Kriti­ker sahen in diesem Trend bereits einen dialektischen Umschlag der emanzipatorischen Pädagogik in ihr Gegenteil: eine Entfremdung des Kindes von seiner natürlichen Lebenswelt durch anonyme Massenanstalten, Verwand­lung des Lehrers in Spezialisten und des Erziehers in Therapeuten, der seine unmündige Klientel in Anstalten innerhalb eines „progressiven Sozialisationsrasters“ sondert und ausgrenzt. Der Begründer der sog. „Antipäda­gogik“ Eckehart von Braunmühl bezeichnete diesen vermeintli­chen pädagogischen Fortschritt der „missionarischen“ Bildungsreformer mit ihren abstrakten „Kompe-tenzen“ und „Problemlösungsoperationen“ als eine „Versklavung des Kindes“ und das Erziehungsgeschäft als ein „gigantisches, mit wissenschaftlicher Akribie aufgebautes und organisiertes Bordell“, in dem man Kinder prostituiere. [6] Der Philosoph Robert Spaemann meinte spä­ter, das Wort „Emanzipation“ habe einen Bedeutungswandel durchgemacht: Durch seine Verwendung nicht mehr in politisch-rechtlichen, sondern in soziopsy­chologischen und schließlich pädagogischen Kontexten habe sich des­sen Sinn in sein Gegenteil verkehrt. Es bedeutet nicht mehr einen Status – die Mündigkeit, sondern ein tabuisiertes Ideal, das als Lernziel und Lernpro­zeß eine politpädagogische Legitimation zur neuen Bevormundung bietet. Die „emanzipatorische Pädagogik“ ist nach seinem Urteil im schlechten Sinne autori­tär; es ist eine Herrschaftsideologie der Pädagogen, die die eigentliche Aufgabe – die Erziehung zur Selbständigkeit und starker Persönlichkeit – ver­fehlt. [7]

Kritik an Schulreformen wurde also von Anfang an geäußert, fand aber lange nicht so viel Beachtung wie die Kritik an parallel entstehenden Massenuni­versitäten und dem damit zusammenhängenden sinkendem Hochschul­niveau. Die Entwicklung an den deutschen Universitäten wurde kaum in Zusammenhang mit den parallelen wenig beachteten Reformen an Grund- und Mittelschulen gestellt. Man betrachtete diese eher wohlwollend und wertete positiv, daß sich die ehemaligen Revolutionäre, anstatt einen Um­sturz zu planen, konkreter Arbeit innerhalb der gegebenen gesellschaftli­chen Strukturen, vornehmlich der Erziehung der Jugend, zuwandten, ja glaubte, daß mit den reformierten Schulen und steigenden Anzahl von Abiturien­ten die Bildungschancen für Kinder aus unteren Schichten tatsäch­lich verbessert würden. Kurt Sontheimer, der diese Entwicklung mit einer gewissen Skepsis beobachtete, zog noch 1983 aus der Bildungsreform eine zwie­spältige Bilanz: Sie schien immerhin bestehende Ungleichheiten der Bil­dungschancen korrigiert, ein differenziertes Bildungsangebot und mehr Mitbe­stimmungsrecht ermöglicht zu haben. [8] Dreißig Jahre später dürfte die Bilanz auch in diesen Punkten nur noch Negatives verzeichnen.

1. Die Folgen der Schulreformen

Anzeichen dafür, daß etwas an den deutschen Schulen nicht in Ordnung war, zeigten sich allmählich in weiteren Bereichen. Die Industrie klagt schon lange darüber, daß die Schulabgän­ger große Defizite vor allem in den grundlegen­den Fähigkeiten aufweisen und sich für die Praxis schlecht eignen. [9] Das ist auch der Hauptgrund dafür, daß junge Menschen nach Schulende oft keinen Ausbildungsplatz finden können. Um diesem Ausbildungsplatzman­gel abzuhel­fen, wurde vor einiger Zeit eine Ausbildungsplatzabgabe in Erwägung gezogen, auf die dann aber verzichtet wurde. Sie sollte diejenige Betriebe tref­fen, die nicht oder nicht ausreichend Ausbildungsplätze anboten. Wäre sie verwirklicht worden, wäre daraus vermutlich ein bürokratisches Monster entstan­den, eine mit hohem Aufwand betrie­bene kontraproduktive Zwangsmaß­nahme, der zufolge es eher weniger Lehrstellen gege­ben hätte. Über­dies hätte diese Abgabe absurderweise auch ganz kleine Einrichtungen, wie Kindergärten oder Pflegeheime getroffen, die gar nicht ausbilden können oder dürfen, und diese dann mir zusätzlichen Kosten ohne jeden Sinn und Zweck belastet. [10]

Nun ist es keines­wegs selbstverständlich, daß für die Berufsausbildung die Wirt­schaft zustän­dig ist, und zwar zu Bedingungen, die sie nicht selbst festlegt, und daß sie bestraft werden soll für Mängel, die nicht sie, sondern der Staat durch schlechte Grundausbil­dung der Schulabgänger verursacht hat. Es wird zwar immer wieder behauptet, das bestehende duale System der beruflichen Ausbildung in Deutschland habe sich gut bewährt. Das mag sogar stimmen: Die traditionelle Ausbildung von Lehrlingen direkt in Betriben, ergänzt um Theorie in Berufsschulen, hat ihre Vorteile, obwohl es in manchen Län­dern (und auch hierzulande) ebenfalls erfolgreiche Berufsschulen mit integrierter Praxis gibt. Nicht hinterfragt bleibt ferner, ob und inwiefern dieser Erfolg den einzelnen Betrieben oder dem verpflichtenden begleitenden Schulunterricht zuzuscheiben ist, der bei den Lehrlingen in der Regel ziemlich unbeliebt ist, [11] und der inzwischen ebenfalls zum Gegenstand reformerischen Eifers geworden ist.

Auch über die festgestellte Leseschwäche vieler Deutschen weiß man schon lange be­scheid. Der Bundesverband Alphabetisierung e.V. geht von vier Millionen Analphabeten in Deutschland aus [12] – eine erschreckend hohe Zahl für ein wohlhabendes Land mit zehnjähriger Schulpflicht, wo die Argu­mente: Vernachlässigung der Schriftsprache im Elternhaus oder Armut kaum überzeugen können. Solche Beschwerden sind in der Regel Anlaß für vermehr­ten Reformeifer: an der praktischen Tauglichkeit der postulierten Vorha­ben wird nicht gezwei­felt. Erst ein paar Jahre vor dem Erscheinen der ersten internationalen Vergleichsstu­die, der sog. „PISA“, äußerte ein liberaler Kritiker des staatlichen Bildungsmonopols unter anderem, das Bildungssy­stem werde von gewissen politischen Gruppierungen zu eigenen ideolo­gisch Zwecken mißbraucht, die Bildungsreform führe zur Abwertung von Berufsausbil­dung und zur allgemeinen Senkung des Niveaus von Abitur und Hochschulen, die vom Steuerzah­ler finanziert werden, ohne das erwünschte Gerechtigkeitsziel zu erreichen. Dabei stellte er auch die von anderen stets ver­miedene, in dem Zusammenhang mit den ständigen Klagen entscheidende Frage: „Hat nicht ‚die deutsche Bildungskatastrophe‘ zu einem hekti­schen staatli­chen Aktivismus geführt, der erst die Probleme schuf, vor denen wir heute ste­hen? Sind nicht überfüllte Hörsaale und damit überforderte Hochschu­len, aber auch sinkende Attraktivität der Berufsausbildung Zeichen für eine Fehlentwicklung des deutschen Bildungswe­sens?“ [13]

 

Nach der OECD-Studie PISA (Programm for International Student Assess­ment) aus dem Jahre 2000 (veröffentlicht am 4.12.2001) kam dann schließ­lich an die Öffentlichkeit, was schon viele Jahre zuvor als sog. „Bildungsmi­sere“ in Deutschland bekannt war, aber niemals wirklich zugegeben wurde, näm­lich daß sich die Leistungen der deutschen Schüler im internatio­nalen Ver­gleich am Ende der Skala befinden, somit etwa auf dem Niveau von Brasi­lien oder Rumänien. Insbesondere im Lesen lag Deutschland auf Rang 25 von 32 Ländern. Die Abhängigkeit der schulischen Leistungen vom Eltern­haus wurde überdies nach vielen Reformen zugunsten und im Namen der weniger Gebildeten eher vergrößert als aufgehoben. [14] Das hat schließlich einige Jahre später auch der UN-Sonderberichterstatter festgestellt, selbst wenn er sich über die Ursachen dieses Mißverhältnisses im Irrtum befand. So­mit vermag das deutsche Schulsystem am allerwenigsten, die sozialen Unter­schiede in der Bildung durch die Schule zu kompensieren. Dumm gelau­fen. Die neue Bildungskatastrophe lautete der Titel einer Spiegel-Serie, in der die Ergebnisse der deutschen Reformen fast 40 Jahre nach Pichts Thesen bespro­chen wurden, als gäbe es zu einer „Katastrophe“ noch eine Steigerung. Jochen Bölsche spricht darin vom „Pfusch am Kind“, während Günther Jauch seine Erfahrungen mit deutschen Schulen und entsprechende Kritik an ihnen zum Ausdruck bringt und für eine „strenge und freie“ Erziehung – das Gegenteil der heutigen schulischen Praxis – plädiert. [15]

Die deutschen Kultusminister wiesen jede Kritik von sich, ja glaubten sich so­gar in ihrer fortwährenden Reformtätigkeit bestätigt. Auch nach dem vorge­nommenen Ländervergleich vom Juni 2002 äußerte die Kultusministerkonfe­renz, die Meldungen entbehrten einer sachlichen Grundlage. Der Versuch, den Sachverhalt zu leugnen, mißlang allerdings, und in der Öffentlichkeit wurde inzwischen heftig über die Ursachen des schlechten Abschneidens deutscher Schüler diskutiert. Statt aber die Problematik zu analysieren, um an dem Schiefstand etwas zu ändern, wurde über die Bildung von allen mögli­chen Standpunkten diskutiert und diverse Vorschläge wurden vorgetragen, wo­bei viele aneinander vorbei redeten. [16] Meistens drehten sich die Debatten um Themen wie Ausländerkinder, Schulformen, soziale Fragen u.ä., während der Kern des Problems unberührt blieb. Man wunderte sich über unterschiedli­che Ergebnisse bei annähernd gleichen Rahmenbedingungen, wie finanzieller und sonstiger Ausstattung der Schulen, Klassenstärken und Unterrichtsausfällen, auf die man gerne zurückgreift, um mangelhafte Schulergeb­nisse zu begründen. Auch das immer wiederholte Argument vom Geldmangel im Vergleich zu den Spitzenländern trug in diesem Fall wenig, weil auch Länder, die viel weniger für Bildung ausgegeben hatten als Deutsch­land, besser abgeschnitten haben. Da weder beim Vergleich der Bundes­länder untereinander noch im internationalen Vergleich ein kausaler Zusammenhang zwischen den Bedingungen und der Qualität des Unterrichts erkennbar war, müßten die Ursachen anderswo gesucht werden. Statt sich aber mit den offensichtlich falschen Annahmen auseinanderzusetzen, daß Geld­mittel und kleine Klassen oder mehr Unterricht allein eine bessere Bil­dung ermöglichen, und nach tatsächlichen Gründen des Versagens zu fragen, wurde auch in diesem Fall auf das bekannte Sündenbockschema zurückgegrif­fen.