Shimona Löwenstein
Bildung zur Dummheit?
Kapitel 3 aus: Der Selbstzweck. Das deutsche Sonderdenken, Teil II
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Einleitung
1. Die Folgen der Schulreformen
2. Ideologische Wunschvorstellungen
3. Absurde Nebenfolge: die sogenannte „Rechtschreibreform“
4. Massenuniversitäten und der „Bologna-Prozeß“
Anmerkungen
Quellen
Abkürzungen:
Impressum neobooks
Der vorliegende Text stellt die Gegenthese zu den Behauptungen heutiger Reformpädagogen und „Bildungsrevolutionäre“ dar. Er beinhaltet ein Kapitel aus einer längeren Arbeit, in der einige Aspekte der deutschen Geschichte und Gegenwart behandelt werden. Darin wurde festgestellt, daß heute fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die sozialen Systeme, die Infrastruktur, die Sorge für Umwelt und Bildung, bis hin zu den gesellschaftlichen Abwehrkräften, von einer Denkweise geprägt sind, die stets das gleiche Muster aufweist: Bei der Anwendung einer Methode zur Behebung eines Mißstands werden weder Nebenwirkungen noch Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck berücksichtigt, ja der Zweck mit dem Mittel verwechselt. Dadurch kommt das zustande, was als „typisch deutscher“ Selbstzweck bekannt ist, inzwischen aber zu einer Art Grundmuster vieler verschiedener Erscheinungen der heutigen Gesellschaft geworden ist. Auf die Dauer wirkt sich dieser Zustand in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen wie ein Krebsgeschwür aus, der des eigenen Wachstums willen die Funktionsfähigkeit ursprünglich sinnvoller Einrichtungen und Strukturen der Gesellschaft zerstört.
Eine der treffendsten Beschreibungen einer solchen selbstzerstörerischen Gesellschaft findet man beispielsweise in der berühmten Satire Jonathan Swifts: Im dritten Buch seiner fantastischen Reise trifft Gulliver auf das Volk der Laputaner, das alles nach wissenschaftlichen Methoden der Mathematik und Musik aufbauen will – mit dem Ergebnis, daß alles Praktische mißlingt. Die Menschen in diesem Land haben eine leidenschaftliche Neigung zur Politik und zur Neuigkeitskrämerei und mischen sich in Sachen ein, die sie nichts angehen und für die sie sich nicht eignen. Ferner pflegen sie Ängste über unbestimmte Gefahren, wie den Untergang der Erde durch den Zusammenstoß mit einem Kometen oder das Erlöschen der Sonne, so daß sie sich nicht mehr an den gewöhnlichen Vergnügungen des Lebens erfreuen können. Bezeichnend ist vor allem Swifts Beschreibung der „Akademie der Projektmacher in Lagodo“, die für alles neue Methoden einführen, weshalb das Land verwüstet, die Häuser verfallen und überall Mangel herrscht. Statt aber davon zu lernen, verfolgen sie mit noch mehr Eifer ihre Entwürfe und werfen denjenigen vor, die sich daran nicht beteiligen wollen, sie seien schlechte Bürger, die zur Verbesserung des Vaterlandes nicht beitragen wollen. Die logische Reaktion auf das Mißlingen des Vorhabens mit der einzig wahren Methode kann daher nur eine Kurzschlußfolgerung sein, die Suche nach Sündenböcken, die Vermutung von Sabotage und Verschwörung.
Es handelt sich um die gleiche Denkweise, die am Zweck vorbei Maßnahmen ergreift oder von einer Fehlinterpretation des Zwecks ausgeht. Mit ihr wird ein gleichsam vorprogrammierter Prozeß in Gang gesetzt, der mit einem Ideal beginnt, die Mittel jedoch bald zum eigentlichen Zweck erhebt und durch einen Planungswahn von Anfang an auf dessen Ergebnis festlegt, während man deren Anwendung übertreibt, ja verabsolutiert. Der anfängliche Erfolg scheint die Richtigkeit der Methode zu bestätigen, und wenn nicht, wird dieser Erfolg einfach vorgetäuscht oder der Mißerfolg auf andere Ursachen zurückgeführt; in einem späteren Stadium bzw. einem veränderten Wirkungszusammenhang beharrt man aber immer noch auf der gleichen Methode, vergrößert jedoch die Anstrengung, ja schießt sogar maßlos über das Ziel hinaus. Beim Scheitern sucht man Sündenböcke, die die Anstrengung vermeintlich böswillig vereitelten, und glaubt schließlich die Lösung in deren Verfolgung oder Überwachung zu finden.
Die gleiche Denkstruktur findet man heute in den meisten politischen Entscheidungen, mit denen überflüssige Aktivitäten produziert, Scheinreformen durchgeführt oder sinnvolle blockiert werden, die aber immer wieder treffsicher am Ziel vorbei irgend etwas in Bewegung setzen, das dem eigentlichen Zweck entgegenwirkt, diesen verhindert oder gar völlig ins Gegenteil verkehrt. Indem man nicht in der Lage ist, unabhängig von ideologischen Mustern Ziele zu bestimmen, geeignete Methoden zu ihrem Erreichen zu analysieren und folgerichtig anzuwenden, und weil die Bewahrung von Besitzständen und Sonderinteressen wichtiger erscheint als der Erhalt der Funktionsfähigkeit der ganzen Gesellschaft, verspielt man heute nicht nur den erworbenen Wohlstand, sondern opfert auch alle gesellschaftlichen Ressourcen, die Natur und Umwelt, die Bildung der nachfolgenden Generation und schließlich auch die eigenen humanistischen Werte.
Im diesem Kapitel werden Aspekte der seit über 10 Jahre heftig umstrittene Bildungsproblematik diskutiert, wie veränderte Formen und Inhalte der deutschen Schulbildung, festgestellte Mängel der heutigen Schüler, ihre Ursachen bzw. Schuldzuweisungen, Vorstellungen der Reformpädagogen über veränderte Rolle der Schule, der Lehrer und Eltern und ihre Folgen, die einzelnen in den letzten Jahren vorgenommenen Reformen (mit einem Exkurs über die vor einigen Jahren durchgeführte „Rechtschreibreform“) bis hin zur derzeit verlaufenden Hochschulreform und ihren Folgen. Ihre Darstellung stützt sich neben den aufgeführten Quellen, von denen dieses Kapitel eigentlich am wenigsten aufweist, auf sechzehn Jahre persönliche Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem und zahlreiche private Berichte anderer Eltern. Dabei geht es weniger darum, Kritik zu üben und Patentrezepte vorzuschlagen, mit denen sich gern manche „Bildungskritiker“ hervortun, als auf ein Phänomen hinzuweisen, das von den meisten Bürgern, vor allem den Kinderlosen, überhaupt nicht wahrgenommen wird – auf den allmählichen Bewußtseinswandel von nachfolgenden Generationen durch veränderte Inhalte und Formen des heutigen Bildungswesens.
Wer keine Kinder im schulpflichtigen Alter hat, weiß überhaupt nicht, wie es heute in den Schulen abläuft, und interessiert sich auch kaum darum. Auch den meisten Eltern geht es vor allem darum, die eigenen Kinder möglichst erfolgreich durch die Schule durchzubringen, um ihnen einen guten Start ins Berufsleben zu gewährleisten. Kritisiert werden hautsächlich nur die mangelhaften Kenntnisse deutscher Schüler, z.B. wenn sie eine Ausbildung beginnen. Warum sie in der Schule so gut wie nichts gelernt haben, wird auf verschiedene Sündenböcke zurückgeführt. Kaum jemand fragt danach, zu welcher Art von Menschen die Schule unsere Kinder „bildet“. Es geht aber nicht nur um den jeweiligen Wissensstand, wie auch immer er für die Heranwachsenden in ihrem späteren Leben sinnvoll oder nützlich sein mag. Wissen kann man sich gegebenenfalls noch später aneignen, wobei Lerninhalte ebenso variieren können wie politische Meinungen, ethische Postulate oder Lebensweisen, ohne den Menschen selbst zu verändern. Von größerer Bedeutung sind die Denk- und Verhaltensmuster, die sich jeder Mensch von Kindheit an aneignet und die dann entsprechend das Weltbild sowie die Entwicklung unserer Gesellschaft mitprägen.
Dieser Zusammenhang wird aber in der gesamten Bildungsdiskussion entweder gar nicht oder verzerrt thematisiert. Es wird weder hinterfragt, ob die in der Schule vermittelten Denkmuster überhaupt sinnvoll sind, noch ob und inwiefern sie überhaupt dazu berechtigt ist, die Kinder über die Wissensvermittlung hinaus zu „bilden“ im Sinne von „erziehen“. Stattdessen scheint sich immer mehr die Forderung durchzusetzen, die Schule als Lernort zugunsten einer allgemeinen Erziehungsanstalt umzufunktionieren. Der Tragweite dieser Vorstellung werden sich nicht einmal die bestimmte „alternative Lernmethoden“ naiv befürwortenden Eltern bewußt. Wird die Bildung von Vermittlung bestimmter Wissensinhalte auf die Erziehung des ganzen Menschen ausgeweitet und die Eltern in ihrer erzieherischen Funktion durch „Bildungsexperten“ und verschiedene „Pädagogen“ entmündigt, bedeutet es nämlich eine allmähliche Verwandlung der ganzen Gesellschaft nach eigenen Vorgaben in einem viel größeren Ausmaß, als dies durch immer neue gesetzliche Regelungen oder Manipulation der öffentlichen Meinung der Fall ist. Denn wer die Denkweise der Jugend beeinflußt, besitzt den Schlüssel zur Zukunft der Gesellschaft.
Ob dieser seitens selbsternannter Eliten angestrebte Bewußtseinswandel der Gesellschaft überhaupt legitim und von der Bevölkerung erwünscht ist, oder vielmehr einen unzulässigen Versuch darstellt, die Entwicklung der Gesellschaft ideologisch zu manipulieren, bleibt dahingestellt. Es ist jedoch nicht dasjenige, worüber während der gesamten Bildungsdiskussion gestritten wird. Kritisiert werden Fehlstunden, Klassenstärken, fehlende Schulmittel oder mangelnde Schulleistungen, und dem jeweiligen Sündenbockschema entsprechende Patentrezepte angeboten: Einheits- oder Privatschulen, Ganztagsschulen, mehr Unterricht oder mehr „Leistungskontrollen“. Wie die Kinder in der Schule unterrichtet werden und warum, liegt meistens jenseits bildungspolitischer Interessen oder wird gemäß eines ideologischen Musters festgelegt. Dementsprechend sind fast alle in den letzten Jahren vorgenommenen „Bildungsreformen“ entweder unsinnig oder verkehrt, insbesondere diejenigen, die als „Modernisierung“ präsentiert und hochgepriesen werden, ohne je nach ihrer praktischen Relevanz überprüft worden zu sein. Dadurch wird mehr Schaden angerichtet, als es bei anderem unverantwortlichen Handeln der Fall ist.
Die Hauptthese des vorliegenden Kapitels lautet: Unabhängig von den äußeren Bedingungen des Lernens und anderen Faktoren, wie negative Einflüsse der postmodernen Gesellschaft, sind es die reformierten Lehrmethoden, die für den Niedergang der Bildung verantwortlich sind. Diese „modernen didaktischen Methoden“ funktionieren nicht, weil sie von falschen Annahmen über den Menschen, dessen Lernbereitschaft und Lernfähigkeit ausgehen und eine für ganz andere Lebensbedingungen entwickelte Pädagogik an Schulen mit unterschiedlichen Lerntraditionen zwanghaft implementieren wollen. Dadurch verschlechtern sie nicht nur die Lernergebnisse der Schüler; auf die Dauer bewirken sie das Gegenteil des Erwünschten: Fleiß, Selbstdisziplin und Konzentrationsfähigkeit bleiben unterentwickelt, die Lernbereitschaft schwindet, Selbständigkeit, analytisches und systematisches Denken und Unterscheidungsvermögen verkümmern. Trotz schlechter Ergebnisse werden die bereits eingeführten Lehrmethoden nicht hinterfragt, sondern im Gegenteil lautstark propagiert und inzwischen auch auf die Berufsschulen und die Erwachsenenbildung ausgeweitet. Ihre flächendeckende Einführung bedeutet nicht nur eine nennenswerte Lernbehinderung, sondern auch eine Verdummung der ganzen Gesellschaft im katastrophalen Ausmaß.
Kinder sind unsere Zukunft; ihre Erziehung und Bildung ist die unerläßliche Bedingung für den Fortbestand unserer Gesellschaft, ja unserer Zivilisation überhaupt. Wir überlassen sie aber lieber selbsternannten „Fachleuten“, diversen „Bildungsexperten“ und „Fachpädagogen“ – Ingenieuren der menschlichen Seele, die meinen, mit ihrem Fachjargon die Problematik besser verstehen und regeln zu können, als es die Menschen immer schon getan haben. Zumindest so lange, bis wir eines Tages feststellen, daß wir und unsere Kinder einander nicht verstehen. Daß sie eine andere Sprache sprechen oder bei gleichen Begriffen etwas anderes meinen und in einer anderen Welt leben als wir. Dann ist es aber zu spät, ihnen erklären zu wollen, daß ihre Welt ein Trugbild ist.
1964 stellte Georg Picht seine Thesen von der „deutschen Bildungskatastrophe“ auf: Das deutsche Schulsystem befände sich in einem „Bildungsnotstand“; sein Kardinalproblem liege in einer zu geringen Abiturientenzahl. Demnach sollten das ländliche Schulwesen modernisiert, die Lehre besser vermittelt und die Zahl der Abiturienten verdoppelt werden. [1] Diese vermutlich gut gemeinten Thesen und die damit verbundenen Absichten, den Kindern aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine bessere Bildung und damit mehr Aufstiegschancen zu ermöglichen, waren folgenschwerer als jede Kritik an anderen gesellschaftlichen Bereichen, nichtsdestoweniger nicht unbedingt in dem Sinne, wie es den Kritikern am traditionellen deutschen Bildungswesen erwünscht schien.
Nach Hans Heigerts Ansicht bestand in Deutschland seit der Zeit der Romantik und des Idealismus stets ein starker Drang, alles Politische pädagogisch aufzufassen. Der demokratische Staat stellt für einen Großteil seiner Bürger eine einzige pädagogische Veranstaltung dar, mit sorgenvoller Kritik an der öffentlichen Meinungsbildung. Da man jedoch stets von der Unmündigkeit der Bürger ausgeht und das Volk als Gegenstand der Erziehung auffaßt, entspringt diese Auffassung einem vordemokratischen, wenn nicht totalitären Denken. [2] Diese volkserzieherische Absicht findet man gewissermaßen auch in der Vorstellung wieder, ideologische Stereotype (beispielsweise über die Fremden) durch einen „pädagogischen Prozeß“ nationaler Aufklärung, „Einübung der Vernunft“ u.ä. überwinden zu wollen. [3] Daß das „pädagogische Ergebnis“ dieses Prozesses, trotz seiner kritischen Intention, selbst eine Art Ideologisierung bedeutet, war seinen Befürwortern offensichtlich nicht bewußt.
Ganz im Sinne dieser Tradition, in der sich die „Eliten“ insbesondere für die Volkserziehung zuständig glaubten, war die Pädagogik auch derjenige Wissenschaftsbereich, der Ende der sechziger Jahre am stärksten in das Magnetfeld linker Theorie geriet. Wie einst die aus der Erlebniswelt der Jugendbewegung kommenden Akademiker oft in pädagogische Berufe drängten, [4] so zog es auch die weltfremden Revolutionäre von 1968 wieder vorwiegend in den Bereich der Erziehung. Die linke politische Kultur fand ein neues Betätigungsfeld in der sog. „emanzipatorischen Pädagogik“ als Leitgedanken, während ihre politischen Thesen und Grundsätze auch in die offiziellen Rahmenpläne eingingen. [5] Damit setzte eine unaufhaltsame Entwicklung rasch aufeinander folgender Schul- und Bildungsreformen ein mit dem Zweck, durch Schaffung einer besseren Schulatmosphäre und antiautoritäre Unterrichtsmethoden die folgende Generation zu „emanzipierten kritischen“ Jugendlichen zu erziehen.
Dieses laut proklamierte Ideal hatte aber wenig mit der Realität der vorgenommenen „Flurbereinigung der Schule“ durch Zentralisierung und Aufbau diverser vorschulischer Einrichtungen, Jugendfreizeitheime, Einführung von Eingangs- und Orientierungsstufen, Förder- und Wahlpflichtfächern zu tun, die man im Zuge des Reformeifers der 60er und 70er Jahre nach dem Muster einer organisierten „gesellschaftsrelevanten“ Pädagogik einführte. Kritiker sahen in diesem Trend bereits einen dialektischen Umschlag der emanzipatorischen Pädagogik in ihr Gegenteil: eine Entfremdung des Kindes von seiner natürlichen Lebenswelt durch anonyme Massenanstalten, Verwandlung des Lehrers in Spezialisten und des Erziehers in Therapeuten, der seine unmündige Klientel in Anstalten innerhalb eines „progressiven Sozialisationsrasters“ sondert und ausgrenzt. Der Begründer der sog. „Antipädagogik“ Eckehart von Braunmühl bezeichnete diesen vermeintlichen pädagogischen Fortschritt der „missionarischen“ Bildungsreformer mit ihren abstrakten „Kompe-tenzen“ und „Problemlösungsoperationen“ als eine „Versklavung des Kindes“ und das Erziehungsgeschäft als ein „gigantisches, mit wissenschaftlicher Akribie aufgebautes und organisiertes Bordell“, in dem man Kinder prostituiere. [6] Der Philosoph Robert Spaemann meinte später, das Wort „Emanzipation“ habe einen Bedeutungswandel durchgemacht: Durch seine Verwendung nicht mehr in politisch-rechtlichen, sondern in soziopsychologischen und schließlich pädagogischen Kontexten habe sich dessen Sinn in sein Gegenteil verkehrt. Es bedeutet nicht mehr einen Status – die Mündigkeit, sondern ein tabuisiertes Ideal, das als Lernziel und Lernprozeß eine politpädagogische Legitimation zur neuen Bevormundung bietet. Die „emanzipatorische Pädagogik“ ist nach seinem Urteil im schlechten Sinne autoritär; es ist eine Herrschaftsideologie der Pädagogen, die die eigentliche Aufgabe – die Erziehung zur Selbständigkeit und starker Persönlichkeit – verfehlt. [7]
Kritik an Schulreformen wurde also von Anfang an geäußert, fand aber lange nicht so viel Beachtung wie die Kritik an parallel entstehenden Massenuniversitäten und dem damit zusammenhängenden sinkendem Hochschulniveau. Die Entwicklung an den deutschen Universitäten wurde kaum in Zusammenhang mit den parallelen wenig beachteten Reformen an Grund- und Mittelschulen gestellt. Man betrachtete diese eher wohlwollend und wertete positiv, daß sich die ehemaligen Revolutionäre, anstatt einen Umsturz zu planen, konkreter Arbeit innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Strukturen, vornehmlich der Erziehung der Jugend, zuwandten, ja glaubte, daß mit den reformierten Schulen und steigenden Anzahl von Abiturienten die Bildungschancen für Kinder aus unteren Schichten tatsächlich verbessert würden. Kurt Sontheimer, der diese Entwicklung mit einer gewissen Skepsis beobachtete, zog noch 1983 aus der Bildungsreform eine zwiespältige Bilanz: Sie schien immerhin bestehende Ungleichheiten der Bildungschancen korrigiert, ein differenziertes Bildungsangebot und mehr Mitbestimmungsrecht ermöglicht zu haben. [8] Dreißig Jahre später dürfte die Bilanz auch in diesen Punkten nur noch Negatives verzeichnen.
Anzeichen dafür, daß etwas an den deutschen Schulen nicht in Ordnung war, zeigten sich allmählich in weiteren Bereichen. Die Industrie klagt schon lange darüber, daß die Schulabgänger große Defizite vor allem in den grundlegenden Fähigkeiten aufweisen und sich für die Praxis schlecht eignen. [9] Das ist auch der Hauptgrund dafür, daß junge Menschen nach Schulende oft keinen Ausbildungsplatz finden können. Um diesem Ausbildungsplatzmangel abzuhelfen, wurde vor einiger Zeit eine Ausbildungsplatzabgabe in Erwägung gezogen, auf die dann aber verzichtet wurde. Sie sollte diejenige Betriebe treffen, die nicht oder nicht ausreichend Ausbildungsplätze anboten. Wäre sie verwirklicht worden, wäre daraus vermutlich ein bürokratisches Monster entstanden, eine mit hohem Aufwand betriebene kontraproduktive Zwangsmaßnahme, der zufolge es eher weniger Lehrstellen gegeben hätte. Überdies hätte diese Abgabe absurderweise auch ganz kleine Einrichtungen, wie Kindergärten oder Pflegeheime getroffen, die gar nicht ausbilden können oder dürfen, und diese dann mir zusätzlichen Kosten ohne jeden Sinn und Zweck belastet. [10]
Nun ist es keineswegs selbstverständlich, daß für die Berufsausbildung die Wirtschaft zuständig ist, und zwar zu Bedingungen, die sie nicht selbst festlegt, und daß sie bestraft werden soll für Mängel, die nicht sie, sondern der Staat durch schlechte Grundausbildung der Schulabgänger verursacht hat. Es wird zwar immer wieder behauptet, das bestehende duale System der beruflichen Ausbildung in Deutschland habe sich gut bewährt. Das mag sogar stimmen: Die traditionelle Ausbildung von Lehrlingen direkt in Betriben, ergänzt um Theorie in Berufsschulen, hat ihre Vorteile, obwohl es in manchen Ländern (und auch hierzulande) ebenfalls erfolgreiche Berufsschulen mit integrierter Praxis gibt. Nicht hinterfragt bleibt ferner, ob und inwiefern dieser Erfolg den einzelnen Betrieben oder dem verpflichtenden begleitenden Schulunterricht zuzuscheiben ist, der bei den Lehrlingen in der Regel ziemlich unbeliebt ist, [11] und der inzwischen ebenfalls zum Gegenstand reformerischen Eifers geworden ist.
Auch über die festgestellte Leseschwäche vieler Deutschen weiß man schon lange bescheid. Der Bundesverband Alphabetisierung e.V. geht von vier Millionen Analphabeten in Deutschland aus [12] – eine erschreckend hohe Zahl für ein wohlhabendes Land mit zehnjähriger Schulpflicht, wo die Argumente: Vernachlässigung der Schriftsprache im Elternhaus oder Armut kaum überzeugen können. Solche Beschwerden sind in der Regel Anlaß für vermehrten Reformeifer: an der praktischen Tauglichkeit der postulierten Vorhaben wird nicht gezweifelt. Erst ein paar Jahre vor dem Erscheinen der ersten internationalen Vergleichsstudie, der sog. „PISA“, äußerte ein liberaler Kritiker des staatlichen Bildungsmonopols unter anderem, das Bildungssystem werde von gewissen politischen Gruppierungen zu eigenen ideologisch Zwecken mißbraucht, die Bildungsreform führe zur Abwertung von Berufsausbildung und zur allgemeinen Senkung des Niveaus von Abitur und Hochschulen, die vom Steuerzahler finanziert werden, ohne das erwünschte Gerechtigkeitsziel zu erreichen. Dabei stellte er auch die von anderen stets vermiedene, in dem Zusammenhang mit den ständigen Klagen entscheidende Frage: „Hat nicht ‚die deutsche Bildungskatastrophe‘ zu einem hektischen staatlichen Aktivismus geführt, der erst die Probleme schuf, vor denen wir heute stehen? Sind nicht überfüllte Hörsaale und damit überforderte Hochschulen, aber auch sinkende Attraktivität der Berufsausbildung Zeichen für eine Fehlentwicklung des deutschen Bildungswesens?“ [13]
Nach der OECD-Studie PISA (Programm for International Student Assessment) aus dem Jahre 2000 (veröffentlicht am 4.12.2001) kam dann schließlich an die Öffentlichkeit, was schon viele Jahre zuvor als sog. „Bildungsmisere“ in Deutschland bekannt war, aber niemals wirklich zugegeben wurde, nämlich daß sich die Leistungen der deutschen Schüler im internationalen Vergleich am Ende der Skala befinden, somit etwa auf dem Niveau von Brasilien oder Rumänien. Insbesondere im Lesen lag Deutschland auf Rang 25 von 32 Ländern. Die Abhängigkeit der schulischen Leistungen vom Elternhaus wurde überdies nach vielen Reformen zugunsten und im Namen der weniger Gebildeten eher vergrößert als aufgehoben. [14] Das hat schließlich einige Jahre später auch der UN-Sonderberichterstatter festgestellt, selbst wenn er sich über die Ursachen dieses Mißverhältnisses im Irrtum befand. Somit vermag das deutsche Schulsystem am allerwenigsten, die sozialen Unterschiede in der Bildung durch die Schule zu kompensieren. Dumm gelaufen. Die neue Bildungskatastrophe lautete der Titel einer Spiegel-Serie, in der die Ergebnisse der deutschen Reformen fast 40 Jahre nach Pichts Thesen besprochen wurden, als gäbe es zu einer „Katastrophe“ noch eine Steigerung. Jochen Bölsche spricht darin vom „Pfusch am Kind“, während Günther Jauch seine Erfahrungen mit deutschen Schulen und entsprechende Kritik an ihnen zum Ausdruck bringt und für eine „strenge und freie“ Erziehung – das Gegenteil der heutigen schulischen Praxis – plädiert. [15]
Die deutschen Kultusminister wiesen jede Kritik von sich, ja glaubten sich sogar in ihrer fortwährenden Reformtätigkeit bestätigt. Auch nach dem vorgenommenen Ländervergleich vom Juni 2002 äußerte die Kultusministerkonferenz, die Meldungen entbehrten einer sachlichen Grundlage. Der Versuch, den Sachverhalt zu leugnen, mißlang allerdings, und in der Öffentlichkeit wurde inzwischen heftig über die Ursachen des schlechten Abschneidens deutscher Schüler diskutiert. Statt aber die Problematik zu analysieren, um an dem Schiefstand etwas zu ändern, wurde über die Bildung von allen möglichen Standpunkten diskutiert und diverse Vorschläge wurden vorgetragen, wobei viele aneinander vorbei redeten. [16] Meistens drehten sich die Debatten um Themen wie Ausländerkinder, Schulformen, soziale Fragen u.ä., während der Kern des Problems unberührt blieb. Man wunderte sich über unterschiedliche Ergebnisse bei annähernd gleichen Rahmenbedingungen, wie finanzieller und sonstiger Ausstattung der Schulen, Klassenstärken und Unterrichtsausfällen, auf die man gerne zurückgreift, um mangelhafte Schulergebnisse zu begründen. Auch das immer wiederholte Argument vom Geldmangel im Vergleich zu den Spitzenländern trug in diesem Fall wenig, weil auch Länder, die viel weniger für Bildung ausgegeben hatten als Deutschland, besser abgeschnitten haben. Da weder beim Vergleich der Bundesländer untereinander noch im internationalen Vergleich ein kausaler Zusammenhang zwischen den Bedingungen und der Qualität des Unterrichts erkennbar war, müßten die Ursachen anderswo gesucht werden. Statt sich aber mit den offensichtlich falschen Annahmen auseinanderzusetzen, daß Geldmittel und kleine Klassen oder mehr Unterricht allein eine bessere Bildung ermöglichen, und nach tatsächlichen Gründen des Versagens zu fragen, wurde auch in diesem Fall auf das bekannte Sündenbockschema zurückgegriffen.