Taiga

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DER PIANIST

An diesem Tag war es besonders heiß. Über dem aufgewühlten braunen Lehmboden flirrte die brütende Hitze. Mückenschwärme tanzten als Wolken über unseren Köpfen.

Ich arbeite an einer Pfahlramme. Der auf die Schnelle aus feuchtem Holz zusammengezimmerte Göpel steht auf dem Grund einer tiefen Schlucht, am Ufer des kleinen, aber kalten und schnellen Flüsschens Vuly-Sju-Iol. Von frühmorgens bis spätabends stemmen wir, neun abgerissene, hungrige Häftlinge, uns mit der Brust gegen die Schwengel der Rammwinde und gehen im Kreis, um den schweren eisernen Rammbär nach oben zu ziehen.

Die Rammwinde knarrt, das stählerne Seil spannt sich wie eine Saite, und wenn der Rammbär laut krachend auf den Rammpfahl fällt, wischen wir uns den Schweiß von der Stirn und versuchen auf jede erdenkliche Weise, das erneute Hochstemmen des herzlosen eisernen Ungetüms, das uns bis zur völligen Erschöpfung zermürbt, hinauszuzögern.

Der Zehnerleiter, ein kleines, pockennarbiges Männchen, sitzt auf einem Holzkloben, weist mit seiner Messlatte aus Kiefernholz auf die Sonne und mahnt immer wieder:

»Macht zu, Jungs, macht zu … Seht zu, dass ihr die Hälfte der Norm bis Mittag schafft!«

»Machen wir, machen wir, Golubtschik«, erwidert im selben Tonfall Jefimytsch, mein Nachbar am Schwengel, ein gekrümmter, schwindsüchtiger, ständig schwer hustender Alter, der, weil ihm die Brust wehtut, die vertrocknete Schulter auf den glattgescheuerten glänzenden Schwengel legt. »Wir geben alles, was wir können, Zehnerleiterchen, vielleicht geben wir dir bald auch unser bisschen Leben.«

Zehnerleiter Golubew kneift die scharfen Augen zusammen, sieht ihn an und sagt langsam:

»Du bist verdammt geschwätzig geworden, Jefimytsch, was brauch ich dein Leben, Freundchen, ich bin selbst nur Häftling.«

»Warum zum Teufel treibst du uns dann so an«, sagt daraufhin wütend Mitjka-Pan, ein alter Langfinger und Wiederholungstäter, und wendet ihm sein bleiches Gesicht zu. »Du hast kein Gewissen, du pockengesichtiger Deibel.«

Golubew lacht leise.

»Weswegen sitzt du, Pan?«, fragt er und gibt die Antwort gleich selbst. »Diebstahl! Und ich? Hab ich einen umgebracht? Oder beklaut? Oder hab ich mich gegen die Sowjetmacht gewendet, wie Jefimytsch da oder Serjoschka, oder Wsjewolod? Nehee, ich hab keine Gesetzesverbrechen nich gemacht … Wenn du’s genau wissen willst, Buchhalter war ich, im Kolchos, und da haben sie mich reingerissen … Hat einer fünf Fuhren Roggen aus dem Kolchosspeicher geklaut, und ich hatte die Verantwortung.«

»Du lügst doch, du Hund!« Mitjka-Pan spuckt aus. »Die hast du selbst stibitzt und die Schuld auf andre geschoben.«

Mitjka-Pan hat als Einziger von uns keine Angst vor dem Vorarbeiter. Und er ist auch der Einzige, über den sich der Zehnerleiter nicht bei der Lagerleitung beschwert, weil er nämlich Angst vor Mitjka hat. Mitjka weiß das und schmeißt die Arbeit öfter mal hin, packt sich gleich neben der Rammwinde in die Sonne, um zu schlafen. Golubew umkreist ihn und schreit rum, dass er ihn in die Isolationszelle bringt, Mitjka aber schließt die Augen, lächelt selig und verspricht gleichgültig:

»Ich brech dir gleich alle Rippen, pockengesichtiger Satan, wenn du nicht verschwindest und mich schlafen lässt.«

Am besten verstand ich mich mit Wsjewolod Fjodorowitsch. Er war Pianist von Beruf. Schon vor der Haft hatte ich Konzerte von ihm besucht, im Moskauer Konservatorium. Damals waren wir aber noch nicht persönlich miteinander bekannt. Er war ein kluger und begabter Mensch, siebenunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, bedächtig in seinen Bewegungen, ein wenig linkisch. Mit einer großen runden Brille, durch die gütige, kluge Augen blickten, strahlte er Warmherzigkeit und Anstand aus. Er war sehr schweigsam und leistete gefügig und fleißig jede Art von Arbeit. Man hatte ihn zu drei Jahren verurteilt, zweieinhalb davon hatte er bereits »abgesessen«. Wofür er verurteilt worden war, wusste Wsjewolod, wie die meisten Politischen, selbst nicht.

In Moskau lebte noch seine alte Mutter. Er schrieb ihr Briefe und lebte nur für ein Ziel: zu ihr zurückzukehren und wieder als Pianist zu arbeiten. Letzteres wurde jedoch durch einen Umstand erschwert: Die körperliche Arbeit hatte seine Hände so grob und schwielig werden lassen, dass er sie, wie er selbst sagte, kaum noch bewegen konnte. Das bedrückte ihn außerordentlich und ließ ihn nächtelang kein Auge zumachen.

Wenn wir uns abends nach der Arbeit entkräftet auf die schmutzigen, verlausten Pritschen fallen ließen, zeigte er mir seine verkrümmten, rauen Finger und fragte nervös:

»Was meinen Sie, Serjosha, ob die noch wieder werden?«

Ich gab mir alle Mühe, ihm glaubhaft zu versichern, dass er, ja, natürlich wieder spielen würde, doch im tiefsten Innern zweifelte ich daran. Und wie zum Trotz musste er während der ganzen drei Jahre im Konzentrationslager die schwersten Arbeiten verrichten: Mal stand er mit dem Spaten in der Hand bis zu den Knien im fauligen Sumpfwasser, mal schob er die schwere, mit Erde beladene Schubkarre oder schleppte sieben Meter lange Balken aus dem Wasser.

Es gibt Menschen, die sind so wendig und gerissen, die reißen sich die ganze Haftzeit über kein Bein aus, wie es so schön heißt. Die sehen zu, dass sie eine Arbeit als Friseur kriegen, oder als Koch, Depotwärter, Verwalter … Andere hingegen schieben jahraus, jahrein die schwere Karre. Das sind ehrliche, bescheidene, dem Schicksal ergebene russische Menschen, die für nichts und wieder nichts ins Lager geraten sind. Solch ein Mensch war auch Wsjewolod Fjodorowitsch.

Ein Stoß ließ die Winde erbeben. Der Rammenführer Kolja, mit fünfzehn noch ein richtiger Junge, zog an dem Fallseil und zählte laut die Anzahl der Aufschläge. Die Sonne stieg immer höher, ihre heißen Strahlen brannten auf unseren kahlrasierten Köpfen. Am linken und rechten Flussufer, fünfzig Meter von uns entfernt, waren Erdarbeiter dabei, Zufahrten für eine künftige Brücke aufzuschütten. Ich blickte nach oben und sah, wie vor dem Hintergrund des blauen Himmels auf den Erdkegeln Menschen mit Schubkarren auftauchten, einer nach dem anderen, armschwingend die Karren umkippten und sie leer wieder hinunterschoben. Sie erinnerten an große Vögel, die an den Rand eines Abgrundes geflogen kamen und erschrocken zurückflatterten.

Ein wenig abseits saß im dichten Schatten wilder Johannisbeersträucher der Wachsoldat auf einem Baumstumpf. Den Kopf auf der Brust, gestützt auf das Gewehr, das er nicht aus den Händen ließ, schlief er friedlich. Er war morgens schon betrunken gewesen, und jetzt, gegen Mittag, war er völlig hinüber.

»He, Gruppenleiterchen!«, rief Mitjka-Pan Golubew zu.

»Was-willst-du-denn?«, fragte der faul und schnitzte weiter Muster in seine Messlatte.

»Was, wenn ich mal eben zu dem Wachkerl da geh, ihm die Flinte aus der Hand reiße und zack mit’m Lauf eins übern Schädel, und dann dir ’ne Kugel in’n Kopf und tschüss, ab in die ­Taiga …?«

»Kommst trotzdem nicht weit!«, erwiderte Golubew leise.

»Wieso?«

»Na weil hier Hunderte von Kilometern nur Taiga is, und Sümpfe und Mücken. Die nächsten Dörfer sind erst an der Wytschegda. Bevor du da hingekrochen kommst, bist du vor Hunger verreckt oder im Moor ersoffen.«

»Ich hab doch die Flinte. Kann Vögel schießen«, träumte Mitjka-Pan laut.

»Erstens hast du nur fünf Patronen, mehr kriegen die Wachmänner nicht. Zweitens kannst du überhaupt nicht schießen und wirst sie gleich am ersten Tag alle abfeuern. Nee, nee, du kommst hier nicht weg, Mitjka.«

»Teufel aber auch«, empörte sich Mitjka-Pan. »Die weiß schon, die Sowjetmacht, wo sie die Lagerchen für unsereins baut: nur Sumpf und Dickicht.«

»Was hast denn du gedacht? Du weißt doch, da sind Menschen … Kch-ch-che … Menschen …« Der Husten ließ den alten Jefimytsch nicht zu Ende reden.

Ich blickte zu Wsjewolod Fjodorowitsch. Er hielt den Kopf tief gesenkt, drückte mit Brust und Händen kräftig gegen den Schwengel und lächelte, die in der Sonne blitzende Brille auf der Nase, vor sich hin.

Rums! Der eiserne Rammbär fiel hinab.

Und wieder wickelte sich das Seil auf, wieder riss Kolja am Fallseil …

Rums!

Rums!

Rums!

Die Stöße kehrten als vielstimmiges Echo aus der Taiga zurück. Die Ramme arbeitete sich immer weiter in den Boden.

»Die Sterbegehilfin kommt!«, rief der kleine Rammenführer freudig. »Pa-ause, Jungs!«

»Pa-ause!«, flog der Ruf die Trasse entlang.

Am Ufer tauchte hinter den Kiefern eine kleine Prozession auf. Voran marschierte eine füllige Frau, hinter ihr gingen drei Männer mit Sperrholzkisten auf den Köpfen. Sie brachten das Mittagessen. Die »Sterbegehilfin« hatte diesen Spitznamen, weil sie eine Zeit lang als Sanitäterin beim Feldscher des Lagers gearbeitet hatte. Wegen eines Vergehens (sie hatte die Baldriantropfen aus dem Notfallkoffer ausgetrunken) wurde sie zuerst in die Wäscherei versetzt, dann hatte man Erbarmen mit ihr und beauftragte sie, den arbeitenden Häftlingen das Mittagessen auszutragen. Sie war eine junge und außergewöhnlich kraftvolle Frau.

Jeder von uns erhielt ein Stück stinkenden Dorsch und ein kleines Stück Brot.

»Gib uns doch noch ein Stück, Hexe!«, bat Mitjka-Pan.

»Das Cheflein hat noch was!«, entgegnete sie im Basston und kommandierte, an die Träger gewandt: »Los, weiter!«

Wir setzten uns ins Gras und begannen hungrig, Fisch und Brot zu verschlingen.

Wsjewolod Fjodorowitsch öffnete und schloss seine Hand.

»Hören Sie«, sagte ich. »Warum gehen Sie nicht zum Lagerleiter und bitten darum, dass man Ihnen eine andere Arbeit zuweist?«

 

Wsjewolod Fjodorowitsch lächelte traurig.

»Hab ich ja versucht.«

»Und?«

»Hat nichts gebracht.«

»Versuchen Sie’s doch einfach noch mal! Beharren Sie drauf!«

Er zuckte die Schultern.

»Es nützt ja doch nichts!«

»Was sind Sie nur für einer! Man muss drum kämpfen, sonst wird es natürlich nichts.«

Mitjka-Pan sah uns von der Seite an:

»Du solltest wirklich hingehen, Wsjewolod. Die Arbeit hier geht über deine Kräfte, ich sehe das. Hier gehst du kaputt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Hände sind doch das Wichtigste für einen Musiker. Ich hatte einen Kumpel, der konnte Bajan spielen, wie nix! Dann haben sie ihn bei Waldarbeiten eingesetzt, und er hatte keine Lust zu der Arbeit, hat sich selbst an der linken Hand drei Finger abgehackt. Wie er dann wieder spielen wollte, ging’s nicht, war nichts zu machen.«

Wir mussten lachen.

»Ich bin zwar ein Dieb«, fuhr Mitjka-Pan fort, »aber so ’ne Willkür kann ich nicht ausstehen. Jefimytsch zum Beispiel, der sollte auch von der Arbeit an der Ramme befreit werden … Nicht wahr, Jefimytsch?«

»Der Herr wird uns alle befreien«, sagte der Alte leise.

»Mitjka, Sie sind zwar ein Dieb, aber ein guter Mensch, besser als andere, die keine Diebe sind«, meinte Wsjewolod Fjodorowitsch. »Nur sollten Sie nicht dauernd mit dem Zehnerleiter streiten.«

»Den mach ich irgendwann einen Kopf kürzer«, versprach Mitjka-­Pan. »Hörst du, Zehnerleiterchen?«

»Ich höre dich«, erwiderte Golubew, während er seinen Dorsch vertilgte. »Pass nur auf, dass ich dich nicht zuerst zu fassen kriege … Los, Jungs, weiter geht’s!«

»Oh, du Blutsauger!«, rief Mitjka-Pan. »Gönn doch den Leuten wenigstens eine Atempause.«

Er sprang auf. Sein bis zum Gürtel zerrissenes Hemd entblößte eine kräftige tätowierte Brust und einen Bauch voller Narben, die von Messerstichen stammten. Die blauen Augen im bleichen Gesicht blitzten voller Wut und Hass. Eine Sekunde noch, und Mitjka-­Pan würde wahr machen, was er seit langem schon angedroht hatte; plötzlich aber wandte er sich auf dem Hacken um, ging als Erster zum Göpel und ergriff den Schwengel. Ich sah, wie seine Kaumuskeln sich spannten und bebten.

Am Abend konnte ich Wsjewolod Fjodorowitsch überreden, mit mir gemeinsam zum Leiter unseres Teillagers zu gehen.

Der Kommandant wollte uns zuerst partout nicht aus der »Zone« herauslassen, winkte dann aber doch ab und befahl einem Wachmann, uns zu begleiten.

Sulimow, der Lagerleiter, wohnte in einem kleinen Häuschen ein wenig abseits des Lagers, das von einem Stacheldrahtzaum umgeben war. Wir standen etwa fünfzehn Minuten im Eingangsbereich und warteten darauf, dass er uns empfing.

Dann traten wir ein.

Sulimow lag ausgestreckt auf einer Liege und gab seinem riesigen Schäferhund Zuckerstückchen. Der Kragen seiner Feldbluse mit den blutroten Kragenspiegeln war geöffnet, den Riemen hatte er abgelegt und die oberen Knöpfe seiner blauen Reithose geöffnet.

»Nun, was wollen Sie?«, fragte er, ohne uns anzublicken, und beschäftigte sich weiter mit seinem Hund.

Wir drucksten unentschlossen.

»Nun?«, fragte er erneut.

»Wissen Sie … verzeihen Sie …«, begann Wsjewolod Fjodorowitsch schüchtern.

»Nun?«

»Wir … ich bin, im Grunde genommen, aufgrund einer persönlichen Angelegenheit …«

»Nun?«

»Ich bin Pianist …«

»Ein bekannter Moskauer Pianist«, warf ich ein. Sulimow hob eine Augenbraue und warf mir einen schrägen Blick zu.

»Sie reden später … Nu-un?«

»Verstehen Sie, Bürger Lagerleiter«, fuhr Wsjewolod Fjodorowitsch fort. »Ich verrichte seit zwei Jahren ausschließlich körperliche Arbeit. Meine Hände … sehen Sie doch, was aus denen geworden ist.« Er streckte beide Hände nach vorn. »Wenn die Hände nicht mehr zu gebrauchen sind, dann … dann kann ich nicht mehr spielen, dann hab ich keinen Broterwerb, wenn ich aus dem Lager entlassen werde, ich kann nur das, etwas anderes kann ich nicht …«

»Nun, und … Runter mit dir!«, schnauzte Sulimow den Schäferhund an, der mit den Vorderpfoten auf den Rand der Liege gesprungen war. »So was aber auch, vergisst sich vor lauter Freude! Und, weiter?«

»Ich möchte Sie sehr bitten, mir eine andere Arbeit zu geben.«

»So, so«, sagte Sulimow scharf. »Und Sie, was wollen Sie?«

»Ich bin nur mitgekommen«, erwiderte ich. »Ich möchte nur bestätigen, dass die Arbeit an der Rammwinde tatsächlich zu schwer ist für ihn.«

»Und die Schubkarre wollen Sie beide nicht schieben?«, fragte Sulimow lächelnd. »Nach welchem Artikel sind Sie verurteilt?«

»Achtundfünfzig, Punkt zehn«, antwortete Wsjewolod Fjodorowitsch.

»Ah, ja … Nein, eine andere Arbeit habe ich für Sie nicht … Wie gesagt, die Karre kann ich Ihnen anbieten. Nicht gut genug?«

Wir schwiegen.

»Abführen!«, befahl Sulimow dem Wachmann.

Als Mitjka-Pan von unserem Misserfolg erfuhr, meinte er, am besten sei es, abzuhauen, wenn es im Lager nicht mehr auszuhalten sei. Er bot an, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Wir lehnten ab.

Am folgenden Tag standen wir wieder an der Winde. Jefimytsch musste immer häufiger husten und sich für kurze Zeit neben der Ramme hinsetzen.

»Zeit für den Sarg, Jefimytsch, Zeit für den Sarg«, tröstete Golubew ihn.

»Weiß ich selbst, dass es an der Zeit ist«, bestätigte der Alte. »Nur will mich der Herr wohl noch nicht zu sich holen, ich weiß auch nicht warum.«

»Die Zeit zum Sterben kommt schon noch.« Der Gruppenleiter schnitzte weiter an seinem Stock. »Ich bin jetzt schon das achte Jahr hier, solche wie dich hab ich viele gesehen, die haben alle nach und nach den Löffel abgegeben.«

»Und wie viele davon hast du auf dem Gewissen, Golub?«, erkundigte sich Mitjka-Pan.

»Wer weiß«, entgegnete Golubew spöttisch.

Bis zum Mittag hatten wir drei Rammpfähle eingebracht. Nach dem Essen stiegen wir alle zum Fluss hinab und schleppten neue Pfähle zur Ramme hoch. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet und das Wetter blieb den ganzen Tag über düster. Der nasse Boden wollte nicht trocknen.

Alle neun, einschließlich Kolja, schleppten wir einen schweren Balken hinauf. Vier neue Pfähle lagen schon oben. Mit einer solchen Last hochzusteigen, war sehr anstrengend. Wir alle spannten unsere letzten Kräfte an. Mitjka-Pan gab das Kommando.

»Gut … Gut so, Jungs! Ein bisschen noch … Jefimytsch, nicht aufgeben. Oder besser: Geh unterm Balken weg beiseite, zum Teufel, ist egal, schaffst ja eh nicht viel. Wsjewolod, die andere Schulter, sonst reißt’s dir die Birne ab, wenn wir ihn hinschmeißen … Iwan, tricks nicht rum, hoch die Schulter! Wir schleppen alle, also streng dich an! Ein gesunder Kerl, aber will sich auf unsre Kosten ausruhn, guck dir Jefimytsch an, der kratzt bald ab, aber schleppt mit. Vorsichtig, zum Teufel … Und abwerfen! Eins! Zwei! Drei!«

Der Balken flog von den Schultern.

Wsjewolod rutschte auf dem feuchten Lehm aus und stürzte mit weit ausgestrecktem Arm. Seine rechte Hand landete auf einem der Pfähle. Der Balken krachte herab und quetschte Wsjewolods Finger.

»Oh-och!«, stöhnte er auf. Es wurde still. Alle waren schockiert.

»Was guckt ihr so!«, brüllte Mitjka-Pan. »Hoch mit dem Balken!«

Wir ergriffen den Balken und hoben ihn etwas an. Ich zog Wsjewolods Hand heraus. Vier Finger waren zerschmettert. Unter den Nägeln trat langsam das Blut heraus. Die Hand schwoll zusehends und wurde blau. Wsjewolod lag schweigend, ohne den Kopf zu heben, auf der Seite. Seine Brille war heruntergefallen, und es war seltsam, sein Profil ohne Brille zu sehen.

»Serjosha!«, rief er leise. Ich beugte mich zu ihm.

»Es ist vorbei, ja? Ist die Hand ab?«

Ich schwieg.

Der Wachmann kam heran.

»Man sollte ihn … na … zum Feldscher schicken«, schlug er leise, schnaufend, vor und schob sein Käppi auf den Hinterkopf.

Auf der Aufschüttung ließen Häftlinge ihre Karren stehen und kamen herbeigerannt.

Wsjewolod Fjodorowitsch setzte sich auf. Er lächelte seltsam, ergriff mit der linken Hand die rechte und legte die verstümmelte Hand auf seine Knie.

»Spielen wirste wohl nicht mehr können«, meinte Mitjka-Pan betrübt.

Wsjewolod Fjodorowitsch sah mir in die Augen. Ich werde diesen schrecklichen, verwunderten Blick nie vergessen.

»Kannst du gehen?«, fragte der Wachmann. Wir stützten Wsjewolod Fjodorowitsch, und er erhob sich schwankend.

»Warum nicht?«, fragte er.

In Begleitung des zweiten Wachsoldaten und des Jungen Kolja ging er auf unsicheren Beinen zum Lager.

Ich blickte seiner gebeugten, hochgewachsenen Gestalt nach und dachte daran, dass es am besten wäre, oben auf die Rammwinde zu steigen und sich kopfüber hinabzuwerfen, um nicht mehr all dies endlose menschliche Leid auf der geduldigen russischen Erde mit anzusehen.

Im Herbst, an einem feuchten, nebligen Morgen, erschlug ­Mitjka-Pan mit einer Axt den Gruppenführer Golubew und floh in die Taiga.

DER ERZIEHER

Mittags begann es zu regnen. Die Fichten wurden dunkel und ließen traurig die zotteligen Zweige hängen; wie Tränen rollten einzelne helle Tropfen von ihnen herab. Graue Wolkenfetzen jagten ungeordnet am Himmel dahin und suchten sich an den Wipfeln der schlanken Fichten festzuhalten.

Kaum war die gesteppte Jacke des Gruppenleiters Rubljow in den Wacholderbüschen verschwunden, ließen wir wie auf Kommando die verhassten Schubkarren stehen und drängten uns im nächsten Moment um das noch glimmende Feuer. Der bewaffnete Wachsoldat sah uns mit zusammengekniffenen Augen zu und ging weiter seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Jonglieren mit drei Steinchen. Seine Aufgabe war es, aufzupassen, dass die Häftlinge nicht wegliefen; ob sie arbeiteten oder nicht, ging ihn nichts an. Antreiber gab es im Lager auch ohne ihn zur Genüge: die Leiter der Außenlager, deren Helfer, Bauführer, Gruppenführer, Vorarbeiter, Kommandanten, Erzieher.

Wir streckten die vor Kälte steifen Hände ans Feuer, doch hielt der Moment der Glückseligkeit nicht lange an.

»Achtung! Grischka Filon!«, kommandierte der siebzehnjährige Taschendieb Som.

Aus dem Wald sprang ein kleiner, dünnbeiniger Mensch mit rötlich angelaufener Lederjacke in die Kiesgrube und schrie schon von weitem in dünnem Tenor:

»Ruhen wir uns aus, Bürger Häftlinge? Und wer macht die Arbeit? Der Heilige Geist?«

Grischka Filon war der Lagererzieher. Einst schwerer Junge und Mokruschnik, hatte er jetzt im Außenlager den Bereich Kultur und Erziehung unter sich.

Eine erstaunliche Erfindung, diese Erzieher!

Grischka Filon war Häftling, genau wie wir, doch hatten ihn fünfzehn Jahre in Gefängnissen und Lagern, mit kurzen Zwischenspielen in der Freiheit, gelehrt, wie man sich im Lager ganz schnell ein warmes Plätzchen sichert, daher auch sein Spitzname Filon, Nichtstuer. Die Arbeit des Erziehers ist eine der leichtesten im System der sowjetischen Zwangsarbeit. Ein Erzieher genießt viele Vorteile: Er arbeitet nicht körperlich, bekommt bestes Essen, ihm gebühren Ehre und Schmiergelder, und er hat bessere Chancen auf vorzeitige Entlassung. Diese »äußerst verantwortungsvolle« Stelle wurde nur mit »sozial nahestehenden Elementen« besetzt, wie die Tschekisten die Kriminellen nennen, auf keinen Fall aber (Gott behüte!) mit Politischen. Obwohl, einen Nachteil hatte dieser Posten: Wer einmal Erzieher war, wird in der Verbrecherwelt für vogelfrei erklärt, er gilt als Verräter, und eines schönen Tages wird er vielleicht umgebracht. Grischka Filon wusste das und machte sich bei den »Ganoven« lieb Kind.

Er war fünfunddreißig Jahre alt. Klein, mager, mit farblosen ­Augen, deren Blick unstet umherirrte, und weißem Speichel in den Mundwinkeln, wirkte er abstoßend. Nach dem Vorbild der Lagerleitung trug er hässliche grüne Reithosen, Chromlederstiefel, Feldbluse, Lederjacke sowie eine Mütze à la Genosse Stalin. Von seinen fünf Jahren hatte er drei schon abgesessen.

Über seinen letzten »Fall« sprach er oft und gern. Der »Fall« bestand aus folgender Begebenheit: Er hatte nachts in einer dunklen Gasse einer Frau aufgelauert, und da diese sich weigerte, ihm freiwillig und ohne Lärm ihren Pelzmantel zu überlassen, schnitt er ihr mit einem Rasiermesser die Nase ab und nahm ihr den Mantel dann doch weg …

Grischka Filon kam schnell zu uns heran, ergriff eine Schaufel und warf das Feuer kurzerhand auseinander.

 

»Aufwärmen wollt ihr euch?«, redete er, während er mit der Schaufel hantierte. »Aufwärmen? An die Schubkarre mit euch, da wird euch schon warm werden!«

»Aber Bürger Erzieher! Wir haben uns doch gerade erst kurz hingesetzt!«, kam es erregt von Nikolai Iwanowitsch Suschkow, einem Professor der Archäologie, der seinerzeit in Moskau mit äußerst interessanten Veröffentlichungen über Ausgrabungen in Buchara viel Aufsehen erregt hatte. Schwach, sehr krank, schob er gefügig drei Jahre lang die Schubkarre. Verurteilt hatten sie ihn aufgrund von »Nichtanzeige« – er hatte seinen Bruder nicht denunziert, einen der Sabotage angeklagten Ingenieur.

Grischka Filon warf das letzte brennende Scheit weit weg, stützte sich dann auf die Schaufel, ließ die fahlen Augen über uns schweifen und ergriff das Wort, bemüht, seiner Stimme einen belehrenden Ton zu verleihen:

»Ihr, Bürger, befindet euch sozusagen in einem Arbeitsbesserungslager des NKWD … äh … Das ist sozusagen keine zaristische Zwangsarbeit, sondern – äh – erzieherische. Die Sowjetregierung mit dem Genossen Stalin an der Spitze – äh – bestraft Verbrecher nicht, sondern erzieht sie um … Ihr seid sozusagen Volksfeinde, man vertraut euch nicht … und deshalb muss man euch umerziehen. Umschmieden, sozusagen …«

»Ich bin kein Volksfeind, ich bin Dieb«, rief Som dazwischen: »Schmeiß mich nicht in einen Topf mit den anderen, Filon!«

»Ich halte die Rede ja nicht dir, sondern den Politischen … Denkt dran, Bürger Häftlinge, nur durch Arbeit und Umerziehung könnt ihr in die Reihen der vollberechtigten Sowjetbürger zurückkehren … Und deshalb karrt so viel Erde wie möglich … Die Karr-Norm müsst ihr nicht nur erfüllen, ihr müsst sie übererfüllen!«

So bedrückend es auch war, der Rede des Erziehers zuzuhören – viele von uns fingen doch an zu grinsen.

»Was feixt ihr so?«, brüllte Filon. »Hier wird gearbeitet und nicht gelacht! Ich war selbst ein großer Ganove und Bandit, aber hier bin ich zum Menschen geworden … Die Norm müsst ihr erfüllen, die Norm!«

»Eure Normen, Bürger Erzieher, sind nicht zu schaffen.« Der Professor wiegte den Kopf.

»Was heißt – nicht zu schaffen? Natürlich, wenn du unserm Land nicht helfen willst, schaffst du auch die Norm nicht … Ich warne dich, Alter: Erfüllst du die Norm nicht, kommst du ins, sozusagen, Strafteillager. Kubik, Kubik, Kubik ist angesagt!«

Die Rede des Erziehers zog sich hin, und mit ihr auch die Ruhe­pause. Wir begannen sinnlose Fragen zu stellen, um den erneuten Kontakt mit unserer gemeinsamen Freundin, der Schubkarre, hinauszuzögern. Filon aber besann sich bald und schrie drohend:

»Jetzt reicht’s aber: Wie lange wollt ihr euch noch drücken? He, Alter, hoch mit dir! An die Arbeit!«

Ohne Eile begaben sich die Häftlinge an die Abbaustellen.

Som erhob sich und fing an zu singen:

»Karre, ach Karre, hab keine Angst …

bleib du nur ruhig, ich rühr dich nicht an …«

Er stieß die Schaufel mit Wucht in die blaue Tonerde.

»Knallt es im Sprengloch, knallt’s Ammonal,

zum Teufel, was will ich am Weißmeerkanal?«

Die täglichen zwölf Stunden harter körperlicher Arbeit zehrten an unseren Kräften, Rücken und Arme schmerzten unerträglich, die schwieligen Hände bluteten, die Schubkarren kippten immer wieder um, Hunger quälte uns.

Am Rand der Grube stand, als scharf konturierte Silhouette vor den zerrissenen Wolken, der kleine Mann mit den hässlichen Reithosen, die Hände in den Taschen der Lederjacke, sabberte an einer billigen Papirossa, und kraft eines paradoxen Gesetzes verkörperte dieses winzige Stück Niedertracht, das aus allen der Menschheit eigenen Schändlichkeiten zusammengeknetet war, jene Kraft, die Hunderttausende Menschen zwang, einen zusätzlichen Kubik­meter Erde zu erbeuten in der nebulösen Hoffnung auf »vorzeitige Entlassung« und baldige Rückkehr zu den Lieben, die irgendwo geduldig auf ihren Märtyrer warteten, und die sie zwang, ihre letzten Kräfte zu verausgaben, Blut zu spucken und die schwere Karre weiter, weiter, weiter zu schieben.

Am nächsten Tag weckte uns die eiserne Pufferplatte, die vor der Wache hing, früher als sonst. Es war noch ganz dunkel. Der monotone, kalte Klang erinnerte an Totenglocken.

Die gesamte Insassenschaft des Außenlagers, tausendzweihundert Mann, hatte brigadeweise vor den Zelten und Baracken anzutreten. Etwas lag in der Luft. Vor der Wache drängte sich die Lagerleitung.

Der Leiter des Außenlagers Gorjew konnte sich, sturzbesoffen, kaum auf den Beinen halten; nach dem Gelage vom Vortag war er offenbar noch nicht ausgenüchtert. Zwei kräftige Kerle mit blutig roten Kragenspiegeln an den Uniformmänteln stützten ihn behutsam.

»Ruhe!«, brüllte einer von ihnen. »Der Leiter des Außenlagers will ein paar Worte sagen!«

Gorjew machte eine schlappe Handbewegung, grinste dümmlich und gab mühsam ein »Bürg… brk… bürg… brk« von sich.

Da schnellte der flinke Grischka Filon aus dem Gefolge, sprang auf einen Baumstumpf und brüllte aus vollem Hals:

»Bürger Häftlinge! Heute ham wir einen Sondereinsatz … Is das klar? Heute müssen wir sozusagen, koste es, was es wolle, im Abschnitt fünfundachtzig den Zugang zur Brücke aufschütten und … sozusagen … den Zuch durchlassen. Dieser Auftrag für den heutigen Tach kommt von unserm Leiter aller Arbeits- und Erziehungslager des Ucht-Petschora-Bereiches, dem Genossen Jakow Moros. Ich meine, Genossen … äh … Bürger Häftlinge … die Partei, der Genosse Stalin und der Genosse Moros rufen uns auf, eine große Tat zu vollbringen! Das is was andres, als ein Schloss zu knacken oder einem Madamchen die Tasche zu klaun, sondern wir lassen sozusagen durch Arbeit und Umerziehung einen Zuch durch. Hurrah!«

»Hurrah!«, riefen die Männer mit den himbeerfarbenen Kragenspiegeln.

»Hurra!«, klang scheppernd eine einzelne Stimme aus der Menge der Häftlinge. Ein gebeugter Alter rief das, wankend vor Schwäche. Er wusste offensichtlich nicht mehr, was er tat.

Die in aller Eile errichtete Brücke über den Fluss Lun-Wosch war fertig. Rechts und links von ihr erhoben sich zwei lange, noch nicht vollständig aufgeschüttete Erdkegel.

Über die gesamte Länge der Brücke prangte ein grelles Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«

Geschäftig teilten die Gruppenführer die Brigaden der Erdarbeiter ein; die Arbeit begann. Der Aushubbereich unserer Brigade befand sich an einem Hang, etwa hundert Meter vom linken Erdkegel entfernt. Ein Teil der Brigade arbeitete in einer großen Höhle am Rand der Abbaustelle.

Grischka Filon rannte umher, trieb uns mit schäumendem Mund an:

»Legt einen Zahn zu, Bürger! Der Genosse Moros kommt persönlich zur Brückeneinweihung … Es heißt, sie verkürzen allen die Haftstrafen … entlassen uns vorzeitig … Ein Orchester kommt auch noch.«

»Kukuschka«, die kleine Werksbahn, durchdrang die Taiga mit schrillen Pfiffen und brachte Schwellen und Gleise heran. Meter um Meter wurde die Strecke verlegt.

Verbissen schaufelte Professor Suschkow Sand auf die Karre, hob sie mit seinen schwachen Armen an, schob sie, hin und her schwankend, den glitschigen Pfad hinauf zur Aufschüttung. Ich sah, dass er am Ende seiner Kraft war.

»Lassen Sie das, arbeiten Sie langsam«, riet ich ihm.

»Aber wer weiß, vielleicht lassen sie uns ja wirklich früher raus«, entgegnete er, stoßweise atmend.

Bald darauf kam eine Blaskapelle. Die Musiker nahmen eilig auf einer Grasfläche unter Kiefern Platz und spielten einen schnellen Foxtrott:

»Mein süßes Mägdelein,

das ist so hübsch und fein …«

Ein Häftling rollte mitsamt seiner Schubkarre von der Aufschüttung und brach sich den Hals.

Professor Suschkow belud seine Karre, wollte sie anheben, ächzte und sackte plötzlich, sich den Bauch haltend, auf den Boden. Ich lief zu ihm, um ihm aufzuhelfen.

»Nicht!«, stöhnte er. »Das tut weh!«

Ein Feldscher kam, untersuchte den Professor und meinte gleichgültig zu den Sanitätern: