Absinthe

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SELINA SCHUSTER

ABSINTHE

GOTHIC NOVEL


Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog


Kapitel 1

Kopfschmerzen.

Rasende Kopfschmerzen wüten hinter meinen Schläfen. Verschlafen schaue ich den schwachen Sonnenstrahlen zu, wie sie das Schwarz der vergangenen Nacht vertreiben. Kalt zieht die Feuchtigkeit zu mir hoch, setzt sich in meinen Kleidern fest und lässt mich erbärmlich frieren.

Verschwommen sehe ich die Stadt am Fuße des Hügels. In einen wohligen Dunstschleier gehüllt, döst sie leise atmend vor sich hin.

In der Ferne steigen die unförmigen Rauchsäulen der zahllosen Fabrikschlöte gen Himmel, vermischen sich mit der pechschwarzen Rußwolke des in den Bahnhof Gare du Nord einfahrenden Nachtexpresses aus Lyon.

Das ist Paris.

Zumindest das, was ich von meiner sicheren Anhöhe am Rande der Stadt aus davon mitbekomme.

Ein schiefes Lächeln zerrt an meinen Mundwinkeln.

Gott sei Dank bin ich weit weg von diesem ewig in Bewegung erscheinenden, niemals befriedigten Moloch, der stets nur mit sich selbst beschäftigt ist.

Doch für Künstler, Freigeister und verrückte Idealisten aus aller Welt gibt es keinen besseren Ort, um ihr Glück zu finden.

Das schiefe Lächeln wird noch schiefer.

Zumindest glauben sie das.

Sie alle tummeln sich an diesem Ort auf dem Hügel nördlich der Großstadt. Angeschwemmt wie Treibgut. Fernab von den glitzernden Lichtern und den schönen Kleidern auf dem Champs-Élysées.

Montmartre.

In dessen irrgartengleichen Gassen zu meinen Füßen werden wie jeden Morgen lustlos die letzten Überbleibsel der vergangenen Nacht beseitigt. Unrat wird mit müden Bewegungen zusammengekehrt, Fensterläden klappernd aufgeschlagen – selbst die hartgesottenen Nachtschwärmer machen sich wankenden Schrittes auf den Weg in ihre Betten.

Mit matten Bewegungen stütze ich meinen vor Schlafmangel dröhnenden Kopf auf meine verschränkten Unterarme und starre weiter zur Stadt hinab, über der leise wabernd die Feuchtigkeit aufsteigt. Von hier aus betrachtet wirkt die Metropole Paris beinah wie ein verschlafenes Nest in der Bretagne.

Es ist erbärmlich.

Fürchterlich erbärmlich, dass sich mein überarbeitetes Gehirn gerade jetzt diese Ähnlichkeit einbildet.

Das gleichmäßige Pochen hinter meinen Schläfen bekommt Gesellschaft in Form eines beständig lauter werdenden Ohrensausens, das in einen schrillen Pfeifton übergeht, als ich meinen Kopf in einer zu hastigen Bewegung von der Aussicht abwende.

Die mit einer undefinierbaren Geruchsmischung aus Essen, Ruß und Pferdemist versetzte Morgenluft lässt mich würgen. Hastig rappele ich mich auf und schließe das Dachfenster. Meine Beine fühlen sich vom langen Stehen taub und schwer an, durchzogen von einem unangenehmen Kribbeln, als würden Ameisen an ihnen heraufkrabbeln.

Ich hebe den Kopf und sehe es.

Das große, weiße Quadrat unbemalter Leinwand inmitten eines heillosen Durcheinanders.

Weiß.

Wie ich diese Farbe mittlerweile hasse. Diese Nichtfarbe. Der unübersehbare Beweis, dass ich mir erneut eine Nacht vollkommen umsonst um die Ohren geschlagen habe.

Langsam gehe ich auf das Ungetüm zu, beginne es zu umrunden, schiebe dann und wann mit dem Fuß etwas auf dem Boden zur Seite. Mit eisern vor der Brust verschränkten Armen beginne ich einen Starrwettbewerb mit der weißen Fläche. Doch es ist von vornherein klar, wer den längeren Atem haben wird.

Das bringt doch nichts. Es hat die ganze verdammte Nacht über nichts gebracht, warum sollte es jetzt funktionieren?

Ich wende den Blick ab und lasse ihn lustlos durch das Atelier schweifen. Er huscht über abblätternde Tapete, die durchgesessene Couch und bleibt schließlich an der gerahmten Fotografie hängen.

Ihr Anblick lässt mich frösteln.

Die Sepiafarbe der Fotografie beginnt bereits durch zu viel Sonneneinstrahlung zu verblassen. Allerdings war sie von Anfang an von keiner guten Qualität gewesen. Arm in Arm stehen meine Eltern vor dem Objektiv in der prallen Sonne eines drückenden Sommernachmittages. Die blonden Haare meiner Mutter wirken auf der Fotografie fast weiß. Sie wirkt so viel älter, als sie eigentlich ist, wohingegen mein Vater hinter seinem undurchdringlichen, schwarzen Bart regelrecht zu verschwinden scheint. Als wolle er sich dahinter verstecken.

Es schnürt mir die Kehle zu und ich bin entschlossen, es ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Achtlos werfe ich es in die Kiste mit den Mahnungen des Mieteintreibers in der hintersten Ecke des Ateliers.

Paris ist schrecklich.

Doch das Fischerdorf in der Bretagne ist schlimmer.

Selbst in der prallen Sonne eines herrlichen Sommertages ist es schlimmer.

Ich zucke zusammen, als die Haustür drei Etagen unter mir mit einem lauten Knallen aufgeschlagen wird und unwillkürlich ziehen sich meine Augenbrauen zusammen, während ich dem Tumult im Treppenhaus lausche. Die Treppe, die ihre besten Tage seit Jahrzehnten hinter sich hat, ächzt unter jedem Schritt. Bestimmt ist es Madeleine, das Modell aus dem ersten Stock, das nach einer durchzechten Nacht bei einem ihrer Freier zurück nach Hause torkelt.

Matt wende ich mich erneut der Staffelei zu, um das mittlerweile rostbraune Malwasser auf die vertrockneten Blumenreste neben der Staffelei zu gießen.

»Noël! Noël, mein Freund!«

Verdammt!

Das Glas rutscht mir aus den Händen und zerspringt, das braune Wasser verteilt sich in Windeseile über den abgeschabten Boden, kriecht in jede Ritze.

»Eine Etage tiefer, Madeleine!«, brülle ich wütend Richtung Tür. Panisch zerre ich das erstbeste Stück Stoff vom Tisch und versuche, der Überflutung Einhalt zu gebieten.

Das laute Krachen und Poltern im Treppenhaus, das elendige Quietschen der Stufen und diese Sintflut in meinem Atelier zerren wie kleine Teufel an meinen Nerven.

»Noël, Herrgott noch mal!«

Die ohnehin nur noch schräg in einer Angel hängende Tür wird mit einem Schlag so weit aufgestoßen, dass sie hallend gegen die Wand prallt. Ein Wust aus Papieren und Plakaten wird gehalten von einem zwergenhaften Mann, dessen dickliche Ärmchen sich fest um die ihm teilweise bis zum Kinn reichenden Papierrollen klammern.

»Erkennst du etwa nach all der Zeit noch nicht einmal meine Stimme?«, keucht der Mann schnippisch in der für ihn typischen hohen Stimmlage.

»Doch, doch natürlich … nur eine Sekunde«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, da ich mit Schrecken feststelle, dass sich das Stück Stoff vom Tisch als mein einziges gutes Hemd entpuppt.

Hilflos sehe ich zu, wie der letzte Rest Wasser vom Leinen aufgesogen wird und rostbraune Flecken auf dem ehemals weißen Stoff hinterlässt. Ich murmle ein tonloses »Guten Morgen, Toulouse«, werfe mein ehemals bestes Hemd auf den Tisch zurück und gehe mit zwei eiligen Schritten zu ihm.

»Bist du aus dem Bett gefallen? Du stehst doch sonst nicht vor Mittag auf«, frage ich gereizt.

»Noël, mein Bester«, dringt es erneut leicht angesäuert unter stoßweise hervorgebrachtem Japsen aus den Tiefen der Papierrollen. »Du weißt, dass ich ein nachtaktiver Mensch bin und als solcher brauche ich tagsüber Schlaf. Und nein, ich bin nicht aus dem Bett gefallen.«

Unter lautem Rascheln wird mir ein Großteil des unhandlichen Gepäcks in die Hände gedrückt. Um seine Augen, die durch die fest auf seine Nase geklemmte Brille nur umso größer wirken, haben sich kleine Fältchen gebildet.

»Abgesehen davon, solltest du bei deinem nächsten Umzug eine Wohnung im Parterre in Betracht ziehen. Diese Treppe ist mörderisch! Vor allem für jemanden mit meinen kurzen Beinen.«

Ich lächle schwach, antworte jedoch nicht. Mein nächster Umzug führt mich aller Wahrscheinlichkeit nach auf schnellstem Wege zurück zu Reusen, Fischernetzen und Kuttern.

 

»Du solltest mehr an deine Freunde denken!«, schnauft Toulouse verächtlich und schielt mit einem schrägen Zug um die stark behaarten Mundwinkel zu mir hoch. Ein feiner, glänzender Schweißfilm hat sich auf seiner fliehenden Stirn gebildet und bringt die einzelnen, ungebändigt an ihr klebenden Strähnen zum Kräuseln.

»Ich werde es mir merken«, nuschele ich gepresst und ziehe mit meinem linken Bein die Tür hinter ihm ins Schloss.

»Das solltest du auch«, fährt mein Besucher etwas mehr bei Atem fort. Für einen kurzen Augenblick bleibt mir die Luft weg, als er mir mit einer der Papprollen einen schmerzhaften Schlag in die Rippen versetzt.

»Hast du eine Ahnung, wie sehr es mir ein jedes Mal davor graut, dich zu besuchen?«

In einer achtlosen Geste wirft er sein Gepäck auf die Couch unterhalb des Dachfensters, sodass die Sprungfedern nur so quietschen.

»Und das liegt nicht daran, dass mir deine Gesellschaft zuwider wäre. Das liegt einzig und allein an dieser gottverdammten Treppe!«

Und mit diesen Worten lässt sich Toulouse geräuschvoll neben seine Plakate auf die Couch fallen und überschlägt demonstrativ die im Verhältnis zu seinem nicht besonders hochgewachsenen Körper dennoch viel zu kurz wirkenden Beine.

»Ich brauche das Licht. Das solltest doch gerade du verstehen, oh größter Künstler der Bohème

»Schon einmal was von Kerzen und Petroleum gehört, mein Bester?«, gibt er betont gelassen zurück. Wulstige Finger kraulen seinen buschigen Bart.

»Und welches Licht meinst du bitte?« Er blickt sich suchend um. »Diese erbärmlichen Strahlen, die es geschafft haben, sich ihren Weg durch das milchige Ungetüm in dein düsteres Kämmerlein zu bahnen?«

Ich zucke desinteressiert mit den Schultern. Ich hege nicht im Geringsten die Absicht, auf die ewig gleichen und sich seit gut zwei Jahren wiederholenden Vorhaltungen meines Freundes einzugehen. Toulouse scheint dies zu bemerken.

»Hast du in dieser Kaschemme auch etwas zu trinken?«, mault er in den Raum hinein. Er sieht mich noch nicht einmal an, während er sich mit puppenhaften Bewegungen den Zylinder richtet.

Wortlos greife ich nach einer Flasche auf dem Tisch und lasse mich mit ihr stoisch schweigend neben Toulouse auf die Couch sinken. Ich bereue es im selben Augenblick. Rostige Eisenfedern bohren sich in meinen Rücken und meine Oberschenkel.

»Da, nimm!«

In einer schlaksigen Bewegung halte ich meinem ungebetenen Gast die Flasche schalen Apfelmosts unter die Nase.

»Trink und erzähl mir, was dich unter Einsatz von Leib und Leben veranlasst hat, mich in meiner Abstellkammer zu besuchen.«

Toulouse ignoriert meinen Einwand geflissentlich. Er reißt mir wortlos die Flasche aus der Hand und nimmt einen großen Schluck, ehe er sie wieder sinken lässt. Ich bezweifele, dass es ihm geschmeckt haben kann. Langsam, aber sicher verwandelt sich der Apfelmost in Essig.

»Ich bin gekommen, weil ich dir etwas zeigen möchte«, entgegnet er. Mit steifen Gesichtszügen kämpft er gegen den beißenden Geschmack in seinem Mund an. Er langt nach der längsten Papierrolle und beginnt den Knoten des Paketbandes zu lösen.

»Ohne weitere Übertreibungen kann ich dir nur eines garantieren.« Ein sich über die ganze Breite seines Gesichts erstreckendes Grinsen legt sich auf seine Züge, als er unbeholfen und mit wachsender Ungeduld an dem Band herumwerkelt. »Du wirst hellauf begeistert sein!«

Die braunen Augen, die hinter seiner runden Brille eifrig hin und her huschen, hätten problemlos die eines Zehnjährigen sein können, als er mit einem dröhnenden »Taadaa!« aufspringt, um das Plakat zu entrollen.

»Ein Werbeplakat«, stelle ich nüchtern fest, während ich interessiert auf das gut eineinhalb Meter lange Poster in Toulouses Händen blicke. Toulouse drückt es mir so nah vor die Nase, als wolle er, dass ich in das Bild hineinkrieche. Der beißende Gestank der noch nicht lange getrockneten Farbe steigt mir penetrant in die Nase und bringt die altbekannten Kopfschmerzen zurück.

Und obwohl mir absolut nicht danach zu Mute ist, kann ich es nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen schleicht, als mir die Motivwahl auffällt.

»Ganz genau, mein scharfsinniger Freund. Ein Werbeplakat«, grinst Toulouse selbstgefällig, sodass seine Bartspitzen zucken. Seine Armspanne ist nicht weit genug, um das Poster gerade in seiner vollständigen Breite zeigen zu können, sodass er es unzufrieden grummelnd auf dem blanken Holzboden ausbreitet. Sorgsam streicht er das Papier glatt, ehe er fortfährt:

»Und? Was sagst du?«

Seine Stimme wird schrill.

»Ich komme direkt von Charles.«

»Oh, sieh mal einer an, ihr duzt euch?«

Nur halbherzig verkneife ich mir ein Lachen. Toulouse wirft mir einen bösen Blick zu, energisch die letzten Fältchen an den Ecken glättend.

Spöttisch ziehe ich beim Betrachten des überaus bunten Werks meines Freundes die Augenbraue hoch. Anlass des Plakats ist die Ankündigung der zweimal wöchentlich stattfindenden Tanz- und Maskenbälle, zu denen sich schier halb Paris im Innern des Moulin Rouges versammelt. In leuchtendem Rot prangt der Schriftzug des berüchtigten Varietés über dem freizügigen Abbild einer tanzenden Frau, die ihre langen Beine aufreizend in die Höhe streckt.

Des kauzigen Malers liebstes Motiv.

Die lediglich als unklarer Schattenriss gezeigte Gestalt im Hintergrund des Posters kommt im Vergleich allerdings gar nicht gut weg.

»Und was hat Zidler dazu gesagt?«, hake ich gedehnt nach.

Sich selbstzufrieden in die Brust werfend und stolz den Rücken durchdrückend, platzt es aus Toulouse heraus, als habe er die ganze Zeit über nur darauf gewartet, dass ich endlich diese Frage stellte.

»Ich habe um zehn einen Termin mit der Druckerei. Heute Abend schon wirst du um den Place Blanche keine einzige Wand mehr finden, an der es nicht hängen wird!«

»Heute Abend? Ist das nicht ein bisschen kurzfristig?«

»Ich habe es nicht früher fertigbekommen und Zidler will es für den heutigen Tanzball unbedingt als Werbung haben«, antwortet er, gegen Ende des Satzes wieder auffallend schrill.

»Die ganze Nacht habe ich daran gesessen. Von wegen aus dem Bett gefallen, mein Lieber.«

Erst jetzt fallen mir die violetten Ringe unter seinen Augen auf. Wortlos sehe ich dabei zu, wie Toulouse selig grinsend beginnt, das Plakat zusammenzurollen.

»Ich bin gespannt, was Louise sagen wird.«

Sein Blick nimmt augenblicklich einen anderen Ausdruck an, als er an der Cancan tanzenden Frau in den weiten, wallenden Röcken hängen bleibt und mit dem Einrollen für einen kurzen Augenblick innehält.

»Sicherlich findet sich Louise gut getroffen«, entgegne ich grinsend.

Anscheinend waren Toulouse und das Motiv seines Plakats über die Phase des stummen, gegenseitigen Anstarrens hinausgekommen.

Toulouse ignoriert meinen Kommentar. Wortlos zurrt er den Knoten des Paketbandes fest und erhebt sich mit knackenden Knien.

Oh nein.

Sein schweifender Blick bleibt an der weißen Leinwand hängen. Das bärtige Kinn zwischen zwei Fingern reibend, tritt er näher an die Staffelei, bis seine Nasespitze beinah gegen den Holzrahmen stößt.

»Noch immer nichts, mh?«

Seine Hand schlägt einige Male bestätigend gegen den unteren Teil der Leinwand. Er zieht die Augenbrauen hoch, sodass sie sich wie dunkle Halbmonde über den Rand seiner Brille spannen. Ich zucke nur entschuldigend mit den Schultern und weiche seinem fragenden Blick aus.

Mitleid und ein diffuser Vorwurf spiegeln sich in ihm wider.

»Was hast du da eigentlich noch mitgebracht? Dieser Schwung an Papierkram?«, wechsle ich hastig das Thema, und ohne mein Zutun vollführen meine Arme eine viel zu ausladende Geste zu dem Stapel an Blättern auf dem Tisch. Toulouse zuckt müde mit den Achseln.

»Skizzen, Ideen, Impressionen. Wie auch immer du es nennen willst. Ich dachte mir, ich bringe dir mal ein wenig Leben in deine bescheidene Hütte.«

»Du hast ausgemistet und dachtest dir, dass du bei mir deinen Müll abladen kannst«, entgegne ich spitz und um einiges schnippischer, als beabsichtigt. Das Resultat ist, dass sich die buschigen Brauen verärgert zusammenziehen.

»Ganz im Gegenteil, mein junger Freund. Ich habe mit viel Bedacht ausgewählt«, entgegnet er knapp und mit einer gewissen Kühle. Er geht zum Tisch und wirft mir anschließend einen Stapel an fein ausgearbeiteten Skizzen der Basilika Sacré-Cœur in den Schoß.

»Ich hätte dir auch Zeichnungen von wunderschönen, nackten Frauen mitbringen können, aber ich dachte mir, das hier passt besser zu dir.«

Ich bekomme nichts weiter als ein kurzes Nicken zustande, während ich in einem schnellen Abmessen die Skizzen durchblättere, seinen Seitenhieb wohlweislich ignorierend. Meine Güte, wie lange bin ich denn nicht mehr aus meinem Atelier herausgekommen?

»Bedank dich bei mir, indem du endlich was damit anfängst und aus deiner Apathie erwachst!«

Toulouse verdreht theatralisch die Augen, als ich ihn verständnislos anblicke.

»Meine Güte, Junge, mach’ was draus, mehr kann ich dir nicht raten. Während du hier im Innern hockst, Grünspan ansetzt und Trübsal bläst, zieht draußen das Leben an dir vorbei!«

Wie zur Bestätigung seiner Worte beginnt auf der Straße unter meinem Fenster just in diesem Moment ein Kind lauthals nach seiner Mutter zu schreien.

»Mir würde ebenso wenig einfallen, würde ich Tag um Tag nur die gleichen, abblätternden Tapeten anstarren.«

Sein Blick bleibt kurz an der kreideweißen Leinwand hängen.

»Andererseits, warum abgelegte Inspirationen aus zweiter Hand aufwärmen, wenn du sie genauso gut erleben kannst?«

Er scheint dies mehr zu sich selbst als an mich gerichtet zu haben. Gedankenverloren dreht er die Bartspitzen zwischen seinen schwieligen Fingern, bis es ihn wie ein Blitz durchfährt und sich sein ganzer Körper aufrichtet.

»Und ich kenne zufällig genau den richtigen Ort für ein solches Unterfangen!«

»Der da wäre?«, echoe ich matt, mit dem flauen Gefühl im Magen, dass ich seine Antwort auf meine Frage bereits kenne und sie mir nicht gefallen wird.

»Das Moulin Rouge

»Ich weiß nicht.«

»Wie bitte, du weißt nicht? Was zur Hölle gibt es beim Moulin Rouge nicht zu wissen?«

Er springt mir beinah ins Gesicht bei diesen Worten.

»Und was willst du stattdessen machen, mh? Hier in deiner Abstellkammer versauern und die weiße Leinwand hypnotisieren, in der Hoffnung, dass sich dein nächstes Bild von selbst malt?«

Toulouse vollführt eine wegwischende Handbewegung, als wolle er alle im Raum schwebenden Einwände mit einem Schlag zerstreuen.

»Du musst rauskommen, mein junger Freund. Leben! Du bist hier inmitten von Leben, der lebendigsten Stadt der Welt. Und was machst du?«

Schweigend weiche ich seinem Blick aus und lasse mich immer tiefer in die Federn der Couch sinken. In der vagen Hoffnung, sie möge mich verschlucken.

»Diese Frage kann ich problemlos für dich beantworten, mein Lieber«, poltert er weiter, sich mit jedem Wort mehr in Rage redend. »Nichts tust du. Rein gar nichts!«

Das weiße Quadrat.

Es fröstelt mich. Nichts.

Deutlich hörbar ausatmend, versucht sich mein Freund zu sammeln. Unbeholfen geht er vor mir in die Hocke und ein wenig sanfter, jedoch nicht weniger vorwurfsvoll, fährt er fort:

»Noël, das kann so nicht weitergehen. Warum bist du überhaupt noch hier, wenn du gar nicht mehr hier sein willst?«

Seine dunklen Augen versuchen unentwegt Blickkontakt mit den meinen aufzunehmen, doch ich lasse das nicht zu.

Ich schüttle nur abwehrend den Kopf, den Blick unverwandt auf das weiße Nichts gerichtet, mit aller Macht die aufsteigenden Tränen unterdrückend.

Zwei warme Hände legen sich auf meine Knie, drücken sanft zu.

»Noël?«

»Ich weiß es nicht.« Mein Hals fühlt sich wund und kratzig an. »Ich weiß es einfach nicht.«

Toulouse nickt nur. Die Wärme weicht von meinen Knien, als er sich mit steifen Bewegungen aufrichtet und beginnt, lustlos das Zimmer zu durchmessen.

 

»Ich weiß zumindest eines. Du hockst hier und vergeudest deine Jugend und dein Talent. Und das ertrage ich nicht.«

Das gerollte Poster fest unter seinen Arm geklemmt, rückt er den leicht verbeulten Zylinder zurecht, ehe er sich zur Tür wendet.

»Wie du weißt, habe ich noch einen Termin mit der Druckerei«, gibt er im Gehen von sich und ich kann nicht in Worte fassen, wie erleichtert ich darüber bin.

»Viel Erfolg wünsche ich dir«, rufe ich ihm nach und schaue verdutzt hoch, als er noch einmal innehält.

»Den Erfolg wirst du sehen. Wie ich bereits sagte, heute Abend wirst du keine Straße um den Place Blanche mehr finden, in der mein Poster nicht hängen wird.«

Im Gehen winkt er mir noch kurz über die Schulter hinweg zu.

»Wir sehen uns heute Abend. Halb acht steht die Kalesche vor deiner Tür. Keine Widerrede! Und wenn ich dich persönlich aus diesem Haus schleifen muss!«

Zum Abschied schlägt er die Tür mit einer solchen Wucht ins Schloss, dass die maroden Schrauben der Türscharniere gefährlich wackeln.

Mit einem Mal kommt mir die Stille in meinem Atelier unerträglich vor.