Drei Landschaften

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Drei Landschaften
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SEBASTIAN RAHO • DREI LANDSCHAFTEN

SEBASTIAN RAHO

Drei Landschaften

DRAVA

Die Herausgabe dieses Buches erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Stadt Wien.



DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5

Telefon +43(0)463 501099

office@drava.at

www.drava.at

Lektorat: Sebastian Minkner

Copyright © dieser Ausgabe 2021 bei Drava Verlag

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-955-5 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-85435-980-7 (Epub)

I

Die Wohnung konnte nichts sagen, weder sich anpreisen, noch die Käufer warnen. Es brauchte David, der meinte: „Sie ist wunderschön.“ Und Hanna, die sagte: „Wir kaufen sie.“

Die Wohnung lag im Westen Wiens. Mitte April unterzeichneten David und Hanna den Kaufvertrag. In der Straßenbahn freuten sie sich gemeinsam auf die Zukunft. Die Wohnung war ihr neues Zuhause und zugleich ein langfristiges Investment. Sie malten sich gemeinsam die Details ihrer kommenden Tage, Wochen und Jahre aus. Sie überlegten, wer welches Zimmer bekommen würde. Und auch, ob sie einen neuen Sonnenschirm für die Terrasse brauchten. Während sie von der Straßenbahnhaltestelle in Richtung ihrer bald alten Wohnung gingen, strahlte ein blauer Himmel auf sie hinab, von den Kondensstreifen der Flugzeuge abgesehen.

Hanna schlug vor, eine Flasche Champagner im Supermarkt zu besorgen, und als die Kinder schliefen, stießen die Eltern an. Ein langer, gegenseitiger Blick in die Augen beschloss den bitteren Streit der Nacht zuvor zu vergessen. Gleichzeitig machten sie einen Schluck – und verzogen beide das Gesicht. Champagner haben sie sich besser vorgestellt.

„Schmeckt wie Wein mit Mundgeruch“, sagte David. Ich hätte nicht auf sie hören sollen, dachte er.

Im Mai beginnt die Hitze aus dem europäischen Süden nach Wien zu kriechen. Wie ein dampfender Kessel umarmten die hohen Temperaturen die Dächer und Straßen, bis alles keuchte und stöhnte. Im Sommer warf Wien seinen Alpenkummer ab und gab sich als eine mediterrane Metropole. Man aß spät und leckte abends Eis. Familien saßen draußen auf den Parkbänken, bis die Kirchen keine Stunden mehr läuteten. Kurz vor Mitternacht sah man noch kleine Kinder barfuß über die nachtkühlen Plätze jagen. Aus Cabrios wummerte Balkanmusik und Studenten streunten frühmorgens singend durch die Gassen. Im Sommer lud Wien zum Vergessen ein. Als Erstes vergaß man den langen Winter, den braunen Schneematsch am Straßenrand und den ewigen Hochnebel, und dann vergaß man die triste Tagespolitik. Im Sommer verlagerte sich das Stadtleben weg von der Innenstadt und hin zu den Stränden der Donau. Die Hitze kreist im Schlafzimmer wie eine dicke Fliege und hielt einen wach. Aber das Donauwasser war eiskalt und die Donauinsel lang genug, dass man sich einen Tag lang voneinander verstecken konnte. Viele nahmen täglich Badehose oder Bikini mit ins Büro, damit man spontan nach der Arbeit schwimmen gehen konnte, die Füße ins Wasser halten und ein Dosenbier trinken. Im Sommer trank man in Wien zu viel und zu oft. Auch der anständigste Beamte versicherte jedem und dauernd, dass es wahrlich zu heiß sei, um ernsthaft arbeiten zu können. Einen Sommer lang mochte man glauben, die Wiener seien gesellige Menschen.

Es war ein Samstagmorgen im Mai. Vor einer Woche war die kleine Familie in ihre neue Wohnung eingezogen, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Sie waren noch längst nicht eingelebt. Die Ecken und Winkel der frischgeweißelten Mauern waren der Familie noch fremd, genauso wie die Wasserhähne und Türklinken. Die Finger wussten noch nicht von selbst, wo sie an der Wand nach den Lichtschaltern tasten mussten. Die Zehen stießen sich an der ungewohnt hohen Türschwelle im Badezimmer. Und wenn die eine Stufe knarrte, wenn man vom Untergeschoß ins Obergeschoß stieg, klang es, als würde ein Fremder hier gehen. Man erschrak vor sich selbst. Die Mauernischen kannten noch nicht die Geheimnisse der neuen Bewohner und lauschten neugierig.

Was den Kauf der Wohnung betraf, waren die zwei Kinder stumm wie die Wohnung geblieben. Es hatte sie auch keiner um ihre Meinung gefragt. Der Umzug geschah ihnen, wie so viel der Kindheit, Kindern einfach geschieht. Ihnen wurde der Umzug wie ein plötzliches Abenteuer präsentiert und in kleine Spiele und Rätsel verpackt: Wer schneller sein Spielzeug sammeln konnte! Wer konnte diese schwere, schwere Kiste stemmen? Und dann die Trumpf-Frage der Eltern: Wie es wohl sein wird im eigenen Zimmer? Lena, mit fünf Jahren die Jüngere, packte eifrig ihre Teddys und Socken, ins neue Spiel vertieft. Paul, mit neun Jahren der Ältere, witterte Gefahr: Seine Mutter war dabei, alte T-Shirts in den aufgebauschten Müllsack zu stopfen. Sie waren so kaputt, die konnte unmöglich seine Schwester erben. Paul war weder mit Vererben noch mit Wegschmeißen einverstanden. Nur eine heftige Intervention seinerseits hatte ihr Vorhaben vereitelt.

Die Kinder werden den Umzug vergessen, wie behütete Kinder eben vergessen. Unglückliche Kinder werden schon früher ans Erinnern gewöhnt.

Jetzt war der Auszug aus der alten Wohnung bereits Vergangenheit, bereits davongeweht. Der Aufruhr des Gehens verwandelte sich in die Aufregung des Kommens. Im neuen Wohnzimmer standen Umzugskisten herum, wie vergessene Gäste. Kästen und Kommoden waren von Möbelpackern eilig und schief bei der Wand abgestellt worden und warteten auf ihre endgültige Bestimmung. Durcheinandergewürfelte Bücher belegten die Couch und staubten die Gänge zu. Hammer, Schraubenzieher und einzelne Nägel kullerten auf der Küchenfläche. Und keiner wusste so recht, wo sich das Ladekabel für Hannas Handy aufhielt.

Ihr Alltag schien in eine Vielzahl von Kisten verstaut. Sich einleben brauchte Zeit. Vor allem den Erwachsenen fällt das Neue oft schwer. Neben der Arbeit im Büro und der Arbeit mit den Kindern und der Arbeit im Haushalt blieb kaum Kraft und Zeit die leere Wohnung heimelig zu machen. So schien der viele Hausrat traurig in den Zimmern herumzulungern, wie bei einem Trödelmarkt, und auf Zuneigung zu warten.

Die Morgensonne rollte durch die breiten Fenster und spiegelte sich warm auf dem hellen Parkett. David spielte mit den zwei Kindern am Boden ein Brettspiel. Die Mutter schlief, obwohl es schon später Vormittag war. Sie war erst um fünf in der Früh von der Spätschicht im Krankenhaus heimgekommen. David hatte nachts im Wohnzimmer geschlafen, um von Hannas Heimkommen nicht gestört zu werden. Aber Lena hatte David ohnehin nicht viel später geweckt. Paul war erst um halb neun in die Wohnküche getrottet und hatte mürrisch Frühstück verlangt.

David spielte mit den Kindern Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Er war ehrlich frustriert.

„Ich hasse dieses Spiel!“

„Papa, du sollst dich nicht ärgern”, sagte Paul und freute sich. Er wies gerne seinen Vater auf dessen Widersprüchlichkeit hin.

„Du musst jetzt von vorne wieder, Papa.“ Auch Lena hatte Spaß. Den Papa verlieren sehen, war fast lustiger als selbst gewinnen.

David betete, dass dieses Spiel endlich ein Ende nehmen würde. Bei diesem Spiel schien nie jemand zu gewinnen, man verlor nur langsam und lief dabei sinnlos wie eine Wanze im Kreis.

„So ist das Leben!“, sagte Paul, als er eine weitere Figur in den Zielhafen würfelte. Er hatte schon drei von vier Figuren im Ziel.

So ist das Leben!, das gab David oft zur Antwort, wenn die Kinder nicht das bekamen, was sie so gerne in dem Moment verlangten. Das ganze Leben ist unfair, gewöhn dich daran – das war der häufigste Spruch der Mutter, wenn die Kinder protestierten, dass etwas ungerecht sei.

Als das Spiel vorbei war, fragte David die Kinder, ob sie ihm beim Kochen helfen wollten. Zu seiner Überraschung willigten sie beide ein. Wenn Kinder helfen, dann dauert alles doppelt so lang. Und weil David weder die passenden Töpfe noch das richtige Küchenmesser fand, nahm das Kochen viel mehr Zeit in Anspruch, als er vorgesehen hatte. Nachdem sie fertig waren und die Lasagne im Rohr stand, ließen sich die drei alleine mit ihren Bildschirmen nieder. Lena durfte Kindervideos schauen. Paul spielte seine Spiele. Und David, der extra den Ohrensessel freigeräumt hatte, klickte sich durch die Nachrichten, dann suchte er nach neuen Sportschuhen und schlief dabei ein.

„Papa, kann ich die Mama jetzt wecken?“, Paul rüttelte David aus dem Tiefschlaf.

„Wie spät ist es?“

„Es ist schon zwölf, Papa. Ihr schlaft die ganze Zeit.“

„Du kannst die Mama wecken, sie hat gesagt zwölf.“

David hörte das schnelle Kindergetrampel durch die Wohnung hallen. Lena quietschte laut: „Schlafmütze! Schlafmütze! Mama ist eine Schlafmütze!“ Bald hörte er die dumpfe Stimme seiner Frau, das Knistern ihrer Decke. Er hörte das Bett knarren. Die Kinder waren aufs Bett gesprungen, vermutete David. Diese kleinen Biester …

„Du tust mir weh, Paul!“

David schlug die Augen auf. Er hörte Paul spitz lachen.

„Paul, hör auf. Das tut mir weh. Hörst du mich?“, rief Hanna aus dem anderen Ende der Wohnung.

David stand auf. Er ging eilig zum Schlafzimmer hinunter. Im Gang hörte er Pauls Stimme: „Das tut nicht weh! Das kann nicht weh tun!“

 

David wusste genau, was passierte. Er ärgerte sich, dass Paul einfach nicht wusste, wann Schluss war.

David trat ins Schlafzimmer. Die Rollos waren noch unten, es war düster. Er sah, dass Hanna sich schon aufgesetzt hatte. Sie hielt Pauls Arm. Paul saß auf den Beinen seiner Mutter und hatte sichtlich Spaß.

Er wird sie wieder geschlagen haben, dachte David.

Dieses Kind. Paul verstand nicht, wann etwas Spiel war und wann Ernst.

Hanna bemerkte Davids Anwesenheit. Der Raum schien sich plötzlich zu ihm hinzubiegen.

„Ich werde wohl besser wissen, ob du mir wehgetan hast, oder nicht“, sagte Hanna.

Sie sah noch so verschlafen aus. Diese arme Frau wurde von dem Kind terrorisiert.

David wusste nicht, was genau geschehen war – das war jetzt nicht wichtig. Bei dem Kind fehlte es grundsätzlich an Kooperation.

„Paul, hast du gehört, worum deine Mutter dich gebeten hat?“ David trat langsam in den Raum. Der Mann merkte nicht, dass sein Körper sich längst entschieden hatte, wie er sich verhalten würde. Blut strömte in Davids Arme und Hände.

„Misch dich nicht ein!“, schrie Paul unerwartet heftig. Er sah aus wie ein kleiner Kobold. Oh, wie oft haben sie dieses Theaterstück schon aufgeführt? Wie oft noch?

„Paul, wenn du nicht auf deine Mutter hörst, dann …“

Paul sprang vom Bett und stand mit dem Rücken zur Wand.

„Komm her, Paul. Ich möchte mit dir reden.“

Lena glitt vom Bett hinab und versteckte sich beim Kasten.

Pauls Körper spritzte plötzlich davon, aber David erwischte ihn gerade noch am Arm und packte zu. Paul zappelte, er wollte sich losreißen, dann schlug das Kind schreiend auf David ein. David wehrte seine kleinen Fäuste ab. Das Kind hing wie ein wütendes Äffchen in der Luft und versuchte seinen Vater zu treten, aber traf nicht.

„Hör auf mit dem Blödsinn, Paul!“

„Arschloch!“, schrie Paul mit rotem Kopf.

„Ich möchte nicht, dass du so sprichst! Und ich möchte, dass du auf deine Mutter hörst”, sagte David und ließ ihn fallen. „Verstanden?“

Paul lief sofort durch die Türe, drehte sich im Flur um und kreischte, mit Tränen in den Augen:

„Ihr Arschlöcher! Ihr dummen, dummen Arschlöcher!“

Jetzt wurde David so richtig wütend. Er will mich ärgern! Ich lass ihn los und er schimpft weiter! Er weiß einfach nicht, wann Schluss ist.

Er schnaufte und stampfte los in Richtung Paul.

Der konnte jetzt etwas erleben …

„David!“, rief Hanna besorgt aus dem Zimmer. „Beruhige dich!“

„Ich bin ganz ruhig!“, rief der Vater über seinen Rücken. Paul donnerte seine Zimmertüre zu.

Diese Göre. Dieses undankbare Kind. Dieser verwöhnte kleine Fratz. David drückte gegen die Türklinke, aber Paul stemmte sich von innen gegen die Zimmertüre. Er presste die Türe mit Leichtigkeit auf und schob dabei Pauls Gewicht zur Seite. Er fiel um wie ein Mehlsack. Das Kind verschanzte sich im Eck des Raumes. Blinde, irre Aggression fletschte in Pauls kleinem Gesicht.

David stand schwer atmend in der Raummitte, umgeben von Spielzeug und am Boden verteilter Kleidung.

Paul hob seine Gummiring-Pistole und zielte auf Davids Kopf.

„Du hast mir wehgetan!“, schrie Paul.

„Du legst dieses Ding sofort auf den Boden.“ David zeigte mit dem Finger auf die Kinderpistole und kam langsam näher. „Sonst nehme ich dieses Ding und schmeiße es aus dem Fenster, wenn du nicht sofort …“

Doch dann erschien Hanna. Schnell stellte sie sich zwischen die zwei.

„Schluss jetzt!“, Sie schob David aus dem Raum und zog die Türe hinter sich zu. „Was willst du von ihm da drinnen?“

„Ich möchte nicht, dass er dich schlägt.“ David hatte sich völlig unter Kontrolle.

„Danke”, sagte Hanna, ihre Stimme war zittrig. „Aber es reicht jetzt.“

„Er hat mit dieser Pistole …“ Hanna hob die Hand und schüttelte mit dem Kopf. Sie war nicht an seinen Darstellungen interessiert.

„Ich habe es gesehen. Ich werde nachher mit ihm darüber sprechen. Aber jetzt lass ihn in Ruhe.“

Sie stand nah genug bei David, dass er die Schlafwärme ihres Körpers spüren konnte.

„Ich hätte ihm nie etwas getan“, sagte er.

Hanna sah ihn stumm an. Du bist ein Mann, dachte sie. Ich kenne die Statistiken.

„Wo ist Lena?“ Hanna ging ein paar Schritte und fand sie. Das kleine Kind stand im hintersten Winkel des Ganges, halb im Vorhang versteckt. In ihrem pinken Pyjama sah sie aus wie ein Flamingo.

„Wo ist denn bloß die Leni? Findet sie wer?“, trällerte die Mutter.

„Da ist die Leni-Maus!“, sagte Hanna. Sie hob das Kind hoch, das seinen Kopf auf ihre Schultern legte und Blickkontakt mit dem Mann vermied.

Dass seine Tochter Angst vor ihm hatte, schmerzte ihn. Er würde ihr nie etwas tun, nie, nie, nie. Er fühlte sich missverstanden.

„Kinder brauchen Grenzen“, sagte David. Aber ihm kamen Zweifel, ob diese Intervention in der Form wirklich richtig und notwendig gewesen war.

Hanna gab keine Antwort. Sie hatte jetzt kein Interesse an solch einer Diskussion. Sie fuhr mit ihren Händen schläfrig über ihr Gesicht und gähnte, ohne sich die Hand vorzuhalten. Man sah noch rote Striemen, wo sich das Kissen in ihre Wange gepresst hatte.

„Also, wach bin ich jetzt“, sagte sie.

Hanna nahm David an der Hand. Er sah verloren aus. Als wäre er in einem unbekannten Land aufgewacht.

„Wir gehen jetzt alle ins Wohnzimmer“, sagte Hanna. „Die Mama braucht einen starken Kaffee. Willst du ein Brot haben, Leni?“

Lena nickte.

David stellte erst die Espresso-Kanne auf den Herd, dann schmierte er Lena zwei Brote. Als Hanna sah, was Lena bekam, wollte sie auch Frühstück haben, also machte er gleich noch zwei. David schmierte nochmals zwei Brote für sich und machte zwei weitere, die er auf einen Teller legte.

„Kannst du die Paul bringen?“

Hanna ging zu Pauls Zimmer und klopfte sanft an seiner Türe. Paul antwortete mit erstickter Stimme.

„Wer ist da?“, wollte er wissen. Mit seinem Vater hätte er keinesfalls gesprochen. Hanna fragte ihn, ob sie die Türe öffnen durfte. Aber das wollte Paul nicht.

„Ich habe dir etwas mitgebracht”, sagte sie. Sie bückte sich und legte den Teller mit den Broten vor die Türe. Und seinen Nintendo.

Hanna stand vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete die allzu deutliche Spiegelung ihrer Form. Mit einem Ohr hörte sie, wie Pauls Zimmertüre aufseufzte und wieder zuging. Die Frau im Spiegel starrte sie an. Hanna merkte, sie sah aus wie sie sich fühlte – leider. Wie eine benutzte Serviette sah sie aus. Man trägt sein ganzes Leben im Gesicht vor sich her, hatte ihre Mutter gerne gesagt – und mit Botox ihre Falten und Mimik wegspritzen lassen.

Mit dem Daumen quetschte Hanna eine Tablette aus dem Blister und spülte sie mit Wasser runter. Einmal täglich, lebenslang. Die Chemie in ihrem Kopf produzierte einfach zu wenig Stoff für Balance und Wohlbefinden. Ihre marode Glückspumpe im Hirn hatte sie von ihrer Mutter geerbt.

Die Mutter war die Erste in der Familie, die voll akzeptiert hatte, dass es ohne die Tabletten einfach nicht ging. Die Schneise der depressiven Verwüstung innerhalb Hannas Familie war offensichtlich. Hannas Onkel hatte sich vor ein paar Jahrzehnten umgebracht. Als junger Mann hatte er sich im Sportwagen in der Hausgarage selbst erstickt. Ein Selbstmord, der die Familie immer noch stumm verfolgte, wie ein ruheloses Gespenst. Auch Hannas Großmutter versprühte keine Leichtigkeit, sie trug ihr Gesicht wie eine eisige Maske. Und Hannas jüngere Schwester hatte erst letztes Jahr versucht sich umzubringen – aber das sei, laut der Schwester, eher ein Unfall gewesen. Jedenfalls habe die Schwester ihren Körper in Indien von einem Yogi spirituell reinigen lassen und sei jetzt geheilt.

Am Land da gab es psychische Probleme nicht, nur Familiengeheimnisse.

Hanna wohnte in der Stadt, sie schluckte lieber ihre Pillen.

Nach ein paar Minuten kam sie wieder ins Wohnzimmer und sagte, Paul gehe es gut. Er wolle alleine im Zimmer bleiben, was sie sinnvoll fand. Dass sie dem Kind sein liebstes Spielgerät gebracht hatte, verschwieg sie.

Hanna verteilte ihre Zuneigungen genau wie mit einer Goldwaage.

David merkte erst jetzt, wie das Herz in seiner Brust aufgeregt pochte. Jetzt, als seine Wut langsam verebbte, fühlte er überhaupt erst, dass er aufgebracht gewesen war. Manche Dinge mussten zu Ende gehen, um verstanden zu werden. Man musste ruhig werden, um zu merken, dass man wütend gewesen war.

Ein schales, abgestandenes Gefühl breitete sich in David aus. Dort, wo die Aggression in ihm gebrodelt hatte, glühte jetzt die Scham. Er schämte sich. Ein erwachsener Mann jagte ein Kind durch die Wohnung. Wegen so einer Lappalie … Er war ja eigentlich überhaupt nicht autoritär … Woher kam das?

In seinem Kopf rotierte der gleiche Satz in verschiedenen Varianten: Es hätte nicht so weit kommen sollen. Das hätte nicht passieren sollen. Paul hätte sie nicht schlagen sollen. Das Kind hätte hören sollen. Ich hätte anders reagieren sollen.

In seinem Kopf glitten diese Sätze umher wie Fische in einem dunklen Teich, schnell und glitschig, dass man sie kaum fassen konnte. Jeder Satz-Fisch, den er fangen konnte und kurz zappelnd festhielt, sah völlig anders aus, aber trug den gleichen Namen. All die fischigen Sätze sagten: Es muss anders sein. Ich muss anders sein. Du musst anders sein. Diese Sätze stanken, sie stanken nach Wut und Schuld. „Muss-turbation“ nannte das sein Therapeut.

„Soll ich mit Paul sprechen?“, fragte David in Richtung Hanna. Sie saß im Bademantel auf einem der Barhocker, lehnte am Küchentresen. Sie war nach vorne in ihr Handy gebeugt. Hanna verneinte kauend, mit einer langsamen Kopfbewegung.

David fand, sie sah müde aus. Und alt. Unter ihren Augen sah er dunkle Schatten.

Diese Nachtschichten werden sie noch umbringen.

„Er braucht jetzt Zeit allein im Zimmer“, sagte Hanna und legte das Handy weg. „Ich finde es gut, wenn du ihm Grenzen aufzeigst, aber …“

„Aber was?“, fragte David schnell.

„Aber sei vorsichtig, David.“

„Ich habe ihm nicht wehgetan“, sagte er. „Ich habe ihn nur am Arm genommen.“

Hanna sah ihren Mann an. Sie kannte die Statistiken.

„Was backt denn da im Ofen?“, fragte Hanna.

„Lasagne.“

Hannas Gesicht blühte auf. Sie liebte Lasagne.

„Ah, ich weiß wieso du aufkochst“, sagte sie strahlend. „Dein Vater besucht uns heute.“

David ließ einen Milchschwall in seinen Kaffee plumpsen. Ihre Vermutung empörte ihn. Wenn er etwas tat, dann war es für sie und die Kinder. Alles was er tat, tat er für sie. Die restliche Welt rauschte nur da draußen vorbei – merkte sie das nicht? Merkte sie nicht, was er alles für sie opferte?

„Ich habe sie für euch gekocht. Nicht für ihn.“

David fühlte ein dumpfes Drängen in seinem Magen. Er interpretierte das als Hunger. Er biss in sein Käsebrot. Die trockene Masse rollte in seinem Mund herum.

„Ich habe keinen Appetit“, sagte er und ließ die Brotschnitte auf den Teller fallen.

Vor dem Sturm herrschte vielleicht Ruhe, aber danach kehrte Stille ein. Hanna war mit Lena auf die Dachterrasse gegangen. David war ihr gefolgt. Sie stiegen in eine Flut aus weißem Mittagslicht.

In einem Terrasseneck standen ein runder Holztisch und zwei Klappstühle. Ihre neue Ausstattung hatten sie im Internet bestellt, und die ließ auf sich warten.

Hanna und David machten es sich auf den warmen Betonfließen gemütlich. Leni lag am Boden und kehrte Krümel mit einem Finger in den dunklen Fliesen-Zwischenraum. Hanna lehnte auf der Wand und sog mit geschlossenen Augen Sonnenstrahlen ein. David saß ihr gegenüber, sein Rücken lehnte gegen das äußere Metallgitter der Terrasse. Sie hatten einen alten Sonnenschirm gespannt, viel zu klein für ihre neue, große Dachterrasse, er warf nur einen kleinen runden Schattenkreis, unter dem nicht alle Schutz fanden.

David schwitze. Er zog sein T-Shirt aus.

Langsam wird er fett, dachte Hanna. Schweißperlen sammelten sich zwischen seinen Speckringen am Bauch. Die nackte Haut ihres Mannes ließ sie an ihre Patienten denken. Sie schloss die Augen.

Frieden war wieder eingekehrt.

Die Terrassenfläche hatte die Form eines großen L, das sich um das gesamte Obergeschoß ihrer Wohnung wickelte. Die Fläche war groß, wirkte leer und einsam. Die Terrasse sah jetzt aus wie eine weiße Insel über den Klippen grauer und roter Dächer. Die drei Personen sahen darauf wie gestrandet aus.

 

Hanna und David planten, wohin sie den Tisch mit den Stühlen stellen würden. Hanna wollte ein Hochbeet haben. David nahm sich vor, die Topfpflanzen hinaus zu tragen, damit sie Licht bekämen.

Leni setzte sich auf und hörte ihren Eltern beim Sprechen zu.

„Bleiben wir in der Wohnung?“, fragte das Kind.

„Natürlich bleiben wir in der Wohnung. Sie gehört jetzt uns, Leni.“ Hanna war immer wieder überrascht, was ihre Kinder beschäftigte.

„Und, ihr bleibt zusammen?“, fragte Lena ernst. Das Kind sah die Eltern nicht an, sondern spielte mit seinen Fingern.

Hanna war bestürzt. „Natürlich. Natürlich bleiben Mama und Papa zusammen.“

„Wir kommst du auf so etwas?“, fragte David.

Hatte das Kind nachts die Diskussionen und den Streit gehört? War sie wach gewesen, oder waren die Sätze im Schlaf in ihr Unterbewusstsein gekrochen?

Bevor die Eltern ausgezogen waren, haben Hanna und David bis zum Morgen diskutiert, und manchmal waren die Stimmen sehr laut geworden oder haben zischend geflüstert, voller Dringlichkeit.

Hanna sah David an. David umarmte Lena. Vielleicht war diese Frage bloß irgendeine kindliche Eigenart gewesen. Schließlich sind Kinder aus Angst und Fantasie gemacht.

David sah auf die Straße hinab. Sein Rücken war ans Geländer gelehnt. Die Brise strich durch seine Haare, als wären sie auf einem Schiff. In Wien ging immer der Wind.

Die Häuserblocks in ihrer Nachbarschaft ragten hoch über die Straße, hatten fünf bis sechs Stockwerke und stiegen gestaffelt ins Licht, eines höher oder niedriger als das andere.

David sah, ein Gebäude unterschied sich merklich von den anderen. Das Gebäude war flach, einstöckig, und auf den Mauern ruhte eine hufeisenförmige Dachkonstruktion. David konnte in die Dachöffnung hineinblicken und sah einen Mann in blauer Arbeitskleidung. David sah zu, wie der Mann Holzbretter aus einem verdeckten Teil des Betriebes hervortrug und sie sorgfältig auf einen Kleintransporter stapelte. David hörte, wie der Mann leise zu sich in einer Sprache sang, die er nicht verstand, wahrscheinlich Arabisch. Es klang jedenfalls traurig. Dann sprach der Mann mit einem zweiten, aber David verstand nicht, was sie sagten. Dann lachten die Männer gemeinsam, es hallte zu David hinauf.

Dann rief der Mann, der vorher noch Arabisch oder Türkisch gesungen hatte, laut und in breitem Wiener Dialekt: „Und es sogt’s immer, wir Türken san kompliziert.“ Sie lachten. Die Männer stapelten gemeinsam das helle Holz, dann stiegen sie in das Fahrzeug und fuhren davon.

Die Terrasse war zu einem betonierten Hof ausgerichtet, in einem ausgeschnittenen Erdkreis wurzelte ein Baum mit kerzenförmigem Wuchs. David konnte beobachten, wie Menschen in den kleinen Hof traten und von einem Stiegenhaus ins nächste gingen.

Ihre Dachgeschoßwohnung war hoch oben, er konnte in die umliegenden Straßen einblicken, die wie ein Schachbrett seinen Häuserblock eingrenzten. Der Wohnbau gegenüber, wahrscheinlich erst ein paar Jahre alt, war außen mit grauen Metallpaneelen verziert. Auch auf diesem Haus gab es einige Dachterrassen, wobei das Dach mit Gittern in Parzellen unterteilt war. Das Gebäude selbst stand abseits von den anderen und ragte hinaus wie ein riesiger Zahn mit Zahnspange. Auf dem menschenleeren Dach wehten Sonnenschirme und ein paar Pflanzen rankten sich über das schimmernde Blech. Die meisten Häuser, die David sah, waren alt. Sie waren auf der Fassade mit verschnörkelten Dekorationen verziert. Blumen, Linien, antike Symbolik und Körperumrisse. Über den Fenstern dieser historischen Häuserblocks erstreckten sich ausschweifende Kapitelle. Stilisierte Gipssäulen umrahmten die Maueröffnungen, als würde aus all den staubigen Kastenfenstern täglich eine Prinzessin herabschauen. Auf den jahrhundertealten Mauern lag ein Dach aus geschwungenen Ziegeln, wie ein roter Hut. Bröckelnde Schornsteine stachen wie zerzauste Federn in die Luft.

Unter David schlitterten Tauben durch die Regenrinne. Sie pickten gierig wie müde Nähmaschinen in der staubigen Blechschiene.

David sah zwei kleine schwarze Vögel auf den Schornsteinen des nahen Nachbarhauses sitzen. Völlig regungslos waren sie. Amseln, dachte David. Einer der Vögel hatte ein leicht bräunliches Federkleid und war ein bisschen zarter. Das war wahrscheinlich das Weibchen. Der andere war völlig schwarz, wie ein Rabe. Die zwei Vögel saßen zwei Meter voneinander entfernt und bewegten sich nicht, als existierten sie nicht füreinander.

Überall am Dach klebte Staub und sogar noch Pollen von der Gräserblüte. Die Natur, die er vom Fenster aus sah, kam ihm sonderbar trocken vor. Seine Augen wanderten in Richtung Horizont.

Wegen des Blicks in die Ferne, wegen der Aussicht, hatten Hanna und er diese Wohnung ausgewählt.

David war heiß, aber diese Information reichte nicht aus, um zu verstehen, wie das Wetter sich anfühlte. Es herrschte gerade dieses Wetter, für das Wien so berüchtigt war, und um dieses Phänomen zu verstehen, half kein Messgerät. In der Stadt kochte ein Wetter, dass keinen verschonte. Ein Wetter, weswegen Männer durch die Gassen zogen und plötzlich Lust verspürten, einem Wildfremden vor die Füße zu spucken. Schreckliche Dinge passierten, wenn die Wiener und Wienerinnen sagten, dass es schwül war. Die Luft war dicht und schien wie Unglück über dem Kopf zu kreisen. Der Schweiß klebte am Hemd. Der andauernde Wind kam nicht zur Hilfe, er machte alles nur noch schlimmer, indem er die heiße Luft, wie in einem Backrohr, durch die Stadt föhnte. Die Nächte wurden tropisch. Das waren Nächte, wo die Krankenhäuser voll waren. Hypochonder stöhnten. Und jeder Migräne-Patient lag mit einem Eisbeutel im dunklen Zimmer. Schulkinder konnten sich nicht konzentrieren und Verkehrstote häuften sich. Dichter schrieben schwermütig. Vögel sangen gedämpfter, oder schwiegen völlig. Die Luft moderte erschlagen in den Räumen. Alte Frauen blickten besorgt in den Himmel und prophezeiten: Das Wetter schlägt um. Tatsächlich: Gewittertürme umkreisten den Stadtrand wie herrenlose Schlösser. Es roch nach Regen – aber regnete nicht. Oft ging das tage- oder wochenlang so. Im Sommer, der mittlerweile vierzig Grad Hitze zählte, wurden solche Nächte unerträglich – und gefährlich, in schlechter Gesellschaft. Wenn man Glück hatte, entlud sich diese gespenstische Energie schon am selben Tag mit dem plötzlichen und heftigen Ruck eines Gewitters. Oft reichte schon ein schwerer Regenguss, damit man am nächsten Morgen wie verkatert von seinen gestrigen Handlungen aufwachte. Wer war dieser Fremde gestern in meiner Haut?

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