Seewölfe - Piraten der Weltmeere 679

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 679
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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-093-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Sean Beaufort

Totenschiff vor Anker

Flammen und Rauch locken die Arwenacks an

Narada Diji, genannt der Blatternarbige, hatte wenig gute Eigenschaften. Aber Geduld hatte er in geradezu beängstigender Menge. Also wartete er.

Er und seine Männer warteten an einem Punkt, den viele Schiffe passieren mußten. Die Falle, die Erfolg im geeigneten Moment versprach, war mit Bedacht angelegt. Wer immer in die Nähe Naradas und seiner Kerle geriet, würde getäuscht werden. Schnell und lautlos hatten sie stets zugeschlagen. Sie handhabten meisterhaft ihre messerscharf geschliffenen Dolche, die Pfeile und Dreizacke – und waren dabei wohlhabend geworden.

Der Anführer und seine fünfundzwanzig Töter tarnten sich meisterhaft. An Land wußte niemand von ihrem mörderischen Gewerbe …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Die Hauptpersonen des Romans:

Narada Diji – ist der Anführer einer Bande von fünfundzwanzig Halsabschneidern, denen bisher noch jeder Coup gelungen ist.

Sebastiao – der Portugiese ist krank und halbtot, als er als Notruf einen Böller löst, der von den Seewölfen auch gehört wird.

Der Kutscher – kümmert sich um den kranken Portugiesen und stellt erleichtert fest, daß er nicht die Pest hat.

Edwin Carberry – ist in seinem Element, als er mit den Fäusten und dem Cutlass braunhäutige Schurken „abräumen“ kann.

Philip Hasard Killigrew – sieht sein Ziel Madras entschwinden, als ein Sturm die Schebecke wieder auf Nordkurs zwingt.

1.

Kapitän Philip Hasard Killigrew blickte mit seinen funkelnden, eisblauen Augen nicht ohne Zufriedenheit über das Deck der Schebecke. Er schaute nach den Wolken, nach Anzeichen einer Wetteränderung, blinzelte den Männern der Deckswache zu und drehte langsam den Kopf, um die Uferlinie an Backbord zu mustern.

Er stand breitbeinig am hintersten Rand des Grätingsdecks und lehnte sich ans Schanzkleid. Wie es aussah, schien er mit sich, den Arwenacks und dem Rest der Welt zufrieden zu sein. Gleichzeitig sagte er sich, daß seine persönliche Zufriedenheit eine Sache war, die sich binnen weniger Atemzüge radikal ändern konnte.

Er entsann sich aus guten Gründen an den Versuch, vor dem Ort Ernakulam Anker zu werfen, um die Vorräte zu ergänzen.

„Die Pest über Ernakulam“, flüsterte er im Selbstgespräch.

Er meinte es durchaus zwiespältig: der kleine Marunga war offensichtlich der einzige Überlebende des schwarzen Todes gewesen. Und er, Hasard, konnte nur hoffen, daß die Rindenpräparate des Kutschers einigen Eingeborenen das Leben gerettet hatten. Plötzlich mußte er lächeln. Tod und Leben, Niedergeschlagenheit und Hochgefühl lagen so nahe beieinander, obwohl sie mitunter durch Abgründe voneinander getrennt schienen.

Der letzte Eindruck, den die Arwenacks vom Land mitgebracht hatten, war düster und voller Schrecken und Grauen gewesen. Auch den hartgesottenen Carberry hatte das alles nicht unberührt gelassen.

Aber dann zwangen der Kutscher und Mac Pellew die Zurückkehrenden, sich einem ausdauernden Reinigungs- und Anti-Pestbad zu unterziehen, und die darauf folgende Aufregung minderte und verringerte die Eindrücke menschlichen Elends und hilflosen Sterbens.

„Wir jedenfalls haben überlebt“, murmelte Hasard und schob sein Haar wieder in den Nacken zurück. Wie so häufig wehte an diesen südlich gelegenen Stellen des indischen Kontinents der Sommermonsun aus Nordost. „Aber – wie lange?“

Auch das meinte er zweideutig.

Wie lange blieb der Wind günstig und trieb sie, um die Südspitze des indischen Kontinents herum, weiter?

Wie lange überlebten sie? Wer von ihnen allen überlebte? Die Gefahren lauerten nicht nur unter dem Kiel und über den Wellen, sondern buchstäblich in jeder Bucht, die sie ansteuerten, gegen den Wind oder mit dem Wind, über die verdammten Sandbänke hinweg oder gegen wirbelnde Strömungen. Sie hatten ihr Glück viele Dutzende Male herausgefordert und lebten noch immer, und wenn er nachdachte, lebten sie nicht schlecht.

Aber alles hatte irgendwo ein Ende, ein loses Ende: das Unglück ebenso wie das Glück. Er fand, daß er nutzlosen Gedanken nachhing, aber in den zurückliegenden Stunden hatte sich jeder einzelne Crewangehörige entspannen, ausruhen, ausschlafen können, und selbst in Sichtweite des Landes konnte man Gedanken nachhängen und ein wenig Garn spinnen.

Die wenigen Früchte, die seine braven Arwenacks aus dem triefenden, verfilzten Dschungel mitgebracht hatten, waren längst gegessen und von den Köchen einigermaßen schmackhaft verarbeitet worden. Wenn sich unter Deck noch irgendwelche Früchte befanden, würden sie mittlerweile auch schon zu gammeln anfangen.

Hasard gab sich einen Ruck. Innerlich ging er hart mit sich ins Gericht und sagte sich, daß er besser daran täte, gute Laune, Zuversicht und Kühnheit auszustrahlen.

Als er an die Verantwortung dachte, die einige Tonnen Gold und Silber, ein Schatz sondergleichen, ihnen allen auferlegten, mäßigte sich seine gute Laune. Er spuckte nach Lee.

„Kali, die Schwarze Göttin, hat uns bisher verschont. Offensichtlich liebt sie uns. Wir stehen es durch, und wir liefern das Gold auch zuverlässig ab.“

Nach einem weiteren, tiefen Atemzug, der alle nachdenklichen Wolken von seiner Stimmung wegblies, fügte er hinzu: „Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn uns jemand das Zeug abjagen würde!“

Er ahnte, daß er sich eines fernen Tages an diesen Vorsatz erinnern würde.

Clint Wingfield enterte den Niedergang auf und bemühte sich, die Muck so zu halten, daß er keinen Tropfen verschüttete.

„Sir?“

„Mein Sohn? Du bringst mir ein paar Tropfen, die meine Laune heben sollen, so jedenfalls meinte es Mac? Richtig?“

„Richtig, Sir.“

Hasard lachte und nahm ihm die Muck ab. „Alles in Ordnung mit dir? Bist du satt geworden? Du scheinst dich einigermaßen wohl zu fühlen, oder irre ich mich?“

Die grauen Augen strahlten Hasard an. Noch immer steckten Monate der Prügel und des Hungers in dem Kerlchen. Hasard brauchte nicht lange nachzudenken, um den blonden Stupsnäsigen verstehen zu können. Ihm war es, auf andere Weise, ähnlich ergangen.

„Es ist – ganz anders, Sir. Ich brauche auch nicht mehr an der Kochstelle oder in einer Kombüse die Kessel auszulecken. Mir geht’s gut, Sir.“

Hasard nahm einen kleinen Schluck von dem Rum. Offensichtlich hatte Mac oder der Kutscher seinen Gesichtsausdruck falsch – oder richtig? – gedeutet und versucht, ihn aufzuheitern. Deswegen dieses wortlose „Geschenk“ seiner Küchenmeister.

„Sage dem Meisterkoch, daß ich mich herzlich bedanke, und so wollen wir’s auch in Zukunft halten. Geh zu Mister Carberry und laß dir ein paar Knoten beibringen, die du noch nicht kennst.“

Clint schenkte ihm ein breites, offenes Lächeln, salutierte und stob davon.

„Das war es, was ich mir immer schon gewünscht habe“, murmelte Hasard und hängte seine Nase in den guten Geruch des Rums, den er kannte, und der immer wieder eine feine Sache war. „Ein schwimmendes Waisenhaus für geschundene und auf die Planken gepreßte englische Kinder. Gott! Die Welt ist voller Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit und schwarzer Monsunwolken.“

Dan O’Flynn ließ den Moses an sich vorbei, stieg aufs Grätingsdeck und hieb, augenscheinlich auch guter Dinge, dem Rudergänger Higgy auf die Schulter.

„Deine Karten, Dan“, Hasard blieb gutgelaunt oder zumindest in ausgeglichener Stimmung. „Deine Karten sind auf dem letzten Stand? In London, wenn du einen guten Zeichner findest, kannst du damit steinreich werden.“

Dan nickte.

Die Küste, die südlich von der Mündung des Peryar lag, war von einer unübersehbaren Menge von Palmen und anderen, den Seewölfen wenig bekannten Bäumen bestanden. Nur zweimal, bei klarem Wetter, hatten sie die Berge sehen können. Sie waren mindestens fünfundzwanzig Seemeilen weit entfernt. Bis mittags hielt sich entlang dieses Küstenstreifens hartnäckig ein Nebel dicht über den Wellen.

Dan hatte es alles andere als leicht, wenn er versuchte, genaue Karten mit brauchbaren Angaben, Schilderungen und Maßen anzufertigen. Die Fischer gaben nur wenige richtige oder zuverlässige Schilderungen.

Die Schebecke segelte in gutem Abstand vom Land, so daß keineswegs jede einzelne Bucht und jedes vorgelagerte Inselchen verzeichnet werden konnte. Niemand sah, ob es ein fingerartig vorgekrümmtes Halbinselchen war oder eine Insel. Zusammen mit anderen, noch namenlose Bächen oder Flüßchen bildete der Peryar ein ausgedehntes, sehr flaches Innengewässer.

 

„Ich zeichne Karten, die schildern, was in unserem Kielwasser liegt, Sir“, sagte er und ballte alle Finger der rechten Hand.

„Willst du dich mit mir prügeln?“ erkundigte sich der Seewolf.

„Ich kriege sonst einen Krampf, Sir“, erwiderte Dan ernsthaft. „Vor uns liegt, abgesehen von tausend Buchten und zweitausend Untiefen, ein Kaff, das sich Alleppey nennt.“

„Wo?“ fragte der Seewolf.

„Voraus. Oder genauer: Backbord voraus. Aber der Nebel ist nicht sonderlich hilfreich beim Anfertigen einer genauen Karte.“

„Wahr gesprochen“, murmelte Hasard.

Der Unterschied zwischen Flut und Ebbe schien entlang diesem Küstenabschnitt gering zu sein. Zwei Fuß vielleicht, kaum mehr.

Hasard trank den nächsten Schluck und sagte: „Was kannst du mir über Alleppey sagen?“

Dan schielte begierig in die Muck in Hasards Fingern. „Nicht viel. Zwischen Ernakulam und diesem unbeschriebenen Ort liegen noch viele Stunden, Sir.“

Hasard blickte nach Steuerbord. Zwischen der Schebecke und der Kimm war das Meer ruhig und von den Sonnenstrahlen des späten Vormittags überglänzt. Drei Segel, der Form nach mittelgroße Dhau-Segel, sagten aus, daß die Schiffe nach Norden kreuzten, weit draußen, vor der bewegten Kulisse der Monsunwolken. Es war warm und sonnig, längst hatte die Hitze die letzten Spuren eines sehr kurzen Regengusses aus den Planken gesogen. Es gab so gut wie nichts zu tun. Die drei Segel standen straff und prall, die Schebecke segelte mit achterlichem Wind und lief gute Fahrt.

Hasard holte gerade Atem, um Dan zu erklären, daß er sich unter Deck verholen könne. Er hatte ohnehin Freiwache. Vermutlich konnte er wieder einmal schlecht einschlafen und sagte sich, es wäre vernünftiger, wenn er schon wach blieb, auch etwas für Logbuch und Karten zu tun und seine gesammelten Erfahrungen und das, was er aus nächster Nähe oder durch das Spektiv gesehen hatte, gleich aufzuzeichnen.

Von der Back her dröhnte Ed Carberry, laut, rauh und unüberhörbar: „Wahrschau! Steuerbord voraus Schlick und Schlamm in Sicht!“

„Einen Strich nach Steuerbord abfallen, Higgy“, sagte der Seewolf sofort. Und: „Verstanden, Ed!“

Zusammen mit Dan war er mit zwei Schritten an Backbord. Die Männer hielten sich am Schanzkleid des Achterdecks fest und schauten ins Wasser.

Knarrend, knarzend und stampfend änderte die Schebecke ihren südlichen Kurs. Carberrys Stimme hatte warnend, aber keineswegs aufgeregt geklungen.

„Es sieht nicht gefährlich aus“, sagte der Seewolf. „Dennoch, das Wasser ändert seine Farbe.“

Higgy stemmte sich gegen die Pinne. Die Segel wurden neu getrimmt. Die Schebecke schien mit dem Bug auf eine seltsam runde, graugelbe Wolke zu zielen, die sich über einer wirklichen oder eingebildeten Insel in den strahlend blauen Himmel erhob.

„Das ist nicht die erste verdammte Sandbank an dieser Küste“, sagte der Seewolf nach einigen Minuten. Die Schebecke entfernte sich langsam von dem langgezogenen Hindernis unter den Wellen.

Dan zuckte mit den Schultern und entgegnete: „Eigentlich sollten der Sand und der Schlick vom Wasser glattgespült werden, aber ich sehe schwarzen Schlamm und Pflanzenreste in dem Schlamm, halb eingegraben. Es ist sehr merkwürdig.“

Er hob den Kopf und blickte vom höchsten Punkt des Grätingsdecks nach Backbord voraus.

Etwa dort, wo ein Ausläufer der Schlammbank seewärts zu erkennen war, fing eine ruhige Wasserfläche an. Die Wellen, deren Höhe sich bis zur Kimm nicht änderte, wurden an dieser Stelle weicher und niedriger, und schließlich gingen sie in eine schmale Fläche über, die glatt war wie die Oberfläche eines kleinen Sees bei Windstille.

„Eines der tausend Wunder Indiens“, sagte Hasard. „Kannst du das erklären, Dan?“

„Nein“, erwiderte Dan O’Flynn und richtete seine Blicke wieder auf die Palmenstämme an Land. „Vielleicht finden wir es später heraus.“

Hasard blickte die glatte Fläche aus schmalen Augen an. Dann hob er die Hände an die Lippen und rief: „Ein Strich abfallen! Nach Steuerbord!“

„Aye, aye, Sir“, gab Mac O’Higgins augenblicklich zurück.

Das Heck der Schebecke schwenkte langsam nach Backbord, und binnen kurzer Zeit hatte sich der Abstand zwischen der Bordwand und dem trügerisch ruhigen Wasser abermals vergrößert.

Carberry wandte sich an Hasard. „Die Vorräte, Sir, sie sind auch nicht mehr, was sie schon mal waren, sagt der Koch. In den nächsten Stunden wird zwar keiner verdursten oder verhungern, aber wir sollten wirklich bald einen Markt besuchen.“ Er grinste. „Nach Möglichkeit einen Basar direkt am Ufer. Aber ich sehe weit und breit kein Haus, keinen Rauch, nichts.“

Dan sagte bekümmert: „Der nächste größere Ort, von dem ich weiß, heißt Tiruvanaantapuram. Entweder können wir dort reichlich Proviant übernehmen, oder auch dieses Kaff ist vom Schwarzen Tod überfallen worden. Wir wissen es nicht, bevor wir dort einlaufen.“

„Stimmt“, sagte Hasard. „Aber zuvor werden wir sehen, was sich hinter dem Namen Alleppey verbirgt.“

„Wahrscheinlich ein paar schwerbewaffnete Portus“, sagte der Profos. „Diese Affenärsche sind ja überall an dieser Küste.“

„Kein Wunder, wenn der Pfeffer, den sie hier billig kaufen oder tauschen, in Lisboa das Vierzigfache bringt. Das ist eine Handelsspanne, von der andere Kaufleute nicht mal träumen“, erklärte Dan O’Flynn. Er rechnete nach. „Alleppey erreichen wir frühestens morgen, gegen Mittag“, fügte er dann hinzu. „Es mag sein, daß es vor dem Hafen oder der Bucht ein paar Fischerdörfer gibt.“

„Wenn sie nicht zu winzig sind, sehen wir sie“, erwiderte der Seewolf.

„Aber nur dann, wenn wir näher herangehen.“

Carberry deutete nach Backbord. „Und genau dort breitet sich diese sandige Untiefe mitsamt dem stillen Wasser aus. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich behaupten, daß jemand Öl aufs Wasser geschüttet hat.“

„Soviel Öl gibt’s in ganz Indien nicht“, sagte Dan und war genau einer Meinung mit dem Profos.

Der Kurs konnte beibehalten werden. Die Schebecke segelte mit raumem Wind nach Südost zu Süd. Die Segelwache stand am Schanzkleid und blickte zum Land hinüber. Die Segel der Dhaus waren längst hinter der Kimm verschwunden. Feuchte Hitze, vom Wind nur wenig gemildert, lag über dem einsamen Schiff und dem Küstenstreifen am südlichen Ende der riesigen Masse Land.

Dan und Hasard hatten ihre Spektive ausgezogen, setzten sie immer wieder an die Augen und suchten das Ufer nach den Zeichen ab, die auf das Vorhandensein eines Dorfes schließen ließen. Ein winziges Fischerdorf mit drei Hütten nutzte den Arwenacks nichts, denn dort gab es höchstens Fisch und ein paar Kokosnüsse.

Dan spielte einige Atemzüge lang mit dem Gedanken, in den faßähnlichen Ausguck im Großmast aufzuentern, aber dann sagte er sich, daß er von dort oben auch nichts anderes und vor allem nicht mehr sehen würde als hier vom Grätingsdeck aus. Er senkte den Kieker und wischte sich den Schweiß von der Stirn und aus den Augenwinkeln.

„Nichts zu sehen“, murmelte er. „Unsere Köche werden ihre Phantasie anstrengen müssen.“

Er setzte sich, nachdem er den Kieker zusammengeschoben und in der Tasche verstaut hatte, auf die oberste Stufe des achterlichen Niederganges und wartete. Seine Überlegungen beschäftigen sich mit der ölig wirkenden Wasserfläche, die von Deck aus wie ein Oval mit vielen verschlungenen Ausläufern aussah und deren Größe und Ausdehnung für ihn ein Rätsel darstellten.

Er konnte vorläufig diese fremdartige Erscheinung nicht verstehen. Und als er schon glaubte, die Lösung zu haben, schreckte ihn der Ruf auf, den Sam Roskill auf der Back ausstieß.

„Boot voraus! Fischerboot. Hält genau auf uns zu!“

2.

Seit vor fast neun Jahrzehnten Afonso de Albuquerque an dieser Küste aufgetaucht war, erschienen immer wieder portugiesische Karavellen und Galeonen an Indiens Küste und vor den Inseln.

Sie kamen aus dem „Sonnenuntergangsland“, das die Araber einst „Al-Gharb“ genannt hatten. Goa war erobert worden, und man sprach davon, daß Albuquerque alle männlichen Einwohner dieses Ortes hätte töten lassen. Dann sollte er seinen Männern befohlen haben, alle Witwen einzufangen und zu schwängern, damit sie mitten im fernen Indien viele Kinder zur Welt brächten, die den richtigen Glauben hatten.

Solches Garn wurde in den Hafenschenken vieler Länder gesponnen, ob es überhaupt stimmte oder nur die üblichen Übertreibungen enthielt, war auch heute nicht mehr wichtig. Jedenfalls war stets damit zu rechnen, daß auch an Indiens südlichsten Küsten portugiesische und spanische Schiffe segelten, denn Spanien herrschte seit 1580 über seinen westlichen Nachbarn.

Aber Sam Roskill hatte keine spanische Karavelle gesehen, sondern ein schmales Boot, das in den Wellen tanzte. Die Leinwand des kleinen, dreieckigen Segels killte. Vom Bug der Schebecke aus sah man, wie das Tauwerk übers Deck peitschte.

Hasard hatte den Ruf gehört und verstanden. Er sprang auf, lief am Steuerbordschanzkleid entlang, zog sich auf die Back hoch und richtete den Kieker auf das Boot. Es war etwa eine Meile weit entfernt, und eine starke Strömung nach Westen bewirkte, zusammen mit dem Wind, daß das Boot etwa den gleichen Kurs fuhr wie die Schebecke.

Hasard sah durchs Spektiv, daß das Boot offensichtlich leer war. Über dem Dollbord regte sich nichts, abgesehen vom schlagenden Tauwerk. Leere Körbe und ein paar Dreizacke bewiesen, daß es sich um das Boot von Fischern handelte.

„Wir halten darauf zu“, entschied er. „Möglicherweise hat sich das Boot losgerissen. An Bord ist kein Fischer zu sehen.“

„Verstanden.“

Der schlanke Rumpf der Schebecke hob und senkte sich, während er mit zischender Bugwelle durch das Wasser schnitt. Der Vordersteven zeigte genau auf den kurzen Mast des Bootes, der wild hin und her schwankte.

Das Fischerboot tanzte Backbord voraus durchs Wasser. Es trieb auf einen Punkt zu, den die Schebecke in weniger als einer halben Stunde längst erreicht haben würde. Höchstwahrscheinlich brauchten die Seewölfe nur kurz in den Wind zu drehen, dann lag das Bötchen längsseits.

„Abgesehen davon, daß wir kein zweites Beiboot brauchen“, rief Ben Brighton von der Kuhl zu Hasard hinauf, „was ist an dem Kahn so wichtig?“

„Zumindest können uns die Fischer dort ein paar Fragen beantworten!“ rief Hasard zurück. „Nach einer Proviantquelle, zum Beispiel.“

„Falls sie aufhören, zwischen den Duchten zu pennen“, sagte Sam Roskill. „Die haben wirklich einen beneidenswerten Schlaf, die Kerle.“

„Wir wecken sie schon auf, keine Sorge!“ Hasard lachte und schätzte die Entfernung, den Kurs und die Geschwindigkeit ab. Die Schebecke brauchte ihren Kurs nicht zu ändern.

„Faule Fischer“, brummelte er und gab Sam den Kieker. „In ein paar Minuten rammen sie uns womöglich noch.“

Sie lachten. Ben Brighton und Dan O’Flynn stiegen auf die Back und lehnten sich übers Schanzkleid. Der Profos ließ einen Bootshaken, einen Wurfanker und dünne Leinen an Deck schaffen.

„Und daß du mir das Bötchen nicht rammst, Higgy!“ rief Carberry und drohte, halb scherzhaft, dem Rudergänger mit der Faust.

„Wenn du die Kommandos gibst, dann versenke ich sogar unsere Schebecke“, antwortete Higgy ungerührt.

Carberry lachte.

Der Fischerkahn driftete schwankend von Backbord heran. Die Schebecke glitt in voller Fahrt auf den Bug zu, drehte in einem harten Manöver in den Wind und legte weit über.

Als Carberry den Wurfanker warf, fluchte er und rief: „Die Kerle rühren sich nicht, diese Penner! Braunhäutige Rübenschweine, wacht gefälligst auf!“

Die Haken bohrten sich tief in morsches, salzüberkrustetes Holz und saßen. Als die Leine sich straffte und Sam Roskill mit dem Bootshaken nach dem Dollbord angelte, sahen die Männer, daß zwischen den Duchten, halb in fauligem Wasser, drei bewegungslose Körper lagen. Zwei waren zusammengekrümmt, der dritte lag neben der Pinne und hatte ein Ende um das Handgelenk geknotet, dessen anderes Ende um die Pinne gewickelt war.

Mit ein paar raschen, entschlossenen Griffen hatten Carberry, Roskill und zwei Mann der Segelwache das Boot an Steuerbord längsseits gezogen und belegten die Enden der Leinen.

„Mann! Die schlafen nicht!“ dröhnte die Stimme des Profosen übers Deck.

 

Alle Mann beugten sich über das Schanzkleid und starrten in das Fischerboot hinunter.

Die Schebecke schwang wieder herum. Das Geräusch der killenden Segel, deren Schoten durchgesetzt wurden, übertönte die verwunderten Ausrufe.

Hasard stieß den Ersten an und sagte: „Tot. Alle drei Mann. Sie liegen schon lange im Bilgewasser.“

Die Körper der Fischer waren aufgeschwemmt. Ein schrecklicher Gestank stieg den Arwenacks in die Nasen. Zwischen kleinen Fischen, Angelzeug und Netzen lagen die beulenübersäten Körper von drei Pesttoten.

„Verdammt!“ sagte Dan O’Flynn schaudernd. „Das heißt, daß auch dort drüben an Land, vor Alleppey, die Seuche herrscht.“

„Etwa drei Tage sind sie tot“, sagte der Kutscher halblaut und hielt sich die Nase zu. „Der Mann an der Pinne scheint zuletzt gestorben zu sein.“

Die Toten hatten die Gesichter in den Armen verborgen und offenbar noch versucht, sich gegen das Sonnenlicht mit Turbanen oder langen Tüchern zu schützen. Der Stoff lag aufgeweicht in der Brühe, die zwischen den Duchten schwappte. Die Wellen bewegten das Boot, und die Körper kippten langsam von einer Seite zur anderen.

„Wir können den Braunhäutigen nicht mehr helfen“, sagte Hasard, wandte sich ab und blickte in die Augen Ben Brightons. „Der Schwarze Tod ist unbarmherzig.“

Ben nickte und gab Sam Roskill ein Zeichen.

„Die armen Kerle“, sagte er. „Ich glaube, es wird am besten sein, sie auf See zu lassen.“

Sam löste den Haken und tauchte die Stange mit ihrem Ende lange ins Meerwasser.

„Sieh zu“, sagte der Erste zum Profos, „daß du das Eisen aus der Bordwand herauskriegst. Loslassen und treiben lassen, Freunde.“

„Aye, Sir.“

Carberry wickelte die Leinen um seine Pranken und riß daran. Beim dritten scharfen Ruck splitterte das Holz, und der Profos holte den Wurfanker ein. Einen Atemzug lang scharrte und knirschte das Holz des Bootes an den Planken der Schebecke, dann schwankte das Fischerboot ins Kielwasser und blieb zurück.

Der Seewolf drehte sich zu den Umstehenden herum und sagte deutlich: „Mit dem Proviantbunkern werden wir wohl noch eine Weile warten müssen. Die Strömung setzt von Osten, irgendwo dort an Land haben auch die Fischer gelebt. Wenn wir die drei Leichen nicht gefunden hätten, würde ich die Fahrt über die Sandbänke riskiert haben. Versuchen wir’s weiter südlich, Ben.“

„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Erste. „Wo Feuer brennen, gibt’s Rauch, und nur Gesunde unterhalten ein Feuer. Danach sollten wir uns richten. Und am Abend kochen und braten sie immer.“

„Hoffentlich hast du recht“, meinte Hasard. „Vielleicht ist Alleppey selbst ohne Pest. Vielleicht. Wir werden sehen. Einen Strich zurück nach Backbord, klar?“

„Klar, Sir.“

Der Rudergänger drehte sich mindestens ein dutzendmal um und blickte dem treibenden Fischerboot nach, bis es nur noch ein winziger Punkt in den Wellen war. Auch Higgy kannte kein anderes Gefühl als Furcht, wenn er an den Schwarzen Tod dachte. Ein winziger Atemhauch genügte, diese tödliche Krankheit zu übertragen. Man war angesteckt und so gut wie tot, und man merkte es selbst nicht mal. Er schüttelte sich und packte die Pinne, als könne ihn der Griff um das vertraute glatte Holz vor allem schützen.

Nach dem Glasen und dem Wachwechsel änderte sich nur der Stand der Sonne. Der Wind wehte mit gleichbleibender Stärke, die Wellen schlugen an die Planken, die Küste blieb niedrig und war von sattem Grün bedeckt, und jetzt, am Nachmittag, konnte man ab und zu auch die höheren Berge im Landesinneren erkennen. An Backbord rückte die wellenlose, schimmernde Wasserfläche einmal näher, dann entfernte sie sich wieder, und die Farbe des Wassers wechselte langsam.

Dan O’Flynn hatte sich nicht in seine Koje verholt. Er saß auf dem Grätingsdeck und versuchte, an Land Einzelheiten zu entdecken, die brauchbare Hinweise für die Karten geben konnten. Er rechnete keineswegs mit auffallenden Veränderungen oder markanten Landmarken, aber vielleicht fanden seine unruhigen Augen etwas Besonderes.

„Hab ich mir’s gedacht“, murmelte er, legte die Hand über die Augen und zwinkerte.

Dann stand er auf, griff nach dem Schanzkleid und holte den Kieker heraus. Er sagte zu Jan Ranse, der den Rudergänger abgelöst hatte: „Vorhin haben wir von Feuern und Rauch gesprochen. Jetzt haben wir eine ziemlich dicke Rauchfahne.“

„Voraus?“ fragte Jan.

Dan grinste und erwiderte: „Klar. Sogar an Land. Und vermutlich auch ein Feuer, Jan. Wo sonst?“

„Wenn ich deine Adleraugen hätte, könnte ich den Rauch auch sehen“, verteidigte sich der Niederländer. „Man wird ja noch fragen dürfen, nicht wahr?“

„Man wird. Sieh selbst“, sagte Dan, packte die Pinne und gab Jan das Spektiv. Drei, vier Atemzüge lang starrte Jan durch die Linsen, dann nickte er zufrieden.

„Richtig gesehen, Mister Adlerauge“, bestätigte er. „Muß ein starkes Feuer sein. Wahrscheinlich braten sie einen Elefanten am Spieß.“

„Oder einen Walfisch.“

Langsam klärte sich das Bild und wurde deutlicher. Aber allzu viele Einzelheiten waren jenseits der unendlich vielen Sonnenspiegelungen in den Wellen nicht zu erkennen.

Dan sah eine kleine Bucht, deren Ufer von den Mangrovenstelzwurzeln unsichtbar abgedeckt wurden, die grüne Wand von Wald oder Dschungel, die zwischen den Mangrovenbarrieren aufwuchs, und in der Mitte der Bucht die Quelle einer Rauchsäule, die schräg nach Süden abtrieb. Die Wellen zwischen dem Schiff und dem Land waren ohne die Unterbrechung einer weiteren rätselhaft glatten Meeresfläche. Ein Vogelschwarm flatterte, in der Sonne blitzend und leuchtend, nördlich der Rauchsäule.

In der Höhe zerfaserte der Wind den Rauch. In Bodennähe blieb er, bis er über die Baumwipfel aufgestiegen war, dicht und schwarzgrau. Dan vermeinte, den beißenden Geruch schon jetzt in der Nase zu haben, aber er wußte, daß dies nur Einbildung war. Als er durch den Kieker genau erkennen konnte, daß die Rauchsäule unterbrochen war und in einzelnen Abschnitten aufstieg, erinnerte er sich an die Signalfeuer der Eingeborenen in Amerika.

Er sagte zu Jan Ranse: „Ich wecke Ben. Hasard lassen wir schlafen, denke ich. Glaubst du, daß wir von Land aus fast gegen die Sonne zu sehen sind?“

Jan schüttelte den Kopf.

„Ohne Kieker? Kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht in drei Stunden. Aber jetzt nicht.“

„Ausnahmsweise bin ich deiner Meinung“, sagte Dan und ging zum Niedergang. Er sah, daß Paddy Rogers und Jack Finnegan ebenfalls auf den Rauch aufmerksam geworden waren.

„Ihr habt richtig gesehen!“ rief er ihnen zu, ehe er unter Deck verschwand. „Es brennt!“

Er ging an Mac Pellew und dem Kutscher vorbei, die an ihrer Kochstelle arbeiteten. Sie versuchten, wie Mac jedem, der es hören wollte, mehrmals erzählt hatte, aus dem eintönigen Vorrat an Lebensmitteln mit Hilfe indischer Gewürze etwas Schmackhaftes herzustellen. Und das sei, fügte der Kutscher mit grimmiger Miene hinzu, alles andere als einfach und erfordere wahre Kunst. Dan hütete sich, mit einer dummen Bemerkung die Laune der beiden zu verschlechtern. Unter Deck rüttelte er den Ersten vorsichtig an der Schulter.

„An Deck wird eine Entscheidung von großer Bedeutung verlangt, Ben“, sagte er. „Eine Rauchsäule – und vielleicht ein Signal. Wahrscheinlich nicht mal für uns. Aber ein unübersehbares Zeichen, daß an Land eine Menge Eingeborene sein müssen und Holz heranschleppen.“

„Also wahrscheinlich keine Pestkranken“, brummelte der Erste, stieg in die Hosen und turnte barfüßig hinter Dan her.

Auf der Kuhl zog er das Spektiv auseinander. Dan konnte fühlen, daß die Seewölfe hinter ihm unruhig zu werden begannen.

Schließlich hatte Ben genug gesehen und, wahrscheinlich, etwas mehr als Dan, denn das Schiff hatte sich der Bucht weiter genähert.

„Also“, fing er an, „ob es ein Signal ist und uns gilt, weiß niemand.“

„Ich glaube nicht, Ben, daß die uns meinen. Vielleicht rufen sie überhaupt ein Schiff zur Hilfe.“

„Oder sie locken es an“, sagte Don Juan de Alcazar, der sich leise genähert hatte.

„Klar. Auch das ist möglich“, sagte der Erste. „Wir sollten zunächst so nahe wie möglich herangehen. Wir brauchen nicht mal“, er hob den Kopf und warf einen Blick in die straff gespannten Segel, „zu kreuzen. Und dann sehen wir schon, was los ist.“

„Einverstanden, Ben.“ Dan und Don Juan nickten gleichzeitig. „Und bevor wir mit den Braunhäutigen sprechen, wird der Kapitän geweckt. Klar?“

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