Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 666»

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© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-080-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Sean Beaufort

Gefecht vor Bombay

Das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen

Seit einer Stunde beobachtete Daga die beiden fremden Kapitäne. Sie saßen sich gegenüber. Auf dem Tisch zwischen ihnen standen Näpfe, Schalen und Becher. Daga verstand kaum ein Wort von dem, was sie sprachen, aber er sah, daß sie sich einig waren – der große Dunkelhaarige mit den farblosen Fischaugen und der Kleine mit dem grauen Haar und den abgehackten Bewegungen.

Er erkannte, daß die beiden Kapitäne über einen dritten Mann sprachen. Er täuschte sich nicht. Sie hatten beschlossen, diesen Mann zu töten. Jetzt drehte der Kleine den schmalen Kopf, zeigte im Licht der blakenden Ölfunzel sein verkniffenes Gesicht und sagte in der Sprache der Portugiesen: „Bring uns was zu trinken, was Scharfes!“

Daga verbeugte sich. Er würde ihnen Quirra bringen, das gefiel ihnen sicher …

Die Hauptpersonen des Romans:

César Garcia – hat auf die Stunde der Rache gewartet, und nun ist es soweit, nur anders, als er sich das vorgestellt hat.

Francis Ruthland – beschließt sein fluchwürdiges Leben, indem er mit des Seilers Tochter Hochzeit feiert.

Al Conroy – hat als Stückmeister der Arwenacks alle Hände voll zu tun, um dem Gegner einzuheizen.

Philip Hasard Killigrew – hat mit einem Mastbruch fertig zu werden und mit einem Gegner, der ihm den Tod geschworen hat.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Die Spelunke war nur drei Dutzend Schritte von den Piers entfernt. Zwischen den Schiffen und den Häusern spazierten Eingeborene und Fremde. Zwei Büffel zogen einen hochbeladenen Wagen vorbei. Die Räder knarrten und kreischten über die Steine.

Es roch nach allerlei verschiedenen Dingen, aber das Hafenwasser stank erfolgreich gegen alles an. In der Kochstelle der Schenke, nicht viel größer als sieben Ellen im Quadrat, flackerten Flammen, stiegen Dampfwolken in die Höhe und drangen Gerüche, die das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.

„He, Mann! Wo bleibt das Zeug?“ rief der breitschultrige Mann, der vornübergebeugt auf der Bank saß, die Ellbogen auf den Tisch stützte und auf den kleineren Seefahrer hinunterstarrte. „Deinen Fraß kann man nur mit einem scharfen Schnaps vertragen.“

„Komme, Herr!“ rief der dunkelhäutige Schankwirt und griff nach dem Krug.

„Wird auch Zeit“, sagte der mit den dunklen Haaren, die im Licht der aufgehängten Lampen schwarz wirkten. Scharf hob sich die Narbe unter dem linken Auge ab, das von Zeit zu Zeit zuckte, als habe man eine Nadel hineingesteckt.

„Noch vier, fünf Stunden“, meinte der Kapitän mit dem grauen Haar. „Ob wir uns nicht besser in die Kojen verholen, Francis?“

Ruthland zuckte mit den Schultern.

Der Wirt schlängelte sich zwischen den wenigen Tischen hindurch, an denen ausnahmslos Eingeborene saßen. Drüben auf der „Ghost“ brannte hell die Hecklaterne. Der Wirt stellte die dickwandigen Schalen vor die beiden Gäste und stapelte die leeren Eßgefäße ineinander.

„Noch Wunsch, Herr?“ fragte er. Ein breites Grinsen ließ zwei Reihen weißer Zähne aufblitzen.

„Nachspeise gibt’s bei dir wohl auch nicht, wie?“ sagte der Kleine, dessen Kleidung weitaus sauberer war als die seines Gegenübers.

„Gleich bringen, Herr.“

Wieder verbeugte sich Daga und buckelte rückwärtsgehend davon. Er rammte mit der Hüfte einen Tisch und schreckte einen Mann mit dünnem, weißem Kinnbart auf, der den Löffel fallen ließ und sich mit feuerroter heißer Soße bespritzte.

Der alte Mann schickte Daga einen gezischten Fluch hinterher. Daga kümmerte sich nicht darum und stritt sich mit dem mageren Koch wegen der Nachspeise, dem letzten Gericht, das zum Essen der beiden Fremden gehörte. Schließlich, nach einem wütenden Wortschwall, nickte er. Der Koch hatte seine Arbeit an den großen Pfannen und Kesseln nicht für einen Augenblick unterbrochen.

Francis Ruthland hob die Schale und schnupperte an deren Inhalt. Das Getränk schien ölig zu sein und roch nach Beeren, Ingwer und anderen Gewürzen, die er nicht deuten konnte.

„Wenn’s so schmeckt, wie es riecht …“, sagte er. Über den Rand der Schale hinweg musterte er César Garcia. „Wir sind uns einig, Capitán?“

„Selbstverständlich, mein Lieber“, erwiderte der Kommandant der „Aguila“ und griff ebenfalls nach dem Quirra.

„Was ist das eigentlich für ein Fusel?“ fragte Ruthland und nahm einen ersten Schluck. Er war vorsichtig. In diesen fremden Häfen wußte man in der Regel nicht, ob sie toten Hund brieten, oder was sie alles in ihre Schnäpse mischten. Allerdings war er sicher, daß der Wirt sie nicht vergiften wollte. Sie hatten nämlich noch nicht bezahlt.

„Keine Ahnung“, erwiderte Garcia und trank ebenfalls. „Wenn ich ihn richtig verstanden habe, bezieht er den Stoff aus einem kleinen Dorf in der Nähe. Quirra. Auch noch nie gehört.“

Der Inhalt der Schalen, ölig und dick wie schwerer Wein, schmeckte nach Beeren. Er floß leicht über die Lippen und erzeugte auf der Zunge ein Prickeln.

Ruthland holte Atem und sagte: „Leicht wird es nicht sein, César. Wir haben den verdammten Monsun gegen uns.“

Garcia nickte und stellte die Schale ab. Mit dem Löffel schabte er in einem Napf und vermischte die letzten Fleischbrocken mit Reis und der roten Soße. Schweigend leerte er die Schale und stellte sie an den Tischrand.

Zwei Frauen, den Gesichtsschleier bis unter die Augen hochgezogen, blieben stehen und blickten kichernd auf die beiden Fremden. An den Ohren der Frauen klirrten schwere Ringe.

„Denselben Monsun hat auch Killigrew gegen sich. Es wird sich zeigen, wer der bessere Seemann ist“, sagte Capitán Garcia.

„Bestimmt nicht der Seewolf“, sagte Ruthland.

Die Proviantübernahme und das Herbeischaffen frischen Wassers hatte bis in die Nachtstunden gedauert. Jetzt war es sinnlos, auszulaufen. Die Flut stand gegen das Land, und das Fahrwasser in Hafennähe war alles andere als frei. Beim ersten Schimmer der Morgendämmerung, so lauteten Ruthlands Befehle, sollte die „Ghost“ auslaufen und sie würden jeden Fetzen aufziehen, den sie an Bord hatten.

„Hier braucht sich die Schebecke nicht mehr sehen zu lassen. Der Pfeil hat alles geändert.“

Garcia rieb sich die knochigen Hände. Die Fingernägel waren kurz geschnitten und, wie Ruthland fand, übertrieben sauber. Der Spanier nickte, hob den Kopf und starrte Ruthland in die Augen. Wieder erkannte der Engländer, daß der Capitán einen unbeugsamen Willen hatte und mit Stärke, Ausdauer und erstklassiger Führung aufholen wollte, was ihm die Natur versagt hatte. Ein Zwerg mit dem klaren Verstand zweier ausgewachsener Männer.

„Richtig, der beste Schachzug“, sagte Francis Ruthland. „Ihnen ist nur die Flucht geblieben. Wird diesem verdammten Seewolf gar nicht geschmeckt haben, den Schwanz einziehen zu müssen.“

„Auch Ihnen wäre es nicht anders ergangen, Capitán“, sagte Garcia.

Er schaute hinaus in den Hafen. Am anderen Ende dieses verwahrlosten Landeplatzes entluden Eingeborene einen Lastensegler. Sie bildeten, die Säcke und Ballen auf den gekrümmten Rücken, eine lange Reihe, die irgendwo im dunklen Hintergrund in einem Lagerhaus verschwand.

Das Wasser plätscherte in kleinen Wellen gegen die verdreckten Quader einer Kaiecke. Die Flut drückte das schwarze, stinkende Wasser, in dem kleine Kadaver schwammen, in den Hafen zurück.

Irgendwo dort draußen, gegen den Monsun ankreuzend, kämpfte sich die Schebecke durch die Nacht, dachte Garcia.

Der Wirt brachte eine Schüssel und zwei frischgewaschene Schalen. Von ihrem Boden tropfte noch das Wasser.

„Gut Früchte, Herren“, sagte der Wirt.

Obwohl er freundlich grinste, sah er aus, als plane er eine Teufelei, fand Ruthland. Garcia schob den Cutlass um eine Handbreite weiter nach rechts.

„Schon gut. Stell’s hierher“, sagte Ruthland.

Die Menschenmenge, die noch vor einer halben Stunde hier zu sehen gewesen war, schien bis auf wenige Eingeborene verschwunden zu sein. Eine Wache marschierte von rechts heran. Leise unterhielten sich die Männer des Padischah miteinander und warfen wachsame Blicke nach allen Seiten.

Rasselnd rollte ein Vorhang aus Bambusrohr nach unten und verschloß einen der vielen Läden in den schmalbrüstigen Häusern. Irgendwo jaulte ein Hund, als habe ihn ein Stiefeltritt in die Rippen getroffen.

Der Wirt, der um den Hals eine Kette aus Holzperlen, Muscheln und goldschimmernden kleineren Vierecken trug, räumte das Tischchen bis auf die Quirra-Schalen und den Nachtisch ab, wischte mit einem feuchten Lappen über das rissige Holz und drehte sich um, als ihn ein anderer Gast rief.

Der junge Mann warf ein paar Münzen in eine leere Schale, stand auf und ging, nicht ohne vorher die beiden Männer schweigend und grimmig zu mustern. Als er an Ruthland vorbeiging, hob der Engländer sein Bein und streckte es in Richtung auf das Heck der „Ghost“ aus. Der Inder stolperte und fing sich gerade noch an einem Holzpfosten des Vordachs ab.

Ruthland tat, als habe er nichts bemerkt. Er packte den Holzlöffel und häufte sich das Gemisch aus Feigen, Nüssen, Granatäpfeln und anderen Früchten, die in Sahne und Honig schwammen, in die Schale.

„Der Kerl sieht aus wie der Knecht Satans“, knurrte er, während er die zerstückelten Früchte löffelte, „aber kochen kann er gut, das muß man ihm lassen.“

Inzwischen überdeckte der Geruch, der aus den Quirra-Schalen aufstieg, alles andere. Der Kai leerte sich. Ein kurzer, dünner Regenguß pladderte vom Himmel und ließ die Steine glänzen.

„Hm“, sagte Garcia undeutlich. „Für viele Tage das letzte Essen an Land.“

„Mein Koch tut, was er kann“, antwortete Ruthland. „Und David Lean, der Stückmeister, wird ebenfalls zeigen, was er wert ist.“

Während sie aßen, hörte der Regen auf. Die Fackeln am anderen Ende des Kais wurden gelöscht. Knarrend rieben sich die Taue an den hölzernen Pollern. Zwischen den Nachtwolken funkelten die ersten Sterne. An anderen Stellen des Hafens mochte noch mehr Betrieb herrschen, hier schien sich alles zur Ruhe zu begeben.

Garcia gähnte, nachdem er seinen Napf geleert hatte. Er fingerte in seinem Gurt nach den Münzen.

„Darauf trinken wir, Francis“, sagte er. „Und dann – ankerauf, hinter Hasard Killigrew her.“

Die Früchte waren aufgegessen. Die Kapitäne hoben die Schalen und gossen sich das stark riechende Getränk in die Kehlen. Jetzt schmeckte das Zeug nicht mehr nach Beeren, sondern gleichzeitig nach allen scharfen Gewürzen Indiens. Die Zunge brannte, die Männer rangen nach Luft. Der Schlund schien sich in etwas Glühendes zu verwandeln. Im Bauch breitete sich Hitze aus.

Daga, der Wirt, der neben seinem Koch stand und Geld zählte, drehte den Kopf weg und grinste in sich hinein, nachdem er die Gesichter der Fremden gesehen hatte.

„Madre de dios“, ächzte Garcia und holte stöhnend Luft. „Das ist ein höllischer Schnaps.“

Seine Augen schienen hervorzutreten. Er setzte die leere Schale ab und lehnte sich zurück. Er hatte das Gefühl, in wenigen Minuten auseinanderzuplatzen.

„Paßt zu unserem Vorhaben“, sagte Ruthland, als er wieder sprechen konnte. Seine Lippen waren eiskalt geworden, aber er schüttelte sich nicht mal. „Ein gutes Zeichen.“

Das Getränk war weitaus weniger stark als guter Rum. Aber die geheimnisvollen Zutaten und die Gewürze darin schienen den letzten Rest von Müdigkeit und dunklen Gedanken fortzubrennen. Die Männer standen auf und sahen, daß außer ihnen niemand mehr unter dem Vordach saß. Alle anderen waren gegangen, ohne daß sie es gemerkt hatten. Der Wirt erschien und verbeugte sich noch tiefer als sonst.

„Geschmeckt, Herr?“ fragte er.

Ruthland und Garcia nickten. Der Spanier fragte: „Wieviel?“

Daga hob beide Hände und fing an den Fingern zu zählen an. Dann nannte er einen Betrag, der auch in Rupien nicht hoch war.

Garcia sagte: „Es ist mir eine Ehre, mein lieber Ruthland, Sie eingeladen zu haben. Ich habe schließlich die Gastfreundschaft an Bord Ihrer ‚Ghost‘ lange genug in Anspruch genommen. Ich zahle unser Essen.“

Ruthland lachte und winkte ab. „Schon gut, Capitán. Mir gereicht’s auch zur Ehre, einen Mann an Bord zu haben, der über Killigrew das gleiche denkt wie ich.“

Garcia zählte die Münzen langsam in die Hand des Wirtes, während sich Ruthland unter dem Dach bückte und einige Schritte auf das Schiff zuging. Quelch, der Wache ging, eilte über Deck und wartete neben der Laufplanke.

Daga wartete, dann schloß er die Hand und sagte: „Dank, Herr. Bald wieder bei mir gut essen, ja?“

„Besonders gut trinken, du Schurke“, erwiderte Garcia in seinem Dialekt. „Quirra gut gegen alle Krankheiten.“

Daga sah den Männern nach. Sie gingen bis zum Rand des Kais und ohne zu schwanken über die Laufplanke. Als sie im Halbdunkel hinter dem Schanzkleid verschwunden waren, hörte das unterwürfige Lächeln Dagas auf. Er fühlte, wie seine Finger, die sich um die Münzen geschlossen hatten, zitterten.

Wie eine schwarze Kobra kroch Kälte an seinem Rücken hinauf und packte ihn im Genick. Sein braunes Gesicht wurde zu einer schwarzen Maske. Er war nicht abergläubisch. Und auch vor den meisten Dämonen hatte er keine Angst. Aber diese beiden Fremden hatten ihn gelehrt, daß das böse Schicksal in vielen Masken auftreten konnte.

Er steckte die Münzen ein, stapelte das leere Geschirr ineinander und war froh, daß er mit dem Koch allein war. Er zog an der Schnur, die die Bambusrolle zusammenhielt. Der dünne Vorhang sperrte das Innere der Schenke gegen den Anblick des fremden Schiffes ab.

Daga hockte sich neben Amuu, den Koch, auf ein leeres Faß.

Amuu wischte die ölglänzende flache Pfanne aus und fragte: „Soll ich dir einen Chapatti füllen, Daga? Du siehst aus, als wolltest du bald deine Kinder um dein Totenbett versammeln.“

Daga schüttelte den Kopf, wechselte mit Amuu einen langen, verständnisvollen Blick und antwortete leise: „Jetzt werde ich Quirra trinken, bis du mich auf den Schultern nach Hause tragen mußt.“

Er goß eine Schale voll, trank mit kleinen Schlucken und fühlte sich, als der Napf leer war, nur ein klein wenig besser. Vielleicht vertrieb der Schlaf die Gedanken an die Dämonen mit zwei Beinen, die in ledernen Stiefeln steckten.

2.

Philip Hasard Killigrew schlief sehr unruhig. Wilde Bilder geisterten durch seine Träume. Die Schebecke befand sich auf Südkurs und mußte fast seit dem Anfang ihrer beschämenden Flucht gegen Wind und Regenschauer kreuzen.

Durch die vielen, vertrauten Geräusche der Wellen, des Windes und des Schiffes hindurch hörte Hasard das Glasen. Wie oft die Schiffsglocke angeschlagen wurde, das drang nicht bis zu ihm durch. Er warf sich in seiner Koje hin und her und versank wieder in der Tiefe eines anderen Traumes.

Es war achtmal geglast worden. Die Hundewache war zu Ende. Ben Brighton stand hinter dem Rudergänger auf dem Grätingsdeck und versuchte, an der Kimm hinter dem Kielwasser irgend etwas zu erkennen.

Er war sicher, daß die „Ghost“ keine Lichter gesetzt hatte, und er war wie jeder an Bord auch davon überzeugt, daß Ruthland und Garcia hinter ihnen her waren. Vor einer kleinen Armada hatten die Seewölfe fliehen müssen. Wenn nur die „Ghost“ sie jetzt nach Süden verfolgte, brauchten sie sich nicht einen Atemzug lang zu fürchten.

Mac O’Higgins drehte sich um und blinzelte, als ihn das Licht der Hecklaterne traf.

„Kannst du den Hundesohn sehen, Ben?“

Der Erste ließ das Spektiv sinken und schob es langsam zusammen. Er schüttelte den Kopf und federte die nächste Bewegung des Hecks ab.

Halblaut gab er zur Antwort: „Nichts zu sehen. Ich habe es auch nicht erwartet. Aber ich bin sicher, daß er uns verfolgt. Ich spüre es, als stehe er hinter mir und bohre mir den Dolch in den Rücken.“

„Mir geht’s genauso“, gestand Higgy. „Er gibt nicht eher auf, bis er bei den Fischern ist.“

„Soviel, Haß ist mir unverständlich“, sagte Ben, und das war die Meinung aller Seewölfe. „Aber das ganze Gerede über Ruthland ist überflüssig. Entweder wir oder er. So sieht’s aus, Higgy.“

„Du sprichst mir aus der Seele, Ben“, erwiderte der Rudergänger.

Im östlichen Teil des Arabischen Meeres beherrschte der Monsun die See und das Land. Aus Südwesten schleppte der Wind gewaltige Mengen von Regenwolken heran. Trotz aller abenteuerlicher Wirbel und kurzer Windstillen war Südwestwind vorherrschend.

Dieser Zustand würde sich die nächsten Monate nicht ändern. Für die „Ghost“ herrschten dieselben Bedingungen wie für die Schebecke der Seewölfe. Nur Zufälle würden etwas an dem Vorsprung ändern. Die besseren Seeleute gab es hier, nicht auf der Karavelle des Engländers.

Nach einer Weile sagte Higgy: „In zwei Stunden ist es hell. Dann wissen wir, woran wir sind.“

„Dann sehen wir auch die ‚Ghost‘ – und Ruthland sieht uns genauso deutlich“, erwiderte Ben. „Dann geht’s los.“

„Du sagst es.“

Hin und wieder rissen die nächtlichen Wolken auf. Sterne schimmerten durch die Lücken der schwarzen Decke. Einzelne Regengüsse erreichten die Schebecke oder gingen über See nieder. Die Segelwache hockte auf den Stufen der Niedergänge und hatte die Segeltuchjacken hochgezogen.

Die Schebecke krängte nach Backbord, hob und senkte sich und setzte den scharfen Bug krachend in die aufschäumenden Wellen. Die Gischtspritzer und die schmalen Schaumkämme waren nur schwach zu erkennen, aber die Ränder des Kielwassers zeichneten sich im Licht der Hecklaterne deutlich gegen das schwarze Wasser ab.

Batuti hangelte sich Schritt um Schritt an der Steuerbordseite entlang und ließ das Schanzkleid los, als er das Achterdeck erreicht hatte.

„Das übliche Wetter!“ rief er. „Da überlegt man, ob es eine Landratte nicht besser hat!“

Ben und Higgy grinsten breit.

„Möchtest du tauschen?“ fragte der Erste.

Batutis Zähne blitzten im Halbdunkel.

„Noch nicht“, entgegnete er. „Aber solche nassen Nächte tragen nicht gerade zur Entspannung bei.“

Das Ufer an Backbord war nicht zu sehen. An Steuerbord breitete sich endlos die offene See aus. An Land gab es weder Feuer noch Leuchttürme. Spätestens beim nächsten Glasen würde Ben Befehl geben, den nächsten Schlag wieder nach Westen auszuführen. Die Segel standen prall, es war kaum vorstellbar, daß die „Ghost“ sie einholen konnte.

Batuti deutete aufs Kielwasser.

„Wir warten auf Ruthland und Garcia?“ fragte er mit seiner kehligen Stimme.

„Wir müssen bereit sein, wenn die Karavelle auftaucht. Ruthland ist der Verfolger. Vielleicht holt er auf, vielleicht auch nicht. Die Jagd wird lange dauern“, erklärte der Erste in sachlichem Tonfall. „Wir haben weitaus mehr Geschütze als er. Es wird darauf ankommen, wer die besseren Manöver zustande bringt.“

Higgy stemmte sich gegen das nasse Holz der langen, geschwungenen Pinne.

„Ihr seid sicher, daß uns das letzte Duell bevorsteht?“ fragte er.

Der Erste antwortete mit Entschiedenheit: „Absolut sicher.“

„Das weiß Hasard, seit wir Bombay hinter uns lassen mußten“, stimmte auch Batuti zu.

„Dann wissen wir also sicher, womit wir uns den Vormittag vertreiben“, sagte Higgy zufrieden und wartete auf die nächsten Kommandos.

Dan O’Flynn hatte mehr Mühe, sich festzuhalten, als er gedacht hatte. Der Großmast und die Ausgucktonne ächzten und schlugen hin und her. Dan stemmte Knie und Schultern gegen das Holz, klammerte sich am Mast fest und drehte langsam den Kopf. In seinen Ohren pfiff und heulte der Wind, sein Haar peitschte ihm ins Gesicht. Mit halb zusammengekniffenen Augen starrte er über die See und suchte jede Handbreit der Kimm ab. Die Sonne versteckte sich irgendwo hinter der Küstenlinie, hinter einer dunklen, tiefhängenden Wolkenbank.

„Verdammte ‚Ghost‘! Wo versteckt sich Ruthland?“ murmelte Dan im Selbstgespräch. Der Wind riß ihm die Worte von den Lippen. „Zeige dich, verdammter Hundesohn!“

Bei Tagesanbruch hatte der Wind geringfügig gedreht und wehte jetzt schwächer als während der Nacht, geradewegs aus Westen. Die Schebecke jagte mit achterlichem Wind auf die ferne Küste zu. Der Himmel über dem Meer wirkte zerrissen, ließ unglaubliche Wolkenspiralen erkennen, zeigte ein schwefliges Graugelb und sah aus, als sei heute jedes nur mögliche Wetter samt Wind zu erwarten.

Die Seewölfe, die kurz nach der ersten Helligkeit vom feuchten Deck aus dieses Schauspiel beobachteten, konnten nur die Köpfe schütteln.

Nicht mal Old Donegal fiel zu dieser Zurschaustellung von Monsunwolken eine Bemerkung ein.

Dan fluchte leise und starrte hinüber zur Küste. Nicht ein einziges Segel war zu erkennen. Vielleicht war das wilde Aussehen des Himmels für die Inder auf den Dhaus ein schlechtes Omen. Zu dieser Stunde wagte sich offensichtlich kein Kapitän aus den Häfen und Buchten hervor.

Mit einigen Schwierigkeiten zerrte Dan das Spektiv aus der Jackentasche, zog es auseinander und peilte hindurch. Das Okular schlug immer wieder hart gegen sein Auge, gegen den Wangenknochen und die Braue. Wieder fluchte er, und am meisten ärgerte ihn das runde Bild, das einen wirren Tanz aufführte.

Für diesen Ärger muß Ruthland erst recht zahlen, sagte sich Dan. Von Deck aus schrie jemand etwas zu ihm hinauf. Er schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß jedes Geschrei sinnlos sei, er verstünde kein einziges Wort. Wahrscheinlich lautete die Frage, ob er etwas vom Verfolger sähe oder nicht.

Trotz der jämmerlichen Haltung und der Stöße, die er empfing, blieb er gewissenhaft wie immer.

Mehrmals suchte er die Kimm ab – nach den Segeln der Karavelle, nach anderen Segeln, nach irgendeiner Einzelheit, die ihnen Weiterhelfen konnte. Schließlich, fast eine halbe Stunde mußte vergangen sein, war er sicher, daß sich innerhalb eines riesigen Kreises nur die Schebecke, mutterseelenallein, auf dem Arabischen Meer befand. Es war sinnlos, weiterzusuchen.

Er sicherte das wertvolle Instrument und enterte mit größter Vorsicht wieder über die Wanten ab. Er schüttelte sich, als er an Deck stand und in Hasards blitzende Augen starrte.

„Nichts, Sir“, sagte er. „Wenn sie hinter uns her sind, dann sind sie noch zu weit entfernt. Beim Holzbein meines Alten! Kein Segel zu sehen.“

Der Ernst, mit dem er antwortete, überzeugte den Seewolf. Hasard verzichtete darauf, zu fragen, ob ein Irrtum möglich sei. Er kannte und schätzte Dans Gewissenhaftigkeit nicht weniger gut und lange als dessen scharfe Augen.

Zusammen mit Dan hatten sich einige Männer um den Großmast versammelt.

Hasard sagte: „Bis auf weiteres halten wir Kurs. Neue Anordnungen gibt es erst, wenn der Wind dreht oder sich die ‚Ghost‘ zeigen sollte.“

Die Seewölfe beobachteten argwöhnisch die Wellen und die Schaumstreifen.

Dan O’Flynn schaute nicht nach Wellen und Wetter, sondern beobachtete den Seewolf. Dessen Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß sein Entschluß unverrückbar feststand. Heute oder in den nächsten Tagen würde er zu Ende bringen, was Ruthland und Garcia auf der „Ghost“ angefangen hatten.

An welcher Stelle dieser unbekannten Küste, zu welcher Stunde, ob tagsüber oder in nächtlicher Finsternis, das war unwichtig. Wenn die Schebecke das nächstemal die „Ghost“ ansteuerte, fing das Duell an. Es würde mit Tod und Untergang enden.

Dan zuckte schweigend mit den Schultern und wandte sich ab. Er war sicher, daß die Culverinen Al Conroys den Sieg herbeiführen und den anderen auf den Grund des Meeres schicken würden.

„Dann ist es wohl an der Zeit, daß unsere Köche auftischen, was sie in aller Ruhe gebraten haben!“ rief dröhnend und mit breitem Lächeln Edwin Carberry.

„Hat sich was mit Auftischen, Profos“, entgegnete der Kutscher. „Bei diesem Sauwetter? Backen und Banken, Arwenacks! Seid froh, wenn’s überhaupt was gibt.“

Den nächsten Blick, der ihm die Spannung der Seewölfe deutlich zeigte, fing Dan auf, als der Stückmeister den Niedergang aufenterte. Al Conroys unrasiertes Kinn reckte sich grimmig vor. Die Muskeln in seinen stachelbärtigen Wangen arbeiteten. Er schaute über die Reihen der Culverinen und musterte dann jede einzelne Lafette, als wäre sie ein Raubtier, das nur er von der Kette lassen könnte.

Der Kutscher und Mac Pellew teilten das Essen und die leeren Mucks aus. Ben Brighton und Hasard standen zwischen Gangspill und Back und sprachen halblaut miteinander.

„Die Küste scheint einigermaßen gerade zu sein“, erklärte der Erste. „Hast du vor, einen Hinterhalt anzulaufen?“

Fast widerwillig schüttelte Hasard den Kopf. „Ich war unter Deck. Zusammen mit Dan haben wir die Karten studiert. Keine Inseln, hinter denen wir uns auf die Lauer legen könnten. Taugt alles nichts. Die Buchten da drüben sind mir auch zu unsicher. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.“

„Außerdem“, wieder mal deutete der Erste zum Himmel, „kann keiner auch nur ahnen, was uns der Monsundämon heute vor den Bug knallt.“

„Hast du, abgesehen von Ruthland“, fragte Ben Brighton, nachdem er das Nicken Hasards als Bestätigung verstanden und einige Atemzüge lang gewartet hatte, „ein bestimmtes Ziel?“

„Natürlich“, erwiderte Hasard beinahe schroff.

„Zurück nach Bombay und dort berichten, wie es wirklich war – und daß nicht wir die Schurken in diesem Stück sind, Sir?“

Hasards Lächeln war eisig wie der Blick seiner blauen Augen. „Ich bemerke, daß wir wieder mal einer Meinung sind, Ben. Genau das werde ich tun, nachdem wir diese Mörderkaravelle zu den Fischen geschickt haben.“

Ben Brighton sagte sich, daß der Tag noch lange war, daß weder er noch Hasard Hellseher waren, und daß bis zu der Rückfahrt nach Bombay das verdammte Schicksal auch ihnen noch manchen bösen Streich spielen konnte. Daß aber die Seewölfe bei diesem Duell siegreich sein würden – das stand für ihn außerhalb jeden Zweifels.

Die „Ghost“ segelte unter einem tiefhängenden Wolkenwirbel und wurde durch die langen Wellen geschoben. Hinter dem Heck brodelte eine weiße Doppelspur, Gischt flog durch die Luft. Die Karavelle lag seit zwei Stunden mit halbem Wind auf Südkurs.

David Lean kauerte an Deck und bewegte den langen Stiel des Wischers hin und her. Pulverreste staubten aus der Mündung der Culverine. Jede Bewegung des Schiffes lockerte oder straffte die Brooktaue, wenn die breiten Holzräder der Lafette über die Planken knarrten. In der offenen Kiste standen die Kartuschen. Die Kugeln in den Grummets aus dickem Tauwerk bewegten sich nicht.

„Keine Eile, David!“ schrie Francis Ruthland und zog die Schultern vor. „Lieber mehr Mühe geben als zu schnell arbeiten.“

„Schon gut, Sir“, erwiderte der Stückmeister mit einem breiten, selbstsicheren Grinsen. „Wir wissen, auf was es ankommt.“

Der Seewolf verfügte über mehr Geschütze als die Karavelle. David Lean nickte grimmig. Die Menge war nicht entscheidend, sondern die Kunst des Artilleristen. Und er bereitete sich mit allergrößter Sorgfalt auf das Gefecht vor.

Er lud ein Kettengeschoß. Die schwere Kette zwischen den Kugeln klirrte bei jeder Bewegung.

César Garcia stand auf der Back der „Ghost“ und lehnte sich an die Nagelbank. Er blickte hinüber zur fernen Linie der Kimm. Über dem Land leerten sich die dunklen Regenwolken. Von der Sonne war trotz der Löcher in den spiraligen Wolkenmassen nichts zu sehen.

Auch im Westen, an Steuerbord, fegte eine breite dunkelgraue Regenbank über das Meer. Garcia hob wieder das Spektiv und setzte es ans rechte Auge. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte er weder mit dem bloßen Auge noch mit den Linsen die dreieckigen Segel der Schebecke entdecken können.

Er wußte, daß Hasard Killigrew früher oder später voraus auftauchen würde. Er wußte es mit unumstößlicher Sicherheit.

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100 S. 1 Illustration
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9783966880800
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