Buch lesen: «Paarcours d'amour»

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SCHREIBER VS. SCHNEIDER

Paarcours d’amour

BEZIEHUNGSKISTCHEN ZWISCHEN ZWIE- UND EINTRACHT

IMPRESSUM

Schreiber vs. Schneider

Paarcours d’amour

Beziehungskistchen zwischen Zwie- und Eintracht

Elster & Salis AG, Zürich

info@elstersalis.com

www.elstersalis.com

Korrektorat: Gertrud Germann für Torat GmbH

Titelillustration, Umschlaggestaltung:

Peter Löffelholz für Torat GmbH

Gesamtrealisation: www.torat.ch

1. Auflage 2022

© 2022, Elster & Salis AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

ISBN E-Pub 978-3-03930-036-5

ISBN Print 978-3-03930-035-8

Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Niemandsland

Tastaturen, Flecken, schiefe Lampen

Eingespannt

(F)leckereien

Sauberer Schrott

Gesichtsverlust

Schiefer Leuchtensegen

Unbunt

Warmbader

Auf Achse

Alarm in der Beziehungskiste

Bergsturz

Reife Leistung

Morgengezwitscher

Spassbremse

Win-win!

Parkassistentin

Herzdame

Vom Glück der Erde auf dem Rücken …

Der längste Tag

Fitnessqueen

Stallluft

Das Glück dieser Erde

Der Boss

Nachtschwärmerwächter

Fondue-tt

Monster im Glas

Grenzerfahrungen

Blaues Feuer und Giganto-Lupe

Schönheit muss leiden

Stich-Salat

Widerstandsnest

Grenzerfahrung

And the Oscar …

Laute Nacht

Mutterprobe

Freier Fall

Schwindel

Winkelzüge

Schlaghammer vs. Knubbelkäfer

Knubbelkäfer

Sesselkleber

Ohne Anschluss

Schlaflos durch die Nacht

Der Einkaufsverhinderer

Hartes Glück

Zugeschnappt

Mein Morgen

Klamotten

Lochpulli schlägt Blumentischdecke

Oben ohne

Unsichtbar

Räumen statt Träumen

Dresswandel

Verlocht

Blumendecke

Sextest

Paarcours d’amour

Grandiose Gefühle und kleine Tricks

Paarcours d’amour

Alles geht auf

Kraftorte

Zu viel Information

Der Mann der Träume

Küssen verboten

Gefällt mir!

Spuren im Sand

Kreuzbube

Verloren im Escaperoom

Partygrill

Ich will hier raus!

Mezzo Mix

Nicht nichts …

(Sch)eis(s)kalt!

Bodenhaltung

Der Wahnsinn!

Frauenkleeblatt

Signalrot

Auslotungen

Lieber auf statt am Draht

Falscher Anruf

Blauplan

Kein Anschluss

Innere Kämpfe

Unempfänglich

Heimatland!

Reichlich umarmen

Sanftmütig

Nestwärme

Wenn man auf dem Skilift muss

Aus der Reihe tanzen

Nicht für die Katz

Schnupperfamilie

Atemlos durch die Nacht

Nur die Harten …

Liebeslieder

Mutterliebe

2038

Niemandsland

ICH FRAGE MICH MANCHMAL, OB MÄNNER UND FRAUEN WIRKLICH ZUEINANDER PASSEN. VIELLEICHT SOLLTEN SIE EINFACH NEBENEINANDER WOHNEN UND SICH NUR AB UND ZU BESUCHEN.

Katharine Hepburn

»War ein schöner Tag.«
Eingespannt


SIEVielleicht merkt man erst beim Insbettgehen, dass die Zeit nicht schläft. Ich blicke auf mein Nachtkästchen, es quillt über. Je älter ich werde, umso mehr Material benötige ich für meinen Schlaf.

Ich gönne mir mein übliches Prozedere: Füsse eincremen, Salzwassernasenspray in Griffweite, Oropax bereitlegen und neuerdings auch noch etwas, das ich wirklich lieber nicht gewollt hätte: eine Zahnspange.

Durchsichtig, zum Glück.

Ich habe nachts einfach zu viel Biss. Und damit meine Zähne nicht von mir selbst wegrationalisiert werden, schone ich sie mit dieser Spange. War die Idee meines Zahnarztes. Eine Investition. Durchsichtige Hightech-Teile, die ich über mein Gebiss klicke. Unsicht-, aber spürbar. Ich lisple und denke an Martina Hingis, die mit Gebissdrähten Grand Slams gewann. Schneider habe ich davon erzählt, aber es hat ihn nicht sonderlich interessiert. Nun liegen wir im Bett und lesen, bevor der Tag gute Nacht sagt.

Da beugt sich Schneider zu mir herüber, raunt: »Schlaf gut, Liebste, war ein schöner Tag«, und will mich küssen. Was grundsätzlich schön ist, bloss grad suboptimal. Denn mit der Spange kann ich weder reden noch Tennis spielen und schon gar nicht küssen.


ERWährend ich, um ins Bett zu gehen, einfach unter die Decke krieche, ist das gleiche Unterfangen bei Schreiber viel interessanter. Ich tue jeweils so, als würde ich nichts davon mitbekommen, denn ich habe mich daran gewöhnt, dass sie statt Seidenwäsche Wollsocken montiert, statt selig seufzend zu mir herüberzuschauen, geräuschvoll Salzwasser in der Nase hochzieht oder auf dem Rücken liegend die Beine an die Decke streckt und ihre Waden dick eincremt.

Diese Prozedur entwickelte Schreiber im Lauf der Jahre – und nun scheint etwas Neues dazuzukommen. Etwas, das irritiert: ein Klicken. So, als würde man einen Plastikdeckel auf eine Dose pressen. Ich gucke diskret hinüber. Sie presst die Lippen aufeinander.

»Alles gut?«, frage ich.

Sie nickt.

Ich klappe mein Buch zu, das zufälligerweise den Titel Kuss trägt, ein Roman, bei dem es um Liebe geht und Küsse, die man verschenken möchte. Das wäre auch jetzt der Plan: ein Gutenachtkuss auf ihre Lippen kurz vorm Lichterlöschen. Da fällt es mir ein! Sie trägt neu eine Nachtspange. »Zeig mal«, sage ich. Sie grinst, ich sehe Plastik, spitze die Lippen, sie dreht den Kopf, ich küsse ihre Wange und beisse auf die Zähne. Gemeinsam zu altern, heisst wohl, wie Geschwister zu werden.

»Für deine Serviette.«
(F)leckereien


SIEEssen muss nicht bloss schmecken, Essen soll auch gut aussehen. Und der, der isst, der sollte das ebenfalls. Also gut aussehen.

Schneider ist grundsätzlich ein Geniesser und hat mich schon am Anfang unserer langen Liebe in wundervolle Restaurants ausgeführt. Ich schätzte es, wie bedacht und langsam er ass, wie er Fische behutsam filetierte, Salat nicht klein schnitt, sondern zerbrach und Spaghetti nur mit der Gabel aufdrehte. Ein Könner. Ein Schlemmer. Ein Gourmet.

Einzig eine Hürde gab und gibt es immer noch: Der Weg vom Teller zum Mund ist weit, und genau dort passiert es – er kleckert.

Kaum ein Hemd, ein Pullover, ein T-Shirt, auf dem seine Gaumenfreuden keine eindeutige Spur hinterlassen haben.

»Du musst aufpassen«, sage ich jeweils vor dem Essen. Nützt leider nichts.

Ich erinnere mich, vor vielen Jahren mit einigen Managern zu Abend gegessen zu haben, als einer dieser steifen Anzugmenschen ein kleines Etui aus seiner Jacke zückte und eine Silberkette samt zwei Klammern herauszog. Die Kette hängte er sich um den Hals, befestigte die Stoffserviette dran und löffelte das Kürbissüppchen, als wäre nichts dabei.

Damals fand ich das sehr albern, ein Mann mit Lätzchen.

Jetzt finde ich, es hat durchaus Stil.


EREin Geschenk für mich? Ohne Anlass, einfach so beim Mittagessen? Schreiber kichert. Ich öffne die Schatulle, darin liegt eine Schmuckkette mit zwei Klammern.

»Für deine Serviette«, klärt mich Schreiber auf.

In meine Fassungslosigkeit mischt sich Interesse. Denn Schreiber hat recht: Ein erwachsener Mann sollte beim Essen nicht kleckern.

Deshalb kleckere ich auch nicht. Zumindest fast nicht. Also wenn, dann nur unbeabsichtigt.

Denn es kommt darauf an, was gemeinsames Essen sein soll. Für Schreiber ist das klar: Informationsaustausch. Sie will reden, sie lacht, sie prostet mir zu. Und genau das wirft mich aus der Bahn. Darum kleckere ich.

Dabei kann Essen auch Konzentration auf das Wesentliche sein. Das ist mir klar geworden, als ich letztes Jahr einige Tage im Kloster zugebracht habe.

Dort wurde beim Essen geschwiegen.

Ich war ausserordentlich achtsam.

»Ich würde nie wieder kleckern, wenn wir schweigend essen würden«, sage ich.

»Um Gottes willen! Reden ist doch Teil des Vergnügens«, entfährt es Schreiber, während sie vehement ihre Gabel mit der Pilzrahmsauce samt Rösti zu ihrem Mund schiebt, als ein Tropfen auf ihrer Bluse landet. »Mist!«, sagt sie und greift zur Serviette.

Ich reiche ihr grosszügig das Etui mit der Kette: »Ich hätte da etwas Schmuck für dich.«

»Das kriege ich wieder hin!«
Sauberer Schrott


SIEHin und wieder überfällt mich der Putzfimmel. Diesmal steht mein Rappel unter dem Motto: porentief rein. Klinken, Türrahmen, Lichtschalter, alles, was sich mir in den Weg stellt, bringe ich auf keimfreien Hochglanz. Da sticht mir meine Computer-Tastatur in die Augen. Dafür, dass ich seit Monaten nur mit desinfizierten Fingern tippe, sollten die Buchstabendrückerle blank sein. Das Gegenteil ist der Fall, kein appetitlicher Anblick.

Ich sprühe Desinfektionsreiniger auf einen Lappen und wische jede Taste einzeln ab. Weil ich gerade Meisterin Proper bin, mache ich mich auch an Schneiders Tastatur, die es noch viel nötiger hat.

Ich stelle sie auf den Kopf, klopfe drauf, Schreibstaub rieselt. Ich greife zu Pinsel und Wattestäbchen, entstaube behutsam sämtliche Tasten-Zwischenräume. Dann knöpfe ich mir den Bildschirm vor. Poliere ihn auf Hochglanz. Als wäre alles frisch aus dem Laden!

Schneider wird Augen machen.

Als er mir später im Arbeitszimmer gegenübersitzt und seinen Computer startet, freu’ ich mich auf seine Reaktion. Doch er bemerkt gar nicht, dass er in einem blitzblanken Homeoffice sitzt.

Dann macht er doch noch grosse Augen, immerhin, und sagt: »Was für ein Mist!«


ERIst ja toll, dass Schreiber wieder mal einen Putzanfall hatte. Dass sie dabei Grenzüberschreitung betreibt, nervt. Mein Schreibtisch gehört mir.

»Aber der war ein wenig …«

»Was?«

»… schmuddelig!«

»War er nicht! Du sprühst einfach gern rum, und was hast du damit erreicht? Eine antiseptische Tischplatte und saubere Tasten. Und jetzt steht da nur noch Blödsinn.« Ich blicke auf den Bildschirm: Statt Us eben Is, statt Ms lauter Vierecke und statt Es rein gar nichts.

»Kannst du deine Sauberfraumomente nicht allein für dich ausleben?«, brumme ich.

Schreiber guckt betupft: »Das kriege ich wieder hin.«

Eine Stunde später schreibe ich immer noch von Hand. Denn zuerst hat sie ewig die Tastatur geföhnt, kreiste dann mit einem Magnet darüber, und nun hat sie sie auf den Heizkörper gelegt. Vielleicht entdeckt Schreiber ja eine Marktlücke: angewärmte Tastaturen für klamme Finger. Ich schaue im Internet nach, was mich eine neue Tastatur kostet, und schlucke: 130 Franken!

»Tut mir leid«, sagt sie geknickt. Mir auch. Sie hat es ja nur gut gemeint. Ich sage versöhnlich: »Nur wer etwas macht, macht auch Fehler.«

Sie lächelt. »Ja. Deshalb passieren sie mir ja auch öfter als dir …«

»Okay, ich arbeite daran.«
Gesichtsverlust


ERIch schaue mir auf dem Computer alte Fotos von uns an, spasseshalber, optische Reisen, die mir guttun. Ich staune, wie jung ich vor zehn Jahren noch ausgesehen habe. Aber nicht nur ich, auch Schreiber. Das Leben hinterlässt seine Spuren. Ich stelle mir vor, wie ich in zehn Jahren Fotos von heute ansehe und womöglich wieder dasselbe denke …

Ich muss sehr versunken gewesen sein, merke erst jetzt, dass Schreiber hinzugekommen ist. Doch sie blickt nicht auf den Bildschirm, sondern mir ins Gesicht. Sie sagt: »Warum machst du so einen verkniffenen Mund?«

»Bitte?«

»So schmallippig irgendwie, verbissen. Diesen Mund machst du häufig, wenn du dich vergisst.«

Hoppla. Ich lockere ganz schnell meine Gesichtsmuskulatur. Schreiber nickt und sagt: »Schon besser.« Dann fügt sie an: »Und wenn ich mal seltsam gucke, sag’ es mir bitte sofort. Ich will nicht, dass wir unser Gesicht verlieren. Und schon gar nicht will ich grimmig aussehen. Abgemacht?«

Als wir am Abend mit Ida in der Küche sitzen und diese uns von der Schule erzählt, fragt Ida plötzlich: »Mama? Alles in Ordnung?«

Schreiber ganz erstaunt: »Ja, klar, ich höre dir zu, warum?«

Ida: »Weil du so grimmig schaust.«


SIEIch bin ertappt. Warum blicke ich verdriesslich, wenn ich entspannt bin? Ich sollte doch zufrieden gucken, wenn es mir gut geht. »Danke, Ida, für deine Beobachtung. Jetzt muss ich mehr an meiner Mimik arbeiten«, sage ich und lächle: »Habe da noch Tipps auf Lager aus der Schauspielschule damals in New York.« Schneider und Ida sollten jetzt fragen, welche das wären. Tun sie aber nicht. Egal, ich verrate sie ihnen dennoch: »Einer geht so: Lache, auch wenn dir nicht danach ist. Das Gefühl folgt deinem Gesichtsausdruck.«

Ich mache es vor. Schneider: »Sieht voll künstlich aus. Wie geliftet.« – »Okay, ich arbeite daran«, sage ich, grinse mit äusserstem Einsatz und siehe da, wir brüllen los. Alle drei. Köstlich!

Später, beim Zähneputzen im Bad, zeige ich Ida eine andere Übung: »Grosses Gesicht, kleines Gesicht.« Ich reisse die Augen auf, den Mund, alles wird RIESENGROSS. Dann wechsle ich zur Minischnute, kneife die Augen zusammen und zerknautsche mein Gesicht so klitzeklein wie eine Rosine. Fühlt sich herrlich an. Ida beobachtet mich im Spiegel, schüttelt den Kopf und verlässt das Bad: »Echt, Mama, das ist zu viel.«

Sie hat tatsächlich recht, ich sehe komplett doof aus. Aber immerhin nicht grimmig.

»Du klingst aber gereizt.«
Schiefer Leuchtensegen


ERSchreiber hat eine neue Pendelleuchte für unseren Esstisch gekauft. Eine hohle Halbkugel, aussen weiss, innen goldfarben, erinnert irgendwie an eine Satellitenschüssel. Sie strahlt: »Ein Designerstück. Aber nicht teuer!«

Dann blickt sie an die Decke und fragt: »Soll ich den Elektriker anrufen?«

»Ich kann das«, antworte ich und stelle als Erstes fest, dass das Stoffkabel an der neuen Leuchte zu kurz ist. Na, toll!

In der Werkstatt liegt irgendwo ein altes Plastikkabel, das kann ich provisorisch verwenden, bringe Lüsternklemmen und Abisolierzange mit zurück, knipse das Stoffkabel zweimal durch, schabe mir mit dem Schraubenzieher den Finger auf, fluche, ein Kupferdrähtchen bohrt sich schmerzhaft unter meinen Fingernagel, zum Schluss sieht die Kombi aus Plastik- und Stoffkabel scheusslich aus.

Schreiber flötet aus der Stube: »Kann ich helfen, du atmest so laut?«

»Ich atme ganz normal«, sage ich.

»Du klingst aber etwas gereizt.«

»ICH BIN NICHT GEREIZT!«

»Also doch«, sagt sie, taucht in der Küche auf und guckt. »Hast du die Sicherung rausgenommen?«

»Für wie doof hältst du mich?«

»Gar nicht, ich will dich einfach nicht verlieren.«

»Mich?« Ich lache gallig, verloren geht hier anderes: Geduld und Nerven.


SIEIch finds toll, dass Schneider unsere neue Lampe schwupps montiert. Früher hat so etwas bei ihm Jahre gedauert, jetzt legt er sich flott ins Zeug.

Allerdings seufzt er etwas oft. Ausserdem rennt er ständig in die Werkstatt und bringt irgendwelche Ersatzkabel zurück, weil das an der Lampe zu kurz sei. Das wusste ich, darum wollte ich ja auch den Elektriker.

Schneider steht unterdessen auf dem Küchentisch, fuchtelt, seufzt, flucht. Dann faucht er, dass ich einen völlig unüberlegten Kauf gemacht hätte, dass wir uns länger hätten Zeit lassen sollen, dass er hätte dabei sein müssen.

Nun, ich bin halt spontan. Und ja, Hängeleuchten sind eine Wissenschaft für sich. Deshalb habe ich ja auch kein teures Teil gekauft. Und sowieso: »Falls sie nicht passt, tausche ich sie um«, sage ich.

»Geht nicht, ich habe das Stoffkabel zerschnitten.«

Das ist jetzt echt ärgerlich, denn sooo günstig war sie nun auch wieder nicht. Schneider fixiert einen Haken an der Decke, hängt die Lampe dran, klettert vom Tisch.

Wir gucken beide hin. Die Lampe hängt komplett schief. Schneider schimpft: »Die passt überhaupt nicht zum Raum.«

Ich sehe das anders: »Wenn wir den Raum schräg stellen, könnte es gehen.«

»Stört es euch?«
Unbunt


ERSie sind mir erst kürzlich aufgefallen. Ich wollte etwas sagen, aber da klingelte das Telefon, und Schreiber ging dran. Seither habe ich noch ein paarmal hingeschaut, aber der Zeitpunkt, um mich dazu zu äussern, passte nie. Muss ja auch nicht sein. Gehören irgendwann einfach dazu. Bei mir spriesst es ja auch in Grau und noch dazu nur noch spärlich. Ist auch nicht so wichtig, es geht um Liebe und nicht um die Haarfarbe, die jetzt …, ja wie nennt man diesen Ton eigentlich genau? Unbunt?

»Mama, du hast total graue Haare am Ansatz! Da beim Scheitel«, ruft unsere Tochter beim Frühstück und zeigt mit dem Finger auf Schreibers Kopfhaut. »Krass!«

Schreiber schluckt, dann lacht sie etwas wacklig und meint: »Ja, die sind ganz schnell gekommen. Quasi über Nacht.«

Wir nicken.

»Stört es euch?«

Unsere Tochter schüttelt den Kopf, ich auch, dann blickt sie zu mir: »Dass du nie was gesagt hast? Ich dachte schon, du traust dich nicht, darüber zu reden, dass ich grau werde.«

Ich weiss nicht, was ich sagen soll.

»Bitte, wenn dich an mir etwas irritiert, dann sprich darüber. Sonst verunsichert mich das. Nichts zu sagen, finde ich nämlich richtig schlimm«, fährt sie fort.

Nun, dann sage ich jetzt doch etwas.

Am besten ganz schnell.

Aber ich weiss einfach immer noch nicht, was.


SIEJetzt ist es draussen! Mir sind die silbrigen Haare an meinem Scheitel schon länger aufgefallen. Sie kamen aus dem Nichts, innerhalb von Wochen. Und mit ihrem spontanen Wuchs tauchten auch die Fragen auf: Macht es mich alt? Stört mich das Grau? Und: Stört sich Schneider daran? Keine Ahnung. Er sagt ja nichts. Darum bin ich froh, dass meine Tochter meinen Farbwechsel derart locker thematisiert. Genau so sollte man übers Älterwerden reden: frisch von der Leber weg. Ich probier’ das grad mal aus und sage möglichst überzeugend in die Runde: »Färben? Nein, ich lasse meine Haare machen, was sie wollen.« Dass ich vor ein paar Tagen daran gedacht habe, diesen weissen Wirbel mit blonden Strähnen wegzuschummeln, behalte ich für mich.

Schade, bin ich nicht so selbstbewusst wie meine Freundin, die ihre grauen Haare ohne künstlichen Ton trägt und toll aussieht.

Schneider hat sich immer noch nicht zum Thema geäussert. Ich versuche, ihn aus seiner Sprachlosigkeit zu befreien, und sage: »Übrigens liebe ich deine grauen Haare, vor allem die auf der Brust.«

Schneider grinst und zwinkert mir zu.

Das einzig wirksame Mittel gegen Grau haben wir beide auf Lager: unseren Humor.

€12,99