Die Blaue Ritterin

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Die Blaue Ritterin
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Schweigen fällt der zehnjährigen Mona nicht schwer, denn in der Schule hat sie keine Freunde. Ihren Vater kennt sie nicht, und ihre Mama ist Ärztin und oft nicht zu Hause. Doch zum Glück gibt es da noch eine andere Welt – die Rote Burg, zu der nur sie Zutritt hat.

Als Mona einen verletzten Vogel findet, ist es ihr Mitschüler Julius, der ihr hilft, ihn zu pflegen. Er macht ihr bewusst, wie wichtig es ist, Freunde zu haben – bis es zu einer Situation kommt, in der Mona sich zwischen den beiden Welten entscheiden muss …

Sarah Knausenberger ist ein beeindruckendes Debüt über ein Mädchen gelungen, das es schafft, den Weg aus einer unfreiwilligen Isolation heraus zu finden. Ulrike Möltgens wunderbare Illustrationen bereichern das Buch um eine faszinierende träumerisch-magische Note.

Sarah Knausenberger

DIE BLAUE RITTERIN

Mit Bildern von Ulrike Möltgen



Für meine liebsten Kinder –

Sarah Knausenberger

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Über den Autor


Prolog

Ich bin die Blaue Ritterin. Aber das ist mein Geheimnis. In der Schule nennen sie mich Mona. Meine Haare trage ich immer offen und nach vorne, weit ins Gesicht gekämmt. So kann ich die anderen unbemerkt beobachten. Die Haare sind mein Helm. Unter ihm bin ich unsichtbar, und das ist gut so, denn dann lässt man mich in Ruhe. Und ich brauche Ruhe. Ich will gar nicht eingeladen werden zu Partys oder Geburtstagsfesten.

Einmal, als ich den Helm noch nicht hatte, sagte Herr Holtigbaum: »Und jetzt eine ganz einfache Frage. Mona!«

Alle Augen waren auf mich gerichtet.

»Was ist die Hauptstadt von England?«

London!, dachte ich, bekam aber keinen Ton heraus.

»Na?«

Ich spürte, wie ich rot wurde und zupfte an meinen Haaren herum, bis Herr Holtigbaum seufzte und Emily drannahm, die immer mit den Fingern schnipst.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Herr Holtigbaum mich ansprechen würde. Niemand tat das. Die anderen Lehrer hatten sich an mein Schweigen gewöhnt, und von den Schülern war Julius der Einzige, der ab und zu noch etwas zu mir sagte: »Du stinkst«, sagte er oft, und seine Kumpel röhrten vor Lachen. Seitdem kämpfe ich jeden Morgen mit dem schreienden, alten Föhn meiner Mutter. Ich föhne mir die Haare ins Gesicht. Es scheint zu funktionieren. Der Holtigbaum hat mich jetzt seit Wochen nicht mehr angesprochen, und selbst Julius reißt keine Du-stinkst-Witze mehr.

Es gibt Tage, zum Beispiel wenn Mama lange arbeitet, da wechsle ich von morgens bis abends kein Wort mit einem Menschen. Das ist die Bedingung. Wenn ich das schaffe, lässt man abends auf der Roten Burg die Zugbrücke für mich herab.


Kapitel 1

Ich stehe vor unserem Haus, zähle Autos und warte auf Mama. Heute werden wir zusammen abendessen. Das hat sie mir versprochen. Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Unsere Straße heißt Pfeifferstraße und ist eigentlich ganz schön, finde ich. In den Lindenbäumen summt und brummt es im Sommer, und manchmal finde ich darunter tote Hummeln. Die sammle ich dann auf und begrabe sie in dem kleinen Garten hinter unserem Haus. Herr Schilling aus der Wohnung über uns steht oft auf dem Balkon und schimpft darüber, dass unser Garten so heruntergekommen ist. Die Hortensien müssten geschnitten und das Gras gemäht werden, findet er. Und Frau Schilling sagt dann: »Na, wenn’s nur der Garten wär. Aber das Kind! Wenn sie mal nur das Kind nicht so viel allein lassen würde!«

Ich glaube, sie reden absichtlich so laut, damit wir es hören. Dabei geht die das doch gar nichts an. Mama arbeitet im Krankenhaus. Sie ist Kinderärztin. Na ja, noch keine fertige. Sie sagt immer, wenn sie mal fertige Ärztin ist, dann wird alles besser mit den Arbeitszeiten. Und wie schön es wäre, wenn es jemanden aus der Familie gäbe, der ab und zu nach mir schauen könnte. Aber das ist nicht der Fall. Also kümmere ich mich selbst um mich. Und sie kümmert sich um die Patienten.

Da!

Mamas rotes Auto saust die Straße herauf und parkt genau vor mir an der Bordsteinkante. Mama steigt aus, ihr Pferdeschwanz flattert, sie lacht.

»Mona! Schatz!«

Ihre Arme auf meinem Rücken. Ihr Geruch.

»Mama!«

»Puh, was für ein Tag. Tut mir leid, dass es wieder so spät geworden ist. Kurz vor Feierabend kommen immer die Notfälle. Aber jetzt machen wir es uns gemütlich. Schau mal, ich hab Sushi mitgebracht. Vegetarisches für dich.«

Und dann sitzen wir auf der Eckbank in unserer Küche und Mama erzählt mir von ihren Patienten.

»Und du?«, fragt sie. »Wie war dein Tag?«

»Och. Ganz normal.«

Mama nimmt meine Hände.

»Herr Holtigbaum hat mich angerufen«, sagt sie.

»Wieso das denn?« Ich ziehe die Hände zurück.

»Er sagt, er mache sich Sorgen um dich. Die anderen Lehrer haben ihn auch schon darauf angesprochen. Sie sagen …«

Mama nimmt ihren Schal ab. Zwei Falten bilden sich zwischen ihren Augenbrauen.

»Was denn?«

Ich hasse es, über die Schule zu reden. Warum können wir es nicht einfach mal nur schön miteinander haben?

»Sie sagen, dass du nie redest in der Schule.«

»Ach so, das.«

»Und du verabredest dich auch nie mit irgendjemandem. Dabei bist du doch jetzt schon seit über einem Jahr in der Klasse. Mona-Maus. Hey, du weinst ja! Komm mal her. Stimmt irgendetwas nicht?«

Ihre Hände sind rau und kühl. Ärztinnenhände. Wie gerne würde ich ihr alles erzählen. Aber ich weiß nicht, wie.

Als ich im Bett liege, kuschelt Mama mich ganz fest ein und sagt: »Morgen wird es leider wieder spät. Ich hab den ganzen Tag Dienst. Willst du es nicht doch nochmal probieren mit dem Hort?«

 

Im Hort war ich nur ein einziges Mal, und das war schrecklich.

Frau Rieselfeld, die Betreuerin, versuchte die ganze Zeit mit lauter Stimme, etwas zu erklären. Irgendwas mit Projekttag. Die Mädchen sollten sich schminken und gegenseitig die Nägel lackieren. Immer zu zweit. Ich war übrig. »Rieke und Katha, na los, ihr nehmt Mona noch mit dazu«, rief Frau Rieselfeld. Ich musste meine Hände auf eine Plastikunterlage legen und sollte eine der grässlichen Lackfarben aussuchen. Aber dazu kam es nicht, Rieke fing plötzlich an zu kreischen. Erst dachte ich, sie wäre von einer Wespe gestochen worden oder so. Aber sie kreischte wegen mir.

»Ihhh! Schaut euch mal der ihre Fingernägel an! Die rühr ich nicht an, Frau Rieselfeld. Die nicht!«

Meine Fingernägel waren lang und hatten schwarze Ränder. Das ist nur, weil mir der Nagelknipser ins Klo gefallen ist, wollte ich sagen, bekam aber keinen Ton heraus.

Rieke rannte zu ihren Freundinnen, und Frau Rieselfeld beugte sich zu mir herunter und fragte mit heiserer Stimme: »Was ist denn bei euch zu Hause los, sag mal? Ist da niemand, der sich um dich kümmert?«

Da stand ich auf, rannte auf die Toilette und blieb dort sehr, sehr lange.

Heftig schüttle ich den Kopf.

»Zum Hort geh ich nicht mehr, egal was.«

Mama seufzt.

»Na ja. Du bist ja mein großes Mädchen. Dann machst du dir einfach die Nudeln warm, ja? Und dann geh doch mal bei dem Sportverein an der Ecke vorbei und frag, was die für Kurse anbieten. Tennis zum Beispiel, hm?«

Ich schließe die Augen. Wir schweigen eine Weile. Dann seufzt Mama nochmal, küsst mich und geht leise aus dem Zimmer.

In meinem Hals hängt schon wieder ein Kloß. Ich versuche ihn runterzuschlucken. Manchmal bin ich so allein, dass es in mir drin weh tut. Am schlimmsten war es letztes Weihnachten.

Mama hatte ewig lange Dienst, bis neun Uhr! Aber dann wollten wir es uns schön machen. Ich sollte schon mal den Kartoffelbrei und die Würstchen aufwärmen. Ich deckte den Tisch mit Sonntagstellern, Weihnachtsservietten und selbstausgeschnittenen Papiersternen. Und dann wartete ich. Der Kartoffelbrei begann, angebrannt zu riechen und bekam eine Schrumpelhaut. Die Würste platzten auf. Aber Mama kam nicht.

Ich wurde immer trauriger. Irgendwann war mein Herz so voll mit Traurigkeit, dass nichts mehr reinpasste. Und da war es, als würde sich die Traurigkeit plötzlich verwandeln in Trotz. Oder Mut.

Ich zog mich an und lief hinaus ins Schwarze der Nacht. In den Fenstern konnte ich Leute lachend am Tisch sitzend sehen, und ich sah Weihnachtsbäume. Überall glitzernde Weihnachtsbäume. Nur unsere Fenster, die waren dunkel. Als ich zurückkam, war Mamas Parkplatz noch immer leer. Da ließ ich mich auf die Bank fallen, die vor unserem Haus steht. Mit einem Mal begannen die Kirchenglocken wie wild zu läuten. Und dann sah ich in der Ferne zum ersten Mal die Rote Burg.

Plötzlich spürte ich etwas Warmes an meinem Arm. Es war mein Pferd, es heißt Sturm. Ich sprang auf seinen Rücken, und wir galoppierten zur Burg. Die Zugbrücke hatte man schon herabgelassen für uns. Alles war bereit.


Kapitel 2

Missmutig schäle ich mich aus dem Bett und tappe in die Küche. Mama ist schon weg. In der Küche hängt noch ein Hauch von ihrem Parfum. Und sie hat mir eine Packung Toffifee neben die Müslischüssel gelegt. Während ich mein Müsli löffele, beobachte ich den Minutenzeiger unserer Wanduhr, wie er weiter und weiter kriecht. Viertel nach sieben. Ich seufze, schnappe die dummen Toffifee und stopfe sie in die Süßigkeiten-Kiste unter meinem Bett. Sie ist schon ziemlich voll. Dann gehe ich ins Bad. Als ich auf dem Schulhof eintreffe, bin ich wieder fast die Letzte. Ist auch gut so. Bleibt keine Zeit zum Reden. Ich beneide meine Klassenkameraden, wie sie miteinander sprechen, spielen, sogar streiten. Weil ich das nicht kann. Auch wenn es Leute gibt, die ich mag – ich wüsste einfach nicht, was ich zu ihnen sagen sollte. Ich habe es einmal versucht. Es ging um Fallschirmspringen, Emily erzählte, wie sie das mit ihrem Papa in den Ferien gemacht hatte. Was für eine schreckliche Angst sie vor dem Absprung hatte, aber wie toll es dann war.

»Ich kann es nicht beschreiben. Ich hab mich gefühlt wie … wie …«

»Wie ein Vogel?«, fragte ich begeistert.

Alle Köpfe drehten sich zu mir.

»Was?«

»Vielleicht warst du – äh, also ich meine, vielleicht hat es sich angefühlt wie ein … als wärest du ein Vogel?«

»Quatsch. Vögel fallen doch nicht.«

Gekicher.

Seitdem schweige ich lieber.

Schweigen ist eine ritterliche Tugend, nur weiß das niemand. Ich aber kenne das Geheimnis. Schweigen ist eine Kraft, die sie brauchen auf der Roten Burg – und die mich über den Graben trägt. Es klappt nicht immer. Wenn Mama zu Hause ist zum Beispiel. Dann rede ich natürlich. Aber heute hat sie wieder lange Dienst. Heute will ich mir den Weg zur Burg auf keinen Fall verbauen.

In Geschichte, da geht es fast schief. Als Herr Holtigbaum irgendwas von Handwerkern und Zünften im Mittelalter erzählt, da guckt Ole – er sitzt schräg vor mir – wieder so in der Gegend herum. Und da fällt sein Blick auch auf mich. Schnell meinen Helm! Zu spät.

Unsre Blicke haben sich getroffen. Was denkt er wohl jetzt von mir? Na, vielleicht gar nichts so Schlimmes. Ole ist nicht gemein. Eigentlich ist er sogar ganz nett. Manchmal hab ich das Gefühl, wir reden miteinander ohne Worte. Jetzt zum Beispiel guckt er wieder nach vorne, wackelt dabei aber zweimal ganz doll mit den Ohren. Wie um zu sagen: »Hallo Mona!« Seine Ohren stehen sehr weit ab.

»Wisst ihr, woher das Wort Schlitzohr kommt?«, fragt Herr Holtigbaum plötzlich.

Niemand meldet sich.

»Na, ich werde es euch verraten. Ein Ohrring war das Zeichen, dass man einer bestimmten Zunft angehörte. Einem Verein, sozusagen. Die Zünfte hatten aber strenge Regeln, und wenn jemand gegen die verstieß, riss man ihm den Ring aus dem Ohr. Er hatte dann für immer einen Schlitz im Ohr.«

Ole zieht seine Ohren jetzt so hoch, als ob man ihn schmerzhaft daran gezogen hätte. Mir rutscht ein Pruster raus. Köpfe drehen sich nach mir um. Schnell krame ich im Ranzen nach meiner Wasserflasche.

Nach der letzten Stunde lehne ich mich zurück und schließe kurz die Augen.

Puh. Geschafft. Jetzt auf zur Burg!

Als ich bei der Ampel stehe, schubsen sich Julius und Ossi neben mir hin und her.

»Da ist deine Braut!«, ruft Ossi.

»Halt’s Maul«, sagt Julius.

»Ich hab’s doch gesehen! Wie du sie heute immer angestarrt hast!«, ruft Ossi. Julius stößt Ossi vor die Brust, sodass er beinahe auf die Straße fällt. Da endlich wird die Ampel grün, alle Kinder drängeln rüber. Ossi ruft:

»Hey Mona, du hast hier einen Verehrer!«

Ich laufe schneller.

»Die stumme Mona! Wer will die schon haben«, höre ich Julius laut antworten.

Und Ossi: »Hey komm, wir bringen die mal zum Reden.«

Wir sind jetzt bei der Unterführung angelangt. Ich beginne zu rennen, der Ranzen schlackert gegen meinen Rücken. Julius und Ossi beginnen auch zu rennen und rufen:

»Mona renn doch, Mona flenn doch!«

Sie kommen immer näher! Die Unterführung ist lang, und ich weiß, hier kann mir niemand helfen. Da schmeiße ich meinen Ranzen ab und renne um mein Leben. Die Jungs sind mir wie Hunde dicht auf den Fersen. Die Treppe rauf stolpere ich. Autsch! Mein Knie. Egal. Weiter. Irgendwann kann ich nicht mehr. Da, schnell in die Eisdiele. Der dicke Eisverkäufer mit dem Schnurrbart steht hinter dem Tresen.

»Alles okay, Kleine?«, fragt er.

Ich nicke und wende mich ab, aber er lässt mich nicht in Ruhe.

»Bist ja ganz außer Atem. Komm, setz dich. Kriegst ’ne Kugel Eis auf den Schreck. Schokolade?«

Ich hasse Schokolade. Aber die Jungs hängen direkt vor der Eisdiele an der Bushaltestelle herum. Ich nicke. Nehme das Eis und setze mich in eine Ecke, lecke an dem klebrigen Zeug herum. Mein Knie tut echt weh. Das wird ein dicker blauer Fleck werden. Und wie komme ich jetzt an meinen Ranzen? Sicher bewachen ihn die Jungs. Die denken bestimmt, dass ich ihn jetzt gleich holen werde. Aber – das werde ich nicht. Ich werde ihn einfach morgen früh einsammeln. Hausaufgaben hin oder her.

Als die Jungs gerade nicht zu sehen sind und der Eismann summend an der Kaffeemaschine herumputzt, schleiche ich raus. Tut mir leid, Eismann. Ich hätte mich gerne bedankt.

Völlig außer Atem komme ich zu Hause an. Zerre das Lederband mit dem Schlüssel, das ich immer um den Hals trage, unter meinem Hemd hervor. Mit zittrigen Fingern schließe ich die Haustür auf, dann die Wohnungstür. Schnell, bevor Frau Schilling mich hört.

Zack, Tür zu. Geschafft!

Als ich meinen Ranzen abnehmen will, erschrecke ich kurz, weil er nicht da ist. Dann hole ich das Strickzeug unter meinem Bett hervor und setze mich damit auf den Teppich. Stricken beruhigt.

Rechts, links, rechts, links …

Die können mich mal, die Jungs. Wenn die wüssten.

Rechts, links, rechts …

Als die Abendglocken zu läuten beginnen, pikse ich die Nadeln in das Knäuel, springe auf und schlüpfe hinaus in die Dämmerung.


Kapitel 3

Mit dem letzten Schlag der Kirchturmglocken senkt sich die Brücke rasselnd über den Graben. Ich treibe mein Pferdchen an, und es klackert fröhlich hinüber zur Burg, denn es weiß, dass der Torhüter immer Zuckerstückchen in der Tasche hat.

»Ihr werdet schon erwartet«, begrüßt uns Wächter Eichenast und lacht sein knorriges Lachen, als Sturm die Nüstern in seinen Mantel gräbt. Ich springe herab, reiche Eichenast die Zügel und meinen Helm. Jetzt die Treppen hinauf. Über weiche, wunderbare Teppiche laufe ich. Diesmal nehme ich mir nicht wie sonst die Zeit, all die herrlichen Figuren und Muster darauf zu bewundern, ich möchte endlich wieder bei ihr sein. Überall, wo man mich erblickt, beginnt ein wohlwollendes Raunen.

»Sie ist da, die Blaue Ritterin ist angekommen …« Und: »Sie hat es geschafft! Sie hat durchgehalten!«

Ein Diener rennt vor mir her, um mich anzukündigen. Aber das ist kaum nötig, denn schon bin ich in der großen Halle. Die Strahlenfrau erhebt sich und eilt mir entgegen. Sie nimmt meine beiden Hände und küsst mich auf die Stirn. Dann geleitet sie mich zum Kamin. Sie nimmt dem Diener eine flauschige Decke ab und legt sie um meine Schultern. Mi und Mo, meine Spielgefährten, stehen hinter dem Sofa und strahlen mich an. Heute sind sie beide ganz blau gekleidet, so wie ich. Bestimmt, um mir eine Freude zu bereiten. Eifrig klopfen sie die Sofakissen für mich zurecht. Ach, Mi und Mo. Ihr seid so gut zu mir.

Wir setzen uns, und die Strahlenfrau sagt nur ein Wort: »Erzähle.«

Ihre Augen sind voller Wärme und Mitgefühl, denn sie weiß, dass ich von der anderen Seite oft mit Verletzungen zurückkehre. Keine kann ich vor ihr verbergen.

Also erzähle ich, wie Julius und Ossi mich verfolgt haben. Wie ich um mein Leben rennen musste und dabei gestürzt bin. Besorgt sieht die Strahlenfrau mich an.

»Zeig mir dein Knie.« Sie verarztet mich mit einer Salbe aus duftenden Kräutern und summt dabei zauberhafte Melodien.

Diener huschen herein, sie bringen Tabletts mit Gebäck und Säften, das Feuer knistert und ich wünschte, ich müsste nie wieder zurück auf die andere Seite.

Später gehen wir noch im Paradiesgarten spazieren. So nenne ich den Park, der die Burg umgibt, denn er ist wunderschön. Die riesigen Baumkronen und blühenden Büsche sind voller Vögel. Sie kreischen nicht, sie pfeifen zauberhafte Melodien. Nicht Hänschen-Klein oder so. Viel schönere Lieder als Menschen sie sich jemals ausdenken könnten.

Die Strahlenfrau stützt mich, wegen des Knies.

»Es tut schon gar nicht mehr weh«, sage ich.

»Wie tapfer du bist.«

Als wir an einem Beet mit blauen Irisblumen vorbeikommen, bückt sich die Strahlenfrau hinunter, wie um eine zu pflücken. Aber sie berührt die Blüte nur, und schon liegt sie in ihrer Hand.

»Für meine Blaue Ritterin«, sagt die Strahlenfrau und steckt mir die Blüte ins Haar. Wir kommen zu einer kleinen Wiese, die mitten im herrlichen Sonnenschein liegt. Schmetterlinge flattern zwischen den Wildblumen herum. Es duftet nach Lavendel. »Oh, wie schön«, sage ich. »Hier würde ich gern mal ein Picknick machen.« Genau da kommen Mi und Mo mit einem Picknickkorb den Pfad entlang.

 

»Woher …«, sage ich, aber sie lachen nur und stellen den Korb auf der Wiese ab. Mi holt ein Tuch heraus, Mo fasst es an der anderen Seite. Als sie das Tuch auf der Wiese ausbreiten wollen, kommt ein Windstoß und bläht es auf, wie ein riesiges Segel. Ich eile ihnen zu Hilfe, lachend bändigen wir das Tuch und beschweren es mit Dingen aus dem Korb. Was da alles drin ist: Saftflaschen. Eine Schüssel Nudelsalat. Ein Kuchen. Eine Schale Erdbeeren, Tüten voller Plätzchen und noch viele weitere Köstlichkeiten. Auch Kissen haben sie mitgebracht, wir machen es uns gemütlich. Mi verteilt Gläser, die unten spitz sind wie Eistüten. Mo schenkt ein. Und dann stoßen wir an: »Auf die Rote Burg!«, »Auf die Blaue Ritterin!«

Und dann tue ich, was die anderen tun: Ich pikse mein halbvolles Glas einfach in die Erde. Ein Schmetterling kommt angeflogen, setzt sich an den Rand des Glases und steckt seinen langen, dünnen Rüssel in den roten Saft. Ich lege mich auf den Bauch und sehe ihm zu. Als er genug hat, schwingt er sich auf und fliegt davon, Richtung Sonne, und in seinem winzigen Magen ist ein Tropfen von meinem Saft.


Es ist halb acht, als ich mich am nächsten Tag ohne Schulsachen auf den Weg zur Schule mache. Wie seltsam sich das anfühlt. Hoffentlich finde ich den Ranzen gleich. Wenn ich es schaffe, am Zebrastreifen zu sein, bevor ein Auto vorbeifährt, dann ist er noch da!

Ich rase los, ein Auto hält mit quietschenden Reifen.

»Du bist wohl nicht ganz dicht!«, brüllt ein Kopf, der sich aus dem Autofenster reckt. Schnell mein Visier runterlassen und weiter. Jetzt bin ich bei der Unterführung. Da, das muss die Stelle sein …

Mein Herz beginnt laut zu pochen. Da liegt kein Ranzen!

Dreimal geh ich hin und her, schaue an beiden Ausgängen. Nichts. Ob ich warten sollte, bis die Eisdiele aufmacht? Vielleicht ist er ja dort abgegeben worden. Aber die machen sicher erst um acht Uhr auf. Wenn überhaupt. Es hilft alles nichts, ich muss so zur Schule.

Wenn Mamas Kollegen mich fragen, in welche Schule ich gehe, und ich sage, in die Pestalozzischule am Ring, dann sagen sie: »Oh, diese wunderbare Schule in dem schönen Altbau!«

Aber für mich ist die Schule wie ein Gefängnis. Der Pausenhof ist leer, als ich ankomme, der Unterricht hat angefangen. Sicher sitzen alle schon auf ihren Plätzen, und sicher werden sich alle nach mir umdrehen, wenn ich jetzt reinkomme. Herr Holtigbaum wird fragen, wo mein Ranzen ist, und ich werde keine Antwort rausbekommen …

Nein, es geht nicht. Ich kann da jetzt nicht rein. Langsam drehe ich um und schlurfe nach Hause.

Im Hundepark gucke ich einer Frau zu, die ihren Dackel trainiert. »Sitz!«, sagt sie, und läuft bis ans Ende der Wiese. Dann dreht sie sich um und ruft: »Komm zu Mami, Werner. Komm!«, und haut sich auf die Oberschenkel. Auf krummen Beinchen rast der Dackel los. Tss …

Wenn ich einen Hund haben dürfte, würde ich mir einen eleganten Jagdhund aussuchen. Er könnte dann neben mir herrennen, wenn ich mit Sturm zur Burg galoppiere …

Ich gehe weiter.

Zu Hause muss ich ganz leise sein, damit Frau Schilling mich nicht hört. Die erste Stunde ist noch ganz gemütlich. Ich koche mir einen Früchtetee mit sehr viel Honig, setzte mich damit auf den Teppich.

Dann stricke ich.

Dann lese ich. Aber irgendwann macht mir nichts davon mehr Spaß. Rausgehen kann ich nicht, wegen Frau Schilling. Irgendwann liege ich einfach auf dem Rücken und starre an die Decke. Was sie wohl in der Schule jetzt gerade machen?

In Gedanken gehe ich die Leute in meiner Klasse durch. Es sind nur sechs Mädchen, und alle außer mir gehören einer Clique an, den Dramaqueens. Unser Englischlehrer hat sie einmal so genannt, weil sie beim Anblick eines Weberknechts völlig ausgeflippt waren.

Das arme Ding hatte sich am Fenster in einem Spinnennetz verheddert. Ich befreite es mit einem Bleistift aus seiner Falle und die Sache war erledigt. Aber der Name Dramaqueens ist geblieben.

Nur ich gehöre nicht dazu.

Und die Jungs? Ossi ist mein Erzfeind, und Julius und die meisten der anderen Jungs hängen mit ihm rum. Alle außer Ole. Er ist ein Eigenbrötler.

Er sagt »Muttchen« statt Mutter und redet ein bisschen wie mein Großvater, als er noch lebte. Er ist etwas seltsam, aber ich mag ihn irgendwie …

Ich glaube, das hier ist der langweiligste Tag meines Lebens. Als es endlich dämmert und ich endlich, endlich die Kirchturmglocken höre, fühlt es sich an, als hätte ich Jahre lang darauf gewartet.