Buch lesen: «Greifen und BeGreifen»
Sally Goddard Blythe
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Reflexes, learning and behavior. A window into the child’s mind
© Sally Goddard Blythe, 2002
Erschienen bei: Fern Ridge Press, Eugene/OR, USA
ISBN 0-9615332-8-5
(Neufassung der Erstauflage, 1996 erschienen unter dem Titel:
A teacher’s window into the child’s mind)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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VAK Verlags GmbH
Eschbachstraße 5
79199 Kirchzarten
Deutschland
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Stand 2013
© VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 1998
(Die 1. bis 3. Auflage erschien bei VAK unter der ISBN 3-932098-14-5.
Die 4. und die 6. Auflage wurden aktualisiert und erweitert.)
Übersetzung: Beate Richter, Anja von Velzen, Thake Hansen-Lauff
Fachberatung: Anja von Velzen (1. Aufl.), Thake Hansen-Lauff (ab 2. Aufl.)
Zeichnungen: Dan Chen
Lektorat: Monika Radecki, Norbert Gehlen
Umschlag: Hugo Waschkowski, Freiburg
Herstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-935767-27-9 (Paperback)
ISBN 978-3-95484-095-3 (ePub)
ISBN 978-3-95484-096-0 (Kindle)
ISBN 978-3-95484-097-7 (PDF)
Inhalt
Danksagung
Vorworte
Einleitung
Kapitel 1: Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung
Der Moro-Reflex
Der Palmar-Reflex
Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex
Der Suchreflex
Der Spinale Galantreflex
Der Tonische Labyrinthreflex
Der Symmetrische Tonische Nackenreflex
Kapitel 2: Vom frühkindlichen Reflex zur Haltungskontrolle
Das Startling-Phänomen (Schreckmuster)
Haltungskontrolle
Stellreaktionen
Der Labyrinth-Kopfstellreflex
Der Augen-Kopfstellreflex
Der Landau-Reflex
Der Amphibienreflex
Die Segmentären Rollreflexe
Gleichgewichtsreaktionen
Kombinierte Auswirkungen unreifer Reflexe
Reflexausreifung – ein fortschreitender Prozess
Kapitel 3: Die Gehirnentwicklung
Die Entwicklung einer Hierarchie
Die Spezialisierung der Gehirnhälften
Kapitel 4: Die Sinne
Gleichgewicht und vestibuläres System
Der Tastsinn
Das Hören
Das Sehen
Die Propriozeption
Das Schmecken und Riechen
Zusammenfassung
Kapitel 5: Reflextests
Moro-Reflex (Standardtest)
Moro-Reflex (Aufrechter Test; Clarke, Bennett, Rowston)
Palmar-Reflex
Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (Standardtest)
Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (Schilder-Test)
Suchreflex
Saugreflex
Spinaler Galantreflex
Tonischer Labyrinthreflex (Aufrechter Test)
Symmetrischer Tonischer Nackenreflex
Landau-Reflex
Amphibienreflex
Segmentärer Rollreflex
Augen-Kopfstellreflexe
Labyrinth-Kopfstellreflexe
Kapitel 6: Wie können wir helfen?
Entscheiden, auf welcher Ebene wir intervenieren wollen
Unterrichten unter Berücksichtigung der normalen kindlichen Entwicklung
Sensorische Probleme: vestibulär, auditiv, visuell
Bessere Lernbedingungen für Kinder mit neurologischer Entwicklungsverzögerung schaffen
Tabelle I: Entwicklung und Transformation des Reflexsystems
Tabelle II: Indikatoren für entwicklungsneurologische Verzögerungen
Tabelle III: Hilfsmaßnahmen bei fortbestehenden Reflexen
Kapitel 7: Die Entstehung einer Idee – Reflektieren über Reflexe
Geschichte
Klinische Forschung
Forschungsergebnisse über die Wirkung des Reflexausreifungs- und -hemmungsprogramms
Anhang
Fallstudien und ausgewählte Beiträge:
– Ergebnisse bei Jugendlichen und Erwachsenen
– Elektiver Mutismus: Die unfreiwillige Stummheit
– Meilensteine der Entwicklung: Handwerkszeug fürs Überleben
– Warum purzeln und rollen Kinder umher?
– Erfassen neurologischer Dysfunktionen bei Kindern mit schulischen Teilleistungsstörungen
– Bewegungsübungen zur Ausreifung und Hemmung primitiver Reflexe und ihre Auswirkungen auf spezifische Leseprobleme (Legasthenie) bei Kindern
Erläuterung der Fachbegriffe
Nützliche Adressen
Literaturverzeichnis
Über die Autorin
Dieses Buch ist meinem Vater gewidmet:
William D. Pritchard (1913–1995)
Ein guter Lehrer wird dich nicht auffordern,
das Haus seiner Weisheit zu betreten; er wird dich vielmehr
an die Schwelle deines eigenen Verstandes führen.
(Khalil Gibran, in: Der Prophet)
Danksagung
Mein Dank gilt …
… Peter Blythe, der diese Arbeit 1969 begann und 1975 das Institute for Neuro-Physiological Psychology (INPP; Institut für neurophysiologische Psychologie) gründete. Über 20 Jahre lang gab er Studenten, Fachleuten und Kollegen Anregung, Weiterbildung und Ermutigung – und er vermittelte Kindern und ihren Eltern Hoffnung. Die Techniken, die im INPP angewendet werden, haben sich mittlerweile über den ganzen Globus ausgebreitet und man redet über die Auswirkungen von Reflexen auf Lernen und Verhalten – manchmal ohne die Quelle zu kennen, woher dieses Wissen stammt. Viele andere haben daran weitergearbeitet, Techniken auf der Grundlage neuer Erkenntnisse und Forschungen zu entwickeln. Aber die führende Hand ist weiterhin die des Gründers und Leiters Peter Blythe.
… Catherina Johannesson-Alvegard, die diese Arbeit ursprünglich in Schweden entwickelte.
… Dr. Kjeld Johansen.
… Dr. Lawrence Beuret, Thake Hansen-Lauff, Björn Gustaffson, Håkan Carlson, Sheila Dobie, Mary O’Connor und Joan Young.
… Professor Birger Kaada, Universität Stavanger, der mit seiner Arbeit über den Furcht-Lähmungsreflex einen wesentlichen Aspekt beitrug, und Ernest Keeling, der das INPP als Erster auf den Furcht-Lähmungsreflex aufmerksam machte.
… den vielen, vielen anderen Menschen, deren stille Arbeit, deren Diskussionen und Ideen zur Entwicklung dieses Buches beigetragen haben.
… Svea Gold, deren unermüdliche Geduld bei der Suche nach Problemlösungen für Kinder, deren eigene Publikationen, deren Ermutigung und Unterstützung zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.
… meinen Kindern James, Thomas und Gabriella, die es mir ermöglicht haben, ein zweites Mal mit ihnen erwachsen zu werden.
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe
Es gibt einen berühmten Kupferstich von Hogarth: Das Ei des Kolumbus. Dort wird die Szene dargestellt, wie Kolumbus, gerade von der Entdeckung „Indiens“ zurückgekehrt, von seinen missgünstigen Freunden umringt ist. Die Geschichte geht so, dass sie sich über seine Leistung lustig machen und behaupten, dass seine Entdeckung ein Kinderspiel gewesen sei und sie es ohne weiteres auch hätten machen können.
Ganz ruhig (so erzählt man sich) nahm Kolumbus daraufhin ein Ei von einem Tablett auf dem Tisch und forderte seine Herausforderer auf, das Ei auf seine Spitze zu stellen. Sie versuchten es, einer nach dem anderen, aber jedes Mal rollte das Ei auf eine Seite. Schließlich nahm Kolumbus das Ei, stieß es mit einem kurzen, scharfen Knacks auf die Tischplatte – und das Ei „stand“! Seine Freunde lachten und sagten: „Verflixt!“ (oder wie auch immer sie sich zu der Zeit ausdrückten). „Das hätten wir auch geschafft!“ – „Ja,“ antwortete Kolumbus, „aber ich tat es!“
Ob diese Geschichte nun wahr ist oder nur apokryph, so hatte doch jede Wissenschaft immer wieder Männer, die das Ei des Kolumbus aufschlugen und so in ihrem Betätigungsfeld ein neues Zeitalter einleiteten. Da waren Galileo, Einstein, Pasteur, die Gebrüder Wright – eine unendliche Reihe.
1986 erhielt Rita Levi-Montalcini den Nobelpreis für ihre Arbeit über Nervenwachstumsfaktoren. Sie bewies, dass bestimmte chemische Stoffe, die gewöhnlich an der Verbindungsstelle zwischen Nerv und Muskel erzeugt werden, neue Verbindungen ermöglichen, die von der Nervenzelle ausgehen. Forschungsarbeiten an embryonalen Eiern gibt es schon seit den frühen 1920er Jahren! Dann kam Jean-Pierre Changeux und schuf sprichwörtlich das Ei des Kolumbus. Er hatte bemerkt, dass Hühnerembryos während ihrer Gestationszeit bestimmte Reflexbewegungen machen. Während sie sich noch im Ei befanden, nahm er eine sehr feine Nadel und lähmte ihre Muskeln mit Curare, so dass diese Reflexbewegungen nicht stattfinden konnten. Nachdem die Küken dann geschlüpft waren, untersuchte er ihre Gehirne, die tatsächlich Anomalitäten zeigten.
Ich schrieb ihm daraufhin und sagte, dass seine Arbeit für Kinder und kindliche Entwicklung von Bedeutung sei. Er antwortete, dass dies das Ziel hinter seiner Forschung sei, dass es jedoch bis dahin noch einer langen Zeit bedürfe.
Was Changeux nicht wusste war, dass sich gerade zu dieser Zeit Peter Blythe, zusammen mit David McGlown, mit Kindern beschäftigte, die Probleme in der Schule hatten – Kinder mit der Diagnose „minimale Hirnschädigung“. Dabei fand er heraus, dass sich bei diesen Kindern noch in großem Ausmaß Hinweise auf frühkindliche Reflexe fanden, die längst hätten gehemmt sein müssen. Andererseits schienen Haltungsreaktionen zu fehlen, die hätten da sein müssen. Das war ein neurologisches Profil, das sich deutlich von dem bei Kindern unterschied, die keine Probleme hatten. Nun gibt es bereits seit längerer Zeit entwicklungsbezogene Therapien – etwa seit den fünfziger Jahren, würde ich sagen. Auch die kindliche Entwicklung ist seit langem Gegenstand der Forschung, vor allem seit das Gesell-Institut begann, die zu erwartenden Meilensteine der kindlichen Entwicklung zu dokumentieren. Auf der Grundlage dieses Wissens wurde die Reflextherapie bei Kindern mit Zerebralparese und bei Schlaganfallpatienten angewandt. Doch blieb es Peter Blythe und Sally Goddard vorbehalten, diese Erkenntnisse zu nutzen, um den „rätselhaften“ Kindern zu helfen, die allem Anschein nach normal waren. Wir warfen ihnen inakzeptables Verhalten vor oder bezeichneten sie als dumm – weil wir sie nicht verstanden.
Am Institute for Neuro-Physiological Psychology zeigten sie, wie man die Kinder auf Reflexe hin überprüft, und kodierten die Bewertung, so dass es möglich wurde, ein genaues Bild davon zu bekommen, was das Verhalten des Kindes beeinträchtigte. Auf welche Weise genau wirkt sich jeder Reflex auf das Kind aus? Wenn ein Profil derjenigen Reflexe beim Kind entdeckt wurde, die sich nicht in der zu erwartenden Abfolge entwickelt hatten – wie konnte man diesem Kind helfen? Es handelte sich nicht um eine Forschungsmethode, die theoretisch oder im Labor durchgeführt wurde: Sie war auf eine solche Weise anwendungsbezogen, dass Eltern, Lehrer und Ärzte sie leicht nutzen konnten.
Inzwischen nutzen Optometristen dieses Wissen, um das Training der Augenmuskelmotorik zu beschleunigen. Von Schweden bis Australien – wo auch immer Sally Goddard erstes Buch Verbreitung fand – nutzen Lehrer diese Informationen, um ein neues Verständnis dafür zu entwickeln, warum das eine Kind Erfolg hat und das andere versagt. In den Vereinigten Staaten versorgen manche Lehrer diejenigen Kinder, die nicht still sitzen können, mit „Wackelkissen“, weil sie erkennen, dass diese vielleicht einen erhaltenen Spinalen Galant haben. Manche befestigen Gummibänder um die Stuhlbeine, um den Kindern dabei zu helfen, den Auswirkungen eines nicht gehemmten Symmetrisch Tonischen Nackenreflexes zu begegnen. Sie unterminieren nicht mehr Johnnys Selbstachtung, indem sie ihm vorhalten: „Du sollst nicht mit deiner Zunge schreiben!“ Sie wissen, dass er immer noch Anzeichen einer Babkin-Reaktion hat. Mit diesem neuen Ansatz herrscht mehr Ruhe und Frieden im Klassenzimmer und die Lehrer können tatsächlich unterrichten, anstatt mit Disziplinierungsmaßnahmen Zeit zu verschwenden. Nachdem die üblichen Methoden sich als Notbehelf erwiesen hatten, werden jetzt körperorientierte Programme eingeführt, die dem Kind dabei helfen, diejenigen Meilensteine zu erreichen, die es braucht, um Erfolg zu haben. Ich selbst habe die Techniken des Instituts in meiner Arbeit mit jugendlichen Straftätern angewandt – mit überaus großem Erfolg!
Jean-Pierre Changeux‘ Forschung an Eiern hat sich schneller als nützlich erwiesen, als er glaubte – sie untermauert den theoretischen Hintergrund von Peter Blythes Methode zur Reflexausreifung und -hemmung. Doch es war die Arbeit des Institute for Neuro-Physiological Psychology, die das Ei auf die Spitze stellte!
Svea Gold
(Januar 2002)
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Wer kennt es nicht: Der Wunsch und die Notwendigkeit, Kindern mit Schul- und/ oder Verhaltensproblemen zu helfen, führt häufig zu einer euphorischen Anfangsbegeisterung für neue Therapieansätze, die dann nur zu oft zu einer mehr oder weniger frustrierten Ernüchterung abflaut. Die Tatsache, dass eine ständig steigende Nachfrage bereits in kurzer Zeit zu neuen Auflagen des vorliegenden Buches geführt hat und dass auch ein wachsendes Interesse an einer Fortbildung in dem vom Institut für Neurophysiologische Psychologie (INPP) in Chester/England entwickelten Behandlungsansatz u. a. bei Pädagogen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten zu verzeichnen ist, zeigt jedoch, dass hier ein offensichtlich hoch bedeutsamer Puzzlestein vorgelegt wurde, der nicht nur von jedem nachvollziehbare Erklärungsmuster für Kinder bereitstellt, die trotz eindeutig vorhandener Intelligenz ihre Eltern und Lehrer damit überraschen, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen zu können, sondern auch viele Lerntherapeuten die unsichtbare Bremse verstehen lässt, die manche Kinder daran hindert, trotz intensiver Bemühungen die erwünschten Fortschritte zu machen.
Die Theorie der persistierenden frühkindlichen Reflexe mit ihren zum Teil tiefgreifenden Auswirkungen auf die weitere Entwicklung eines Kindes sowie der darauf aufbauende Behandlungsansatz, der in langjähriger Forschungsarbeit und klinischer Praxis von Peter Blythe und Sally Goddard (INPP) entwickelt wurde, hat inzwischen einer sorgfältigen Überprüfung nach standardisierten wissenschaftlichen Kriterien standgehalten. In der Februarausgabe 2000 der weltweit angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet (Nr. 355) erschien der Bericht über eine an der Queens University in Belfast durchgeführte kontrollierte Doppeltblindstudie, in der der wissenschaftliche Nachweis über die Wirksamkeit des vom INPP (Chester) entwickelten Bewegungsprogramms zur Ausreifung und Hemmung frühkindlicher Reflexe geführt wurde. Damit liegt ein Ergebnis vor, das die Akzeptanz des im vorliegenden Buch behandelten Ansatzes weiter voranbringt – wird doch objektiv die Erfahrung bestätigt, die inzwischen viele Therapeuten weltweit in ihrer klinischen Praxis gemacht haben: dass nämlich frühkindliche Reflexe, die über den normalen Zeitpunkt ihrer Hemmung hinaus ihre Wirkung beibehalten, nicht nur zu einer pathologisch verlaufenden Bewegungsentwicklung wie z.B. bei der Zerebralparese führen, sondern auch auf subpathologischer Ebene ein „normal“ erscheinendes Kind in den unterschiedlichsten Bereichen seiner Entwicklung – Bewegung, Wahrnehmung, Verhalten, Lernen – empfindlich beeinträchtigen können.
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Ergebnisse aus der Gehirnforschung überstürzen. Es ist zu hoffen, dass damit noch mehr Erkenntnisse und darauf aufbauende Behandlungsstrategien zur Verfügung stehen werden, die denjenigen Kindern helfen können, denen so schwer zu helfen ist. Doch bei allen Fortschritten in den wissenschaftlichen Methoden: Bewegung ist die Grundlage allen Wachstums und Lernens.
Thake Hansen-Lauff
(Leiterin der International School for Neurodevelopmental Training and Research in Deutschland, NDT/INPP; außerdem Übersetzerin und Bearbeiterin der Erweiterungen und Änderungen der vorliegenden Ausgabe)
Einleitung
Wenn ein Kind ein Problem hat, sind die Eltern gewöhnlich die Ersten, die das erkennen. Oft wissen sie nicht genau, was es ist; sie haben nur das Gefühl: „Irgendetwas stimmt bei meinem Kind nicht.“ Falls die Symptome nicht sehr gravierend sind, werden die Schwierigkeiten oft übersehen und den Eltern wird gesagt: „Es wächst sich zurecht!“ Und was fast noch schlimmer ist: Häufig werden sie dann als überängstliche oder gar neurotische Eltern verunglimpft.
Zwar wachsen in der Tat viele Kinder aus ihren frühen Problemen heraus; auch gibt es viele individuelle Unterschiede und Variationen innerhalb der anerkannten Entwicklungsstufen. Doch gibt es eine Gruppe von Kindern, die allem äußeren Anschein nach „normal“, in bestimmten Aspekten ihrer Entwicklung aber unreif sind. Wenn ihre „unreifen“ Muster bestehen bleiben, laufen diese Kinder Gefahr in unterschiedlichen Lebensphasen eine Reihe von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zu entwickeln.
Forschungen im Bereich der Neuroplastizität haben gezeigt, dass das „Verdrahten“ des Zentralen Nervensystems veränderbar ist, besonders in den Phasen, in denen es sich am stärksten entwickelt oder ausreift. Dieses „Umdrahten“ hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Fähigkeiten eines Kindes, mit seiner sozialen wie auch physischen Umwelt erfolgreich zu interagieren. Nach Galaburda (2001) können Probleme im Gehirn auf zwei Ebenen entstehen: bei Verarbeitungsprozessen höherer und niedrigerer Ordnung. Es ist zwar eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass im Verlauf des Reifungsprozesses höhere Zentren im Gehirn zunehmende Kontrolle über untere Zentren übernehmen, doch wenn untere Ebenen weiterhin einen dominierenden Einfluss auf bestimmte Funktionen ausüben, so wird dies Auswirkungen auf die Funktionstüchtigkeit eines Kindes, auf seine Lernfähigkeit und sein Verhalten haben.
Schulunterricht und viele Förderansätze zielen zumeist darauf ab, höhere Zentren im Gehirn zu erreichen. Eine Vorgehensweise, die sich an der neurologischen Entwicklung eines Kindes orientiert, identifiziert zunächst die unterste Ebene der Dysfunktion und richtet die therapeutische Intervention dann auf diesen Bereich. Sobald die Probleme in diesem Bereich behoben sind, versucht man durch den Einsatz spezieller Stimulationstechniken Verbindungen zwischen niedrigen und höheren Zentren aufzubauen.
Alles Lernen findet im Gehirn statt; über den Körper werden Informationen aufgenommen und er ist auch das Vehikel, über das das Wissen sich wieder ausdrückt. So betrachtet ist Bewegung der Herzschlag des Lernens. Lernen, Sprechen und Verhalten sind auf bestimmte Weise mit Funktionen des Bewegungssystems und der Bewegungskontrolle verbunden. Bevor unsere Kinder sprechen lernen, können wir sie über ihre Körpergestik, über Haltungsänderungen, Bewegungsrhythmus, Klang, Lautstärke und Höhe ihrer Stimme verstehen.
Die Fähigkeit des Sprechens hängt vom motorischen System ab, das die notwendigen Bewegungskombinationen ermöglicht, die für die Koordination von Kehlkopf, Rachen, Zunge und Muskeln im vorderen Mundbereich erforderlich sind. Lesen wiederum hängt vor allem von okulo-motorischen Fähigkeiten wie präzisen Augenbewegungen ab, und Schreiben schließlich erfordert gute Auge-Hand-Koordination mit der Unterstützung des Haltungssystems. Erfolgreiches schulisches Lernen hängt weitestgehend davon ab, dass sich Basisfähigkeiten auf der physischen Ebene automatisieren. Wenn ein Kind keine automatische Kontrolle über sein Gleichgewicht und seine motorischen Fähigkeiten erlangt, kann dies trotz durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz des Kindes ungünstige Auswirkungen auf viele andere Lernaspekte haben.
Körperkontrolle ist eine der Voraussetzungen für Selbstkontrolle. Eine Unreife in den Funktionen des Zentralen Nervensystems ist oft von Zeichen emotionaler Unreife begleitet, wie zum Beispiel schlechte Impulskontrolle, Schwierigkeit die Körpersprache anderer zu lesen und unbefriedigende Beziehungen zu Gleichaltrigen. Ein Vater beschrieb sein Kind so: „… äußerlich zehn Jahre und innerlich drei Jahre alt.“ Kein noch so großer Aufwand an Verhaltensmodifikation konnte eine Veränderung im emotionalen Verhalten seines Sohnes bewirken, bis das zugrunde liegende Problem einer entwicklungsneurologischen Verzögerung angegangen worden war.